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what i'm able to withstand
Rúnar Rúnarsson ist 22 Jahre alt und wurde unter den Sternen der ersten Welt auf der Insel Andalónia geboren. Dieser mutige Pirat reist als Seemann durch die Meere der Inselwelten und plünderte mit der Crew bereits auf 55 Streifzügen in 15 Tavernen.
Habseligkeiten
Harpune • kleine Stofftasche: Briefpapier, ein wenig Kleingeld, Kamm, Rasiermesser • Halstuch, Hemd, Weste, Mantel, Kniehosen, Lederstiefel • vergoldeter Ehering, vergoldeter Siegelring
Körperliche Verfassung
etwas angeschlagen
At the bottom of the glass
Drei der Lebewesen in Rúnars Umgebung hatten bemerkt, dass etwas mit ihm nicht stimmte.
Nummer eins war sein Sonnensittich Harald Schönhaar. Dass dieser es bemerkt hatte, wusste Rúnar, weil der Sittich um einiges kuscheliger und anhänglicher war -- er setzte sich öfter auf seine Schulter oder schlief mit in seiner Hängematte, anstatt dass er die Umgebung erkundete oder sich einen Schlafplatz suchte, der als kleine Höhle fungierte und sicher nicht so unbequem war, wie zwischen einem Kieferknochen und einem Schlüsselbein eingequetscht zu sein.
Nummer zwei war Jón gewesen. Wie auch nicht. Er kannte ihn seit seiner Geburt -- wenn Rúnars Mimik und Gestik nur ein klein wenig anders war als sonst, dann erkannte Jón das sofort. Außerdem hatte Jón ein Talent dafür, auch Leuten die er nicht kannte, anzusehen, wie sie sich fühlten. Er hatte dann bei Jón unkontrolliert seine wirren Gedanken und Gefühle ausgekotzt und jetzt konnte er sie zumindest besser in Worte fassen.
Nummer drei war Tarón gewesen, der ihn beiseite genommen hatte und ihn dazu überredet hatte, mal etwas rauszukommen. Obwohl es nicht viel Überredungskunst gebraucht hatte -- dafür war Rúnar in den letzten Tagen zu apathisch gewesen.
Sicher hätten andere es auch bemerkt. Dann war es ihnen entweder egal (was Rúnar auch nicht störte -- er war nicht der Typ Mensch, der von sich aus mit seinen Problemen zu anderen kam), oder Tarón war ihnen einfach zuvorgekommen. Das störte ihn auch nicht. Im Gegenteil. Trotzdem zog er unwillkürlich die Schultern hoch, als das Lachen, die lauten Unterhaltungen und die Musik schon durch die Fenster der Taverne drangen auf die sie gerade zugingen.
Wie so meist hatte Taróns Instinkt ihn nicht betrogen – denn Rúnar war seiner spontanen Einladung fast schon so überraschend bereitwillig gefolgt, dass dies als Bestätigung für den Falken ausreichte. Irgendwas lag dem Drachenzähmer auf dem Herzen. Irgendetwas, das er in sich hineinfraß. Und Tarón würde herausfinden was es war.
Zum einen war das wohl nun sein Job – Quartiermeister! Ha! Wer hätte das gedacht?
Zum anderen interessierte es ihn tatsächlich. Zum einen, da er immer gerne wusste was um ihn herum geschah, wie die Leute tickten, mit denen er segelte und jedes Puzzelstück wie einen Preis annahm, das half sein Bild von einer Person zu vervollständigen. Zum anderen war Rúnar ihm sympathisch. Und er vermutete hinter der Fassade des blassen Burschen mehr, als Rúnar allgemein durchblicken ließ.
Nun – vielleicht würde er bald herausfinden was an seiner Vermutung dran war.
Ein Party-Tier war er wohl nicht. Tarón registrierte die Reaktion auf den heiteren Lärm, dem sie sich näherten.
‚Aber nun ist es zu spät, Rúnar. Kein Schneckenhaus – heute haben wir beide Spaß!‘
Das oder er würde zumindest erfahren wo ihn der Seeigel gestochen hatte. Mit einem Grinsen ließ er dem anderen die Hand auf die Schulter fallen.
„Dann wollen wir mal sehen, was die Leute auf Ritu so zu bieten haben!“
und schließlich schob er Rúnar auffordernd durch die Tür der Taverne, die sie mit einem Schwall rauchiger Luft und bellenden Gelächters begrüßte. Ein kurzer Blick durch den großzügigen Raum verriet, dass es hier auch nicht viel anders aussah wie in allen Tavernen der Welt. Allerdings hatte Tarón durchaus schon üblere Etablissements gesehen. Die Stimmung schien gut, die Leute noch nicht so betrunken, dass sie fürchten mussten in irgendeine Kneipenschlägerei zu geraten (zumindest nicht gleich). Und in einer Ecke des Raumes, entfernt von den Musikern, fand sich sogar noch ein Tisch, an dem sie in relativer Ungestörtheit reden konnten, ohne sich anschreien zu müssen. Auf diesen Tisch ließ Tarón nun die zwei Bierkrüge sinken, die er ihnen organisiert hatte und schob einen davon in Richtung des Blondhaarigen und sich selbst auf den durchgesessenen Holzstuhl Rúnar gegenüber. Nach einem tiefen Schluck aus dem Humpen und einem genüsslichen Durchatmen wanderten die blauen Falkenaugen forschend über seinen Gegenüber.
„Der erste Schluck ist der beste! Meinst du nicht?“
Die Antwort darauf würde jedoch eine nebensächliche Floskel sein – im Gegensatz zu der auf die nächste Frage.
„Also Rùni – was ist los?“
Kam er direkt und ohne Umschweife zum Punkt und Kern dieser ganzen Veranstaltung.
"Kein Schneckenhaus", murmelte er. Mehr um sich selbst einzureden, dass er sich nicht so anstellen sollte. Auch, wenn er sich jetzt schon überfordert fühlte. Aber das gehörte eigentlich in dieselbe Kategorie wie keine Angst zu haben. Er war ja nicht generell unsozial – nur ... nur was? Was war er eigentlich? Was war mit ihm los?
