16.06.2018, 08:06
Die Wunden schmerzten noch immer. Hätten die Leute im Hafen unter sein Hemd sehen können, sie hätten die Striemen – so dick wie eine Kinderhand – sehen können, die sich seinen Rücken hinabzogen. Doch für Farley war der Schmerz nichts Neues – und so ignorierte er ihn geflissentlich, während er sich zwischen Kisten und Fässern, geschäftig umherlaufenden Matrosen und Händler durchschlängelte. Er mochte es, dieses Treiben am Morgen, wenn der Hafen am belebtesten war und man förmlich schmecken konnte, wie sich ein Hauch von Abenteuer auf Raízun breitmachte. Ein Hauch, der leider das Zimmermannsviertel nie erreichte und so schnell wieder verschwunden war, wie die Bäume auf der Insel gefällt wurden. Leider. Der Junge bedauerte das sehr und wünschte sich manchmal, er könnte dieses Gefühl, das er verspürte, wenn ihm die Seeluft durch die halblangen braunen Haare wehte, konservieren. Festhalten und mitnehmen. Es würde die Welt ein wenig leichter erträglich machen. Nun, so weit die Welt eben erträglich sein konnte. Mit einer flinken Bewegung wich der 13-Jährige zwei Seeleuten aus, die gemeinsam eine Kiste über das Holz des Piers trugen. Er grinste ihnen zu, als sie ihn grimmig anguckten und war schon im nächsten Moment wieder verschwunden. Denn Farley hatte es nicht nur eilig gehabt, von der Arbeit am Holz wegzukommen. Er suchte an diesem Morgen auch noch einen anderen Ort auf. Dass er sich davongeschlichen hatte – mal wieder – würde ihm am Abend einiges an Ärger einbringen. Aber das war ihm egal. Ärger würde er sich ohnehin einhandeln, egal,was er tat – denn sein Vater war von niemandem zufriedenzustellen.
Umso erleichterter war das Gefühl, aus der bedrückenden Enge der Holzwerkstatt hinauszukommen. Dorthin, wo es nicht nach Sägemehl und Staub roch, sondern nach Abenteuern. Vielen Abenteuern. Verbotenen Abenteuern. Während er weiter auf einen bestimmten Punkt zuhielt. Diesen Punkt am Pier. Und er hoffte, dass er dort jemanden vorfinden würde. Während er lief, zog Farley einen Apfel aus der Tasche, die er in sein ehemals weißes Leinenhemd eingenäht hatte. Das Oberteil war mittlerweile so alt und abgetragen, dass es eher gräulich wirkte. Aber das war in Ordnung, der Junge machte sich wenig aus schicken Kleidern. Er würde wohl auch nie welche tragen. Im Gegensatz zu dem Jungen, den er nun in einiger Entfernung auf einer Mauer sitzend erblickte. Farleys Miene erhellte sich ein wenig und die Füße, an denen er weder Schuhe noch Socken trug, trugen ihn ein wenig schneller in Richtung des anderen, der just in diesem Moment von seinem Sitzplatz heruntersprang. Farley beschleunigte seinen Schritt noch einmal, kam ins rennen – denn er wollte auf keinen Fall, dass Aspen allein davonmarschierte. Und so stoppte der Braunhaarige auch nicht, als er schon fast bei seinem Freund angekommen war, sondern hielt weiter auf ihn zu, lief an ihm vorbei und rempelte ihn dabei leicht an, bevor er schließlich kurz hinter dem anderen Jungen stoppte, sich umdrehte und breit grinste.
„Du wolltest doch wohl nicht ohne mich losziehen, hm?“
sagte er, hob den Apfel an den Mund und biss herzhaft hinein. Beim Kauen grinste er noch immer ein wenig – nicht nur, weil er sich freute den anderen zu sehen. Nein, Farley freute sich auch diebisch über sein Geschick. Denn der Apfel war natürlich nicht bezahlt, er hatte ihn vorhin in einem unbeobachteten Augenblick aus einer der Kisten am Hafen eingesteckt. Und er hatte noch einen zweiten dabei.
„Auch einen?“
fragte er daher und zog aus seiner linken Hosentasche noch eine Frucht – die gelb und rot in der Morgensonne glänzte - und hielt sie Aspen am ausgestreckten Arm hin.