Er zuckte kurz zusammen, als Tarón seine Hand auf Rúnars Schulter fallen ließ, aber im nächsten Moment schob er ihn schon durch die Tür zur Taverne. Für einen Moment fühlte sich Rúnar wie in einer anderen Welt. Seit Wochen hatte er nicht mehr so viele Leute und so viel Unbeschwertheit auf einem Haufen gesehen. Er konnte nicht sagen, ob ihn die Stimmung ansteckte oder seine eigene noch mehr drückte. Vielleicht beides gleichzeitig? Ging das überhaupt?
Rúnar war froh, dass Tarón ihnen einen Tisch gesucht hatte, der etwas mehr am Rande des Trubels stattfand. Es war ruhiger, aber man konnte trotzdem das Treiben beobachten. So wie Rúnar es am liebsten hatte, wenn irgendwo viele Menschen waren.
Tarón setzte einen Bierkrug vor ihm ab. Rúnar war kaum nach Alkohol, aber ein Bier würde er heute Abend nicht verschmähen. Würde bestimmt auch die Spannung in seinem Kopf und Körper lösen. (Zur Gewohnheit machen sollte er das aber besser nicht.)
Zu ersten Schlucken hatte er keine Meinung, aber sogar er hatte genug gesunden Menschenverstand um zu bemerken, dass es eine Floskel war, also nickte und lächelte er ganz einfach. Und dann kam die Frage, auf die er gewartet hatte. Was mit ihm los war. Er sah Tarón an, aber konnte seinem Blick nicht länger als nur für einen Moment standhalten -- sah stattdessen in sein Bier, spielte an dem Henkel des Krugs herum.
"Ich ...", brachte er hervor. "Ich weiß es nicht." Er zuckte mit den Schultern. "Alles?" Wo sollte er anfangen? Eigentlich hatte er mit Jón schon darüber gesprochen, eigentlich wusste er, was los war, eigentlich wusste er auch wo er anfangen konnte. Aber er brauchte noch einen Moment, um sich zu sortieren und nutze als Übergang: "Ich kann ins Detail gehen, aber erstens weiß ich nicht, ob du dir mein Geheule wirklich anhören willst und zweitens, du hast vergessen anzustoßen." Jetzt sah er Tarón an, lächelte schalkhaft, nahm seinen Krug und hob ihn dem anderen Mann entgegen.
Die Analyse – immer im Hintergrund laufend und so viel wie möglich um ihn herum beobachtend – zeigte weiterhin Wolkenstimmung bei seinem blonden Freund. Aber Rúnar drückte sich nicht, wenn ihm offenbar auch nicht ganz wohl in seiner Haut war. Das verriet spätestens das nervöse Spielen seiner Hände mit dem Bierkrug und sein abgewandter Blick. Tarón wartete geduldig auf seine Worte und nach einer Weile kamen sie…und Rúnar überraschte ihn erneut. Nicht sein „alles“ – so undefiniert und finster das auch klang. Manchmal kam einem die Welt eben so vor… es waren die letzten Worte, die ihn tatsächlich etwas überrumpelten.
Einen Moment sah er Rúnar nur an, ließ seine Überraschung langsam aus seinen Augen schmelzen und in ein anerkennendes breites Grinsen übergehen. Mit einem Achselzucken hob auch er den Krug und deutete eine Verbeugung an. „Verzeiht einem alten Piraten, mein Herr – ich fürchte meine Manieren sind vor Jahren irgendwo zwischen Chikarn und Lilanja über Board gegangen. Cheers! Auf dein Geheule – denn ja: ich will es hören.“
stieß er mit ihm an.
Rúnars Lächeln ging von einem schalkhaften zu einem reinen, ehrlichen Grinsen über, gleich dem von Tarón. "Cheers", sagte er und nahm einen großen Zug. Das Bier war extrem herb -- im Gegensatz zu dem wässrigen Zeug, das sie in Andalónia hatten. (Dafür verstand sich Rúnars Heimat allerdings bestens darauf, Wein und Spirituosen herzustellen.) "Dir sei verziehen", fügte er hinzu, noch immer grinsend. "Gib mir noch ein paar Jahre, dann habe ich meine auch verloren." Er räusperte sich und es blieb nur noch eine ausdruckslose Spur eines Lächelns übrig. "Da wären wir eigentlich auch schon beim Thema." Es war ihm wieder (oder immer noch) unangenehm, Tarón direkt anzusehen, also nahm er nochmal einen Schluck von seinem Bier und starrte wieder hinein, als er es wieder vor sich abstellte. "Es fängt eigentlich damit an, dass ich das Gefühl bekomme, dass ich mein Leben, so wie es gerade ist, nicht bewältigen kann. Oder -- was heißt anfangen. Das ist eigentlich der Kern der Sache. Ich war ein halbes Jahr lang komplett allein, bevor ich auf die Sphinx-Crew gestoßen bin. Und ich wollte eigentlich nach Hause -- mein normales Leben wieder haben. Soweit es ging. Ist etwas kompliziert." Er winkte mit einer Geste ab, aber sprach trotzdem weiter. "Mein Leben war eh nicht mehr normal. Ich bin auf der Suche nach meinem Vater gewesen, bin aber immer wieder zurück nach Hause gesegelt, also hatte alles sein ... sein Muster. Irgendwie. Und dann habe ich Schiffsbruch erlitten und bin auf Niobe gestrandet. Und dann war ich eben ab da dieses halbe Jahr lang allein unterwegs. Und dann bin ich eben auf die Crew gestoßen. Wollte nur eine Mitfahrgelegenheit und dann ... hab ich mich aus irgendeinem Grund zu Hause gefühlt? Nachdem ich so lang allein war, verstehst du?" Jetzt sah er Tarón für einen Moment an. "Und dann hab ich irgendwie vergessen, dass ich eigentlich wieder zurück nach Andalónia, nach Neistavík wollte. Und während ich mich aber schon so zu Hause fühle und--" Er kam sich seltsam vor, es auszusprechen, aber er war zu sehr im Fluss um es groß in Frage zu stellen. "--an euch allen hänge, wächst mir alles über den Kopf? Und mit 'alles' meine ich, was ständig alles passiert. Was diese Art von Leben mit sich führt." Eine kurze Pause. "Ich glaube, ich habe mir bisher noch nie wirklich eingestanden, dass ich mich für dieses Leben entschieden habe und eigentlich kein anderes mehr möchte. Und jetzt aber langsam bemerke, dass ich nicht dafür geschaffen bin." Ein Funken Wut sprang in Rúnars Brust auf und man konnte es in seiner Tonlage hören. "Und ich hasse es, weil es genau das ist, was man von mir erwartet. Der zarte, blasse Aristokrat, dessen schwacher Geist das Leben als Pirat nicht verkraftet." Er griff so energetisch nach seinem Krug, dass fast etwas ausschwappte, nahm einen Schluck und setzte den Krug genau so energetisch wieder ab.
„Daran habe ich keinen Zweifel – dafür werden wir schon sorgen.“ Quittierte er Rúnars eigene scherzhafte Bemerkung über das über Board gehen seiner Manieren augenzwinkernd und gefolgt von einem weiteren Schluck des Bieres, das kühl und verdammt wohltuend seine Kehle hinabrann, als Rúnar nun zur Beantwortung seiner eigentlichen Frage überwechselte. Erneut hörte der Falke zu, während Rúnar die Augen nicht auf ihn halten konnte. In seinem Hinterkopf klickten die Puzzelteile leise an ihre Plätze.
Tarón hielt Rúnars Blick ruhig stand, als dieser ihn dann doch wieder ansah und er blieb auch dann noch ruhig und entfernte sich nicht von den hellen Augen seines Gegenübers, als die Wut über ihn selbst in Rúnars Bewegungen rutschte. „Hm…“ der Laut glich einem ruhigen nachdenklichen Brummen, das er mit einem weiteren Schluck Bier zum Abbruch brachte, während er seine Worte sortierte. Dann stellte auch er den Krug wieder ab – allerdings nicht mit der Inbrunst seines jüngeren Gegenübers.
Die Fragen zu Details seiner Historie schob Tarón vorerst in die Ecke und fügte sie als schwarze Teile in das Gesamtbild ein. Später – es würde sich Gelegenheit ergeben Rúnar danach zu fragen. Vorerst zum Wesentlichen: „Und was genau bringt dich zu der Annahme, dass du hierfür nicht geschaffen bist? Das scheint der Knackpunkt zu sein – denn ich glaube was du willst steht weniger in Frage. Du hast es selbst gesagt: du hast dich bereits entschieden – es war dir nur nicht klar.“
Er legte den Kopf ein wenig schief, lächelte sein typisches Lächeln, in dem sowohl Wissen als auch eine jungenhafte Schläue und gutmütiger Schalk mitschwang.
„Also war es doch das Erste: Der Drachenzähmer erkennt seinen Wert wahrlich schwer und vertraut sich selbst nicht. Was bereitet dir daran solche Bauchschmerzen, dass du es als so gravierend siehst dich selbst darüber zu zerfleischen? Oder gibt es doch noch etwas anderes? Etwas, das dich zurück nach Andalónia zieht und Schuld an dir nagen lässt?“ Nicht abgeschlossene Dinge. Menschen, die an Stränden auf eine Rückkehr warten, die nicht erfolgte. Damit zumindest kannte Tarón sich aus.
Sein Kopf legte sich auf die andere Seite und er stützte die Wange mit der linken Hand ab während er ihn einen Moment lang betrachtete.
„Hmmm…“
Die Augen zusammenkneifend schob er sich plötzlich über den Tisch auf Rúnar zu. Musterte ihn durch die schmalen Schlitze, zu denen er die Augen verengt hatte, auch noch, als sein Gesicht knapp vor dem des anderen zum Halten kam. Plötzlich war Taróns Hand an Rúnars Wange und der Blick des Falken wechselte von dem rauen Handrücken zu dem glatten Gesicht des Burschen und wieder zurück.
Mit einem kurzen Zucken des Mundes und einem weiteren leisen „Hm“ ließ er sich wieder auf seinen Stuhl zurückfallen und verschränkte die Arme vor der Brust – alles, ohne den Blick von Rúnar abzuwenden.
„Also ich mag mich irren...aber ich glaube du bist schon etwas brauner im Gesicht geworden. Nurnoch der zarte Aristokrat, fürchte ich. Wir haben dich bereits verdorben.“
Diesmal zuckten Brauen und Mund amüsiert, als er wieder nach dem Krug griff, trank und seine Augen Rúnar dabei entgegenblitzen.
Oh – er nahm ihn schon ernst. Tatsächlich glaubte er sogar ihn zu verstehen. Doch Tarón war der Meinung, dass man sich seinen Humor stets bewahren sollte – ohne den seinen wäre er wahrscheinlich schon längst selbst am Grund des Meeresbodens geendet. Dort oder am Grund der Flasche.
Zugleich war er jedoch auch über zehn Jahre älter als der andere – und auch wenn er sich immer etwas Junges behalten hatte, grub die Zeit nicht nur im Gesicht, sondern auch in der Erfahrung eines Mannes.
Und vielleicht war da auch noch ein anderer Punkt. Vielleicht wollte sich Tarón nicht mit der Möglichkeit anfreunden, dass Rúnar beschließen könnte dieses neue Leben – für das er sich nach eigener Aussage entscheiden wollte – mir nichts dir nichts aufgeben könnte. Aus Angst – vor sich selbst und der Unfähigkeit, die er im Bezug auf sich selbst immer zu fürchten schien. Tarón zumindest war sich recht sicher, dass Rúnar es bereuen würde dem Ruf der Freiheit zu entsagen und in sein früheres Leben zurückzukehren, das ihn zu der perfiden Überzeugung gebracht hatte Erwartungen anderer hinterherjagen zu müssen und sich zeitgleich doch nie würdig fühlen zu dürfen. „Weißt du…mit dem Meer und der Piraterie ist es wie mit der Liebe. Manchmal sucht man es sich nicht aus. Die Wahl ist getroffen, ehe man weiß, dass es eine Wahl gibt, hm? Glaubt man mitunter dem nicht gewachsen zu sein? Wenn man nicht grade James ist: wahrscheinlich, ja. Oh und das bezieht sich auf Frauen…von Schiffen und dem Meer hat James keinen feuchten Schimmer. Vielleicht war das ein schlechtes Beispiel…Wie auch immer: trotzdem zieht das Herz einen hinaus. Und es lohnt sich seinem Herzen zu folgen…“
Tut es das, Tarón?
Seines hatte ihn dazu gebracht Isala zurückzulassen und ihn dafür an andere Strände gespült.
Die Erinnerung nagte an seinem Hinterkopf wie eine Ratte und flutete ihn mit Bildern von Blut und Sand.
Für einen Moment glaubte er ihre Hand auf seiner Wange zu spüren – zart und zitternd, wie ein Schmetterlingsflügel, ehe sie leblos fiel. Beiläufig strich er sich durch das Gesicht und wischte Aylahs Berührung fort.
„Trotz der zugegeben chaotischen Lebensplanung und der ständigen Gefahr gehörig den Arsch aufgerissen zu bekommen: Wir sind frei.“
Dem letzten Satz wohnte eine Inbrunst inne, die man so selten bei ihm erlebte. Das war es, worauf alles hinauslief. Zumindest für ihn. Wie viele Menschen konnten das schon ernsthaft von sich behaupten? Dann schmunzelte er wieder.
„Und tja, was soll ich sagen: Ich fühl mich mit dem Sauhaufen auch ganz wohl.“
Mehr Bier, bevor er noch gefühlsduseliger wurde…er genehmigte sich noch einen Schluck und stellte fest, dass sich der Humpen bereits seinem Ende zuneigte.
„Aber schmackhaft reden muss ich dir die Sache eigentlich nicht. Du sagst du hast dich dafür entschieden? Gut. Dann erklär mir nach meiner kleinen theatralischen Ausschweifung, warum du nicht dafür gemacht bist.“
Rúnar wusste gar nicht, warum es ihm so schwerfiel, seine Gefühle zu offenbaren -- vielleicht, weil Tarón wie jemand wirkte, der seine eigenen immer komplett unter Kontrolle hatte und ein, wenn auch minimaler, Gefühlsausbruch wie dieser, befremdlich oder pathetisch auf ihn wirkte. Aber wahrscheinlich eher nicht -- sonst hätte er Rúnar ja nun nicht anhören wollen. Dieser Gedanke machte es Rúnar leichter, Tarón wieder direkt anzusehen.
Tausende Gedanken, die hauptsächlich damit zu tun haben, was Rúnar selbst für ein Versager war, gingen durch seinen Kopf, als Tarón erst nur einen nachdenklichen Laut von sich gab, dann etwas von seinem Bier trank und dann erstmal nichts sagte. Rúnar nahm die Musik und die Gespräche der anderen Gäste für einen Moment deutlich wahr -- aber dann begann Tarón wieder zu sprechen.
Rúnar nickte -- Tarón hatte genau verstanden, was er hatte sagen wollen. Wie machte er das, dass er auf Anhieb genau die richtigen Worte fand? Er hatte aus Rúnars (relativ) wirrem Gerede deutlicher herausfiltern können, was Rúnar gemeint hatte, als Rúnar selbst, der es nun schon zum zweiten Mal binnen kürzester Zeit jemandem erzählt hatte.
Rúnar zog einen Mundwinkel nach oben. Ein kläglicher Versuch Taróns Lächeln zu erwidern. Dann gab Tarón wieder diesen nachdenklichen Laut von sich -- Rúnar atmete gerade ein, um ihm zu antworten, da beugte sich Tarón über den Tisch -- Rúnar zuckte reflexartig zurück -- dennoch war Taróns Gesicht so nah vor seinem eigenen, dass er glaubte, den Atem des anderen auf seiner Haut zu spüren. Er hatte seine Hand auf Rúnars Wange gelegt und bevor dieser sich ordentlich fragen konnte, was das sollte, hatte Tarón die Hand wieder zurückgezogen und sich wieder zurück auf seinen Platz gesetzt. Die darauffolgende Aussage des anderen Mannes erklärte dann die Geste. Rúnars eigene Hand ging zu der Stelle an seiner Wange an der Taróns gewesen war. Er wusste nichts gutes oder wortgewandtes darauf zu sagen -- außerdem war er im Moment vermutlich eher errötet als gebräunt -- und ein seltsames, untypisches Lachen entfuhr ihm. "E-heh."
Was war denn das, bitte? Er war doch sonst nicht so verlegen. So scharfsinnig, dass er förmlich noch die Berührung von Taróns Hand auf seinem Gesicht spürte. Außer wenn ...
Nein. Nein, nein, nein. Der war viel zu alt. Außerdem kannte Rúnar ihn gar nicht richtig. Aber -- Tarón war zuvorkommend, er war lustig, er verurteilte Rúnar nicht für seine Art oder Persönlichkeit, hatte keine Erwartungen an ihn -- und er schien Rúnar wirklich zu mögen. Aber doch nicht so. Vielleicht war er nur angetrunken? Aber doch nicht mit seiner Statur, doch nicht von einem Krug Bier. Und jetzt warf er ihm einen Blick zu. Aber das musste nichts heißen -- aber vielleicht doch -- aber nein -- aber ja -- aber nein -- aber -- aber --
Rúnar schob die Gedanken beiseite, zog die Augenbrauen zusammen und lachte noch einmal normal auf, wie: Hah, ich weiß selbst nicht, was das gerade eben war. Dabei fiel es ihm schwer, seine miteinander ringenden Gedanken wirklich ganz auszublenden. Wieso hatte ihn sein Kopf ausgerechnet jetzt mit der Nase in diese Spekulationen stoßen müssen? Oh, du willst etwas von deiner Gedankenbrühe abgeben, damit es dir etwas besser geht? Hier hast du einen neue, wir wollen ja nicht, dass du auf dem Trockenen sitzt -- oder, Rúnar? Oder? Oder? Oder?!
Und jetzt begann Tarón auch noch etwas von Liebe zu reden. Man sucht sich nichts aus, die Wahl ist eh schon getroffen -- verdammt, las Tarón etwa gerade seine Gedanken? (Und das war der Punkt, oder nicht? Er schien einfach zu merken, was in Rúnars Kopf vor sich ging -- und das war eigentlich etwas Gutes. Nur, hoffte Rúnar, würde er es jetzt gerade nicht allzu deutlich bemerken.) Immerhin hatte Rúnar es, wie er bemerkte, die ganze Zeit über geschafft denselben Gesichtsausdruck zu bewahren: ein neutrales, fast nichtssagendes Lächeln. Dieses veränderte sich nun allerdings, erst zu einem Lächeln mit zusammengekniffenen Lippen, dann zu dem Lächeln, das er davor schon die ganze Zeit gehabt hatte -- das er hatte, wenn er sich gut fühlte.
"Dass es mich aus einem bestimmten Grund zurückzieht, das ist es nicht", begann er. "Ich bin ja erstmal weggegangen, weil es mich weggezogen hat. Weil ich nach meinem Vater suche -- ich bin nicht sicher, wem ich das schon gesagt habe und wem nicht, also entschuldige, falls ..." Er substituierte die Worte, indem er kurz die Handfläche nach oben öffnete -- dann wanderten seine Finger wieder zurück an den Henkel des Krugs. "Und dann sollte ich mich eigentlich fragen, warum ich das mache, denn wenn ich ihn finde, dann wird genau passieren, dass wir nach Hause gehen und ich wieder unglücklich werde, weil Dinge von mir erwartet werden, die ich nicht erfüllen will oder kann." Eigentlich musste er sich nicht fragen, warum er das machte: Er hatte seinen Vater das letzte Mal im Streit gesehen und damit konnte er nicht leben. Und es war ohnehin höchst unwahrscheinlich, dass er ihn so schnell wiederfand. Wobei das Finden nicht das größte Problem war. Sich Svavar zu stellen, das war das viel größere. "Andererseits: Es ist dumm zu denken, dass wir da weiter machen würden, wo wir aufgehört hatten. Und ja -- also nein, ich will nicht in mein altes Leben zurück. Ich will bei euch bleiben, ich will auf der Sphinx bleiben."
So. Da war es. Er hatte es direkt ausgesprochen. Diesen Teil der Gedankenbrühe hatte er jetzt wenigstens ausgelöffelt, nachdem er bislang unterschwellig in seinem Kopf herumgeschwappt war. Er nahm einen Schluck von seinem Bier, das im Gegensatz zu Taróns bislang nur halb ausgetrunken war. Der Schaum war schon lange verschwunden und der Inhalt des Krugs stand darin wie seine Gedankenbrühe in seinem Kopf: dunkel, leicht benebelnd, bitter aber gleichzeitig auch ein wenig süßlich. Er stütze seinen Kopf in seine eine Hand, spielte mit der anderen noch immer am Krughenkel. "Das Schlimme an alldem ist, glaube ich, dass ich -- ja, schon dass ich davor schon kein Vertrauen in mich selbst hatte. Aber alles seitdem, hat es eigentlich nur schlimmer gemacht -- glaube ich. Und ich meine nicht, dass ich meiner Erziehung und meinem Aussehen nach nicht reinpasse." Er legte selbst nochmal kurz seine Hand an seine Wange, um es zu verdeutlichen. "Ich meine, dass die ganze Scheiße, die wir immer wieder durchmachen, dass ich das auf die Dauer nicht verkrafte. Es zehrt an meiner Kraft und meinen Nerven, jedes Mal, wenn etwas passiert -- Kopfgeldjäger, Epogryphen, selbst der verdammte Nebel wollte uns wohl umbringen. Und dann zwinge ich mich, mich meiner Angst zu stellen, in der Hoffnung, dass es irgendwann besser wird -- aber das wird es nicht." Und er griff sich an die Brust, sah Tarón an. "Ich will frei sein. Aber irgendwas in mir wehrt sich dagegen." Seine Hand war noch immer an seiner Brust, aber dann ließ er sie sinken und sagte, leiser: "Entschuldige. Vermutlich sollte ich meine Karriere vom Piratenschiff aufs Theater verlegen."
Tarón Valur ist 35 Jahre alt und wurde unter den Sternen der ersten Welt auf der Insel Chikarn geboren. Dieser mutige Pirat reist als Quartiermeister durch die Meere der Inselwelten und plünderte mit der Crew bereits auf 51 Streifzügen in 16 Tavernen.
Habseligkeiten
Säbel, zwei Pistolen, Pulverhorn, Dolch, Schwarze Haarsträhne, Geldbeutel, Echse „Calwah“
Körperliche Verfassung
Risse und Schürfwunden an den Händen
Verkatert
Rúnar nickte ihm zu. Also hatte der Falke den Nagel wohl auf den Kopf getroffen und sich keineswegs geirrt was in dem Kopf des Jüngeren vor sich ging. Das Lächeln allerdings misslang diesem und wirkte eher wie eine schiefe Grimasse. Immerhin versuchte es Rúnar, aber im Grunde tat er Tarón leid, weil dieser ahnte, wie es sich anfühlte sich so…unfähig zu fühlen.
Ihm selbst war es so gegangen – ging es mitunter noch so. Seit der Aurora. Seit er so dermaßen versagt hatte, dass es seine Freunde das Leben gekostet hatte. Doch damit musste er leben. Und im Endeffekt musste er daran wachsen – oder darüber zugrunde gehen.
Rúnars Reaktion auf seinen kleinen Scherz brachte die Gedanken des Falken jedoch erneut auf andere Abwege. Wurde Rúnar…rot? Nun gut, vielleicht war ihm tatsächlich ein wenig zu nahe getreten…aber offenbar hatte das geholfen seine Zunge zu lösen, also war die Überrumpelungstaktik wohl aufgegangen – wenn auch verzögert, denn einem Moment schien irgendetwas...Anderes in Rúnis Augen kreisende Gedanken zu verraten. Hm…nein. Tarón hatte ihn sicher nur aus dem Konzept gebracht und er musste nun darüber nachdenken, wie er den Witz aufnahm. Und endlich taute Rúnars abwesendes Pseudo-Lächeln zu einem echten auf, als der Bursche aus seinem Gedankenmeer aufzutauchen schien wie ein nach Luft schnappender Wal.
Anstelle von Gischt spuckte dieser Wal jedoch Worte aus. Und Tarón hörte erneut zu.
„Dein Vater also. Nein ich glaube mir direkt hast du noch nicht davon erzählt.“
Daran würde er sich erinnern…ziemlich sicher. Aber da war sie doch – auch wenn Rúnar das offenbar selbst nicht sah: die lauernde Schuld. Die offene Rechnung. Die Ankerkette an seinem Bein…
„Du solltest dich tatsächlich fragen warum du es machst. Oder eher gemacht hast. Für mich klingt es danach, dass es genau das ist, was dich zurückzieht: Schuld. Du glaubst ihm das zu schulden. Ihm oder irgendwem der auf ihn wartet. Vielleicht auch dir selbst…“
Mit einem letzten Schluck leerte sich der Bierkrug. Taróns Brauen schoben sich kurz etwas unglücklich zusammen.
„Aber die Situation an sich hast du denke ich richtig analysiert. Ich kenne deinen Vater nicht, noch weiß ich, wie ihr zueinander standet…aber manchmal sollte man loslassen, ehe einen der Anker mit an den Grund zieht. Und lass mich dir eine kleine Weisheit mitgeben: wir schulden in diesem Leben niemandem irgendetwas. Schuld ist eine Wahl. Die kann man treffen – die Frage ist ob man das will und bereit ist die Konsequenzen zu tragen. In den meisten Fällen ist auch sie nur eine Form narzisstischer Selbstbestrafung.“
Und damit kannte er sich aus. Er selbst fühlte genug Schuld auf sich lasten – und auch in diesem Fall konnte er sich entscheiden ob er sie weiterhin tragen wollte oder nicht. Und wenn er es tat: wem diente es denn sonst, wenn nicht ihm selbst? Ihm, der sich in ihren Schatten stellen und sich darüber selbst bemitleiden konnte? Schuld war nur für eines gut: aus den Fehlern die zu ihr geführt hatten zu lernen. Schuld brachte keine Toten zurück. Und sie machte auch die Vergangenheit nicht ungeschehen… Vielleicht sollte er das für sich selbst auch noch einmal verinnerlichen.
„Du willst bleiben? Dann bleibst du.“
Er sah ihn einen Moment an, dann zuckte sein Mund leicht.
„Würde mich zumindest freuen.“
Und damit kamen sie zum zweiten Akt – der schiffbrüchige Prinz im Piratenland.
Oho – na da steckte doch einiges mehr an Feuer in dem Burschen, als er ansonsten zeigte.
Die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, den Kopf auf die Hände schob Tarón sich erneut ein wenig näher zu Rúnar – allerdings bei weitem nicht so weit wie zuvor. Zuvor wollte er ihn irritieren – diesmal war es eine vertrauliche Geste, bei der er Rúnar tief in die Augen sah.
„Noch ein Geheimnis: Alle haben Angst.“
Nachdenklich verdrehten sich kurz seine Augen, ehe sie zurück zu Rúnar fanden.
„Zumindest gehe ich davon aus und zumindest trifft das auf jeden zu, der nicht ein vollkommender Narr ist. Hast du vor unberechtigten Dingen Angst? Hm? Nein. Jede genannte Sache war eine tatsächliche Bedrohung vor der dein Instinkt dich zu retten versucht. Männer ohne Angst sind Idioten – und nur allzu bald tote Idioten. Anstatt sie zu bekämpfen solltest du dich also vielleicht mit ihr anfreunden. Und damit mit dir selbst. Schonmal daran gedacht, dass du vielleicht gut bist, wie du bist?“
Seine Hand kam nach vorne und mit den Zeigefinger gab er Rúnars Stirn einen leichten Stups.
Damit zog er sich wieder zurück und stand auf.
„Und fürs Theater ist dein Kostüm zu schlecht. Da müssten wir dir erst Augenklappe und Holzbein besorgen.“
Witzelte er und hob dabei seine Brauen.
„Ich hol uns noch was zu trinken!“
Und mit diesen Worten ließ er ihn einen Moment alleine, ehe er mit zwei neuen Krügen – ungeachtet dessen, dass Rúnar noch an seinem ersten nuckelte - zurückkam und sich wieder setzte.
Rúnar hörte Tarón weiter zu. Nickte immer wieder um zu bedeuten, dass er aufmerksam war. Sah ihmmer wieder zwischen seinem Krug und dem anderen Mann hin und her. Aber sein Blick verweilte nie lange auf Tarón.
Er konnte allerdings nicht umhin Tarón direkt anzusehen, als der sagte, er würde sich freuen, wenn Rúnar blieb. Rúnar spiegelte den Ausdruck des anderen, zog leicht seinen Mundwinkel nach oben. Und ihm wurde in dem Augenblick mit warmem Herzen klar, dass die Crew der Sphinx wirklich zu seiner Familie geworden war. Er konnte sich sein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Er konnte sich sein Leben so oder so nicht mehr anders vorstellen. Es war dumm von ihm gewesen, auch nur ansatzweise daran gedacht zu haben, dass alles jemals so werden würde wie zuvor.
Rúnar hatte wieder in seinen Krug geschaut, als er hörte, wie Tarón sich bewegte. Als er dann hinsah, war der andere näher zu ihm gerückt. Rúnar stockte der Atem. Für einen Moment war sein Blick fest mit dem von Tarón verwachsen. Ihm fiel auf, dass selbst in Taróns Augen die See war. Ein Seemann durch und durch -- doch die Farbe glich weniger der tatsächlichen See. Die tatsächliche See war grau im Unwetter, grün im Hafen, tiefblau auf dem offenen, ruhigen Meer. Taróns Augen aber, waren wie die See in einem Gemälde: stürmisch, mit hohem Wellengang, Schiffe in sich hineinziehend -- aber von einem klaren, dunklen Blau, wie nur das ruhige Wasser und der klare Himmel es kannten.
Atmen, Rúnar.
Weiter zuhören. Taróns schöne Augen ignorieren.
Das gelang ihm -- dann stupste Tarón ihn gegen die Stirn. Rúnar gab etwas nach, lächelte amüsiert. (Und ignorierte gekonnt, dass er auch diesmal die Berührung des anderen überdeutlich wahrnahm. Unerhört. Aber er war ohnehin in einem seltsamen Zustand: leicht betrunken und äußerst verwirrt. Er müsste nur eine Nacht drüber schlafen, dann war das auch kein Thema mehr.)
Rúnar schnaubte kurz ein Lachen aus, als Tarón dann aufstand, um ihnen noch mehr zu trinken zu holen. Er mit Augenklappe und Holzbein -- das Lächeln verging ihm, als er sich vorstellte, dass das wohl tatsächlich passieren könnte. Obwohl ... es hätte auch beim Walfang passieren können; bei einsamen Ausritten auf frisch gebrochenen Hengsten; auch, als er schon auf See unterwegs war um nach seinem Vater zu suchen; auch in den Monaten, in denen er in der ersten Welt umhergesegelt war und einen Weg zurück nach Andalónia gesucht hatte. Ein Weg der jetzt irgendwo unterwegs zwischen ein paar Inseln und Piraten im Sande verlaufen war.
Götterverdammt, er war schon sein Leben lang Gefahren ausgesetzt gewesen, warum machte es ihm ausgerechnet jetzt etwas aus?
Vielleicht ... weil es ihn nun zum ersten Mal wirklich getroffen hatte. Sichtbare Spuren hinterlassen hatte. Er fuhr sich in den rechten Ärmel und seine Fingerspitzen glitten über das Ende er erhabene Linie die sich seinen ganzen Unterarm entlangzog. Eine tägliche Erinnerung daran, dass der Kopfgeldjäger ihn nur ein paar Zentimeter weiter rechts hätte erwischen müssen und Rúnar wäre wahrscheinlich verblutet.
Ein Bierkrug wurde vor ihm abgestellt. Er sah auf und zog seine Finger wieder unter dem Ärmel hervor. "Danke", sagte er und sein Blick folgte Tarón, als dieser sich wieder hinsetzte. Rúnar löste seinen Blick, nahm seinen angefangenen Krug und trank ihn in ein paar wenigen Zügen aus. Als er absetzte, verzog er kurz das Gesicht. Das Bier war nur noch lauwarm gewesen und immer noch um einiges bitterer, als das, was er gewöhnt war. Aber ihm war heute einfach danach, seinen Kopf zu benebeln, egal mit was. (Auch, wenn er eigentlich von jeglichem Nebel genug haben sollte.) Einfach nicht nachdenken müssen. (Auch, wenn es ihm viel Nachdenken abverlangte, Tarón wenigstens ein klein wenig kohärent von seiner Gedankenbrühe zu erzählen.)
Rúnar nickte. Mehr zu sich selbst. "Ich glaube, dass ich mir und meiner Familie und meinem Vater etwas schuldig bin. Oder ich fühle es. Daran glauben tue ich auch nicht wirklich. Ich werde nur das Gefühl nicht los." An diesem Punkt fragte Rúnar sich langsam, ob er einfach ein offenes Buch sondergleichen war, oder ob Tarón einfach unglaublich gut darin war, die Fäden zu verknüpfen, die lose in Rúnars Kopf herumflogen und lose wie sie in seinem Kopf waren auch aus seinem Mund kamen. (Auch, wenn er schon versucht hatte sie mit Jón zu sortieren.) Er nahm einen Schluck von seinem frischen, kühlen Bier. "Ich ... weiß wieder nicht, wo ich anfangen soll. Es ist ein kompliziertes Gefühl, das damit anfängt, dass ich meinen Vater liebe. Also einmal ganz von vorne: Ich war der Erbe meiner Familie." Er verschränkte die Arme, nahm einen tiefen Atemzug. "Darüber hab ich noch nie wirklich mit jemandem gesprochen, also darfst du dich geehrt fühlen." Er hob seine Hand mit dem Siegelring und dem Ehering. "Ich bin verheiratet. Meine Frau und ich, wir sind die besten Freunde -- aber wir haben keine romantische Gefühle füreinander. Warum haben wir geheiratet, höre ich dich fragen?" Sein Wortlaut wurde nun etwas zynisch. "Wir sind verlobt, seit wir zehn sind. In dem Alter stellt man sowas nicht in Frage -- die Familie weiß, was für einen gut ist, besonders wenn es eine Aristokratenfamilie ist. Wir sind verheiratet, seit ich zwanzig bin. Haben die Heirat so lang rausgezogen wie es ging, bevor es auffällig geworden wäre. Ich wollte mit meinem Bruder und meinem Schwager Pferde züchten, aber stattdessen sitze ich in einem Walfangboot seit ich fünf bin, weil es für mich vorbestimmt war, dass ich das Unternehmen irgendwann führe. Ich habe das nicht in Frage gestellt, weil es einfach schon immer so war. Ein Jahr verheiratet, Ásta und ich -- aber noch keine Kinder. Warum nicht? Weil wir die Ehe nie vollzogen haben. Mein Vater drängt mich die ganze Zeit damit, der Arzt sagt mit uns sei gesundheitlich alles in Ordnung -- ja, also warum gibt es denn nun noch keine Kinder, hm? Ich -- jemand, der Dinge so annimmt wie sie sind -- bereite mich also drauf vor, dass Ásta und ich Kinder bekommen werden. Ich hätte es gemacht -- die meisten Sachen sind einfacher, wenn man sie hinnimmt, oder nicht? Dann hab ich ein bisschen später in unserem Archiv nach Stammbüchern und Ahnentafeln geschaut. Hätte ja bald relevant für mich werden können. Nicht nur zur Namensinspiration oder derartigem, ich musste ja irgendwann mein eigenes Kind da eintragen lassen. Hab sie nach ewiger Suche zusammen mit Jón gefunden, weil sie irgendwie in der hinterletzten Kammer waren. Inklusive meiner eigenen Geburtsurkunde. Kam mir da schon seltsam vor. Was finde ich heraus? Ich bin nicht der Sohn meines Vaters. Ich bin also auch nicht der Erbe dieser Familie. Und meine ganze Familie wusste das. Ich bin mein ganzes Leben lang Dingen nachgegangen, von denen ich dachte, dass sie meine Pflicht sind. Waren sie aber nicht. Mein Onkel wollte schon immer das Unternehmen meines Vaters haben. Soll er es doch haben. Und ich habe endlich eine Erklärung dafür, warum es ihm immer so arg gewesen war, dass ich es bekommen würde. Und dann habe ich tagelang nicht mit meinem Vater geredet, weil er sich geweigert hat, das mit mir auszudiskutieren. Und dann waren wir zusammen auf Walfang, weil man ja wegen eines blöden Streits nicht direkt seine Arbeit vernachlässigt -- ein Unwetter ist aufgezogen und er ist verschwunden während ich wie ein Feigling unter Deck saß und gewartet habe, bis der Sturm sich legt."
Rúnar atmete tief ein -- wieder aus. Ließ seine Fingernägel gegen den Krug klinkern. "Warum suche ich also nach meinem Vater? Schuld. Ja, schon. Aber vielleicht weiß ich auch einfach nicht, was ich sonst machen soll. Wenn ich ein Ziel habe, dann habe ich weniger das Gefühl, dass ich mich verlaufen habe, weißt du." Einatmen. Ausatmen. "Oder vielleicht fühle ich, dass ich meinem Vater etwas schuldig bin, weil ich eigentlich hoffe, dass ich ihn gar nicht mehr finde? Ich konnte ihm nicht mal zur Seite stehen als wir in ein Unwetter geraten sind -- wie soll ich mich denn Svavar stellen, wenn ich ihn finde? Wie soll ich mich mit meiner Angst anfreunden? Wie freundet man sich mit seinem Feind an?"
Nochmal einatmen -- ausatmen.
Jetzt sah er Tarón wieder an. Lehnte sich auf den Tisch. Sah ihm direkt in seine Seeaugen. Was Rúnar nämlich vermutete, würde leider seine ganzen, nun ordentlich geflochtenen, Gedankenfäden wieder hinfällig machen. "Und schuldet man wirklich niemandem etwas, Tarón? Oder wünscht du dir das nur?" Rúnar war nicht der scharfsinnigste Mensch, aber das hatte er bemerkt. Die Art und Weise, wie Tarón über Schuld sprach.
Rúnars Blick fiel nach unten. Er hob kurz die Hände. "Entschuldige", sagte er, ohne Zynismus, ohne Scherz. "Das war taktlos von mir. Du hast wohl mit diesem Thema ein bodenloses Fass aufgemacht und es kam irgendwie mehr raus, als ich beabsichtigt hatte." Und dass er die ganze Zeit Alkohol hineinkippte, half auch nicht.
Irrte er sich oder wirkte Rúnar etwas…atemlos? Aber wenn er an den sich leerenden Stand des Kruges und die Statur der „blassen Noblesse“ dachte war das vielleicht kein Wunder. Rúnar schien nach allem was er bisher beobachtet hatte eher wenig trinkfest zu sein – zumindest verglichen mit den anderen Kalibern an Board.
Das machte sich dann auch in dem Redeschwall bemerkbar, der plötzlich und untypisch aus ihm hervorbrach, nachdem Tarón für Nachschub gesorgt hatte. Aber trotz eines Verziehens der feinen Gesichtszüge leerte er zuvor noch den ersten Krug Bier. Dass man dieses besser trank bevor es schal wurde, musste er wohl noch lernen. Tarón schmunzelte und ließ sich in den Schauer von Rúnars Worten baden.
Die Informationen flogen ihm diesmal nur so zu und Taróns Gehirn schnappte sie gierig auf wie eine alte Strandmöwe.
Also hatte er sich nicht geirrt. Pflicht und Schuld – auch bei Rúnar das alte Spiel.
Und ja, Tarón verstand. Rationalität und das Wissen, dass Schuld nichts als selbstauferlegte Pein war, half nur allzu oft nicht sie dennoch zu fühlen. Noch einmal dachte der Falke daran, dass er wohl besser daran tun würde sich einmal selbst an seine götterverdammten schlauen Ratschläge zu halten und die Last auf den eigenen Schultern abzuschütteln, ehe sie ihn erdrückte. Aber das versuchte er nun schon seit einer gefühlten Ewigkeit…
Ja, er verstand.
Der Falke trank mit nachdenklicher konzentrierter Miene an seinem Bier, während er Rúnars Lebensgeschichte folgte, die sich in allem von seiner eigenen Historie zu unterscheiden schien.
Angefangen damit so etwas wie Vaterliebe auch nur zu kennen. Doch Tarón hatte andere Menschen geliebt – hatte Maira auf eine Art geliebt und seine eigene Mutter davor, auch wenn er sich an sie kaum erinnern konnte und ihm nur Fragmente von Eindrücken von ihr geblieben waren.
Taróns Mundwinkel zuckten nach oben, als Rúnar ihm sagte er dürfe sich geehrt fühlen – und auf eine Weise tat er das. Vertrauen war ein seltenes zerbrechliches Gut und ein Geschenk, dass Tarón zu schätzen wusste. Vor allem, weil er trotz aller scheinbaren Offenheit mit dem Seinen zu geizen pflegte. Zumindest was Vergangenes anging. Viel zu reden, Offenheit zu mimen war das beste Versteck für die Dinge, die man lieber unerwähnt ließ. Sein kurzes angedeutetes Nicken bestärkte das. Aber er sagte nichts, um Rúnar nicht in seinem Redefluss zu unterbrechen. Seine Augen wanderten nur ruhig zu den beiden Ringen, die Rúni präsentierte, ehe sie zurück zu seinem Gesicht glitten.
‚Warum haben wir geheiratet?‘ – nein, er fragte sich das nicht. Das Warum war für ihn bereits klar gewesen, als Rúnar davon sprach mit der Last eines Erbes bedacht worden zu sein. Auch wenn er natürlich derlei nie selbst erlebt hatte – selbst ein Niemand, Bastard eines namenlosen Erzeugers - wusste er, wie solche Dinge liefen. Und wie viel Leid oftmals mit ihnen verbunden war. Er kam nicht umhin an Aylah zu denken, die auf ganz ähnliche Weise hatte verschachert werden sollen. Allerdings nicht an einen Freund…
Das erneute Zucken seines Mundes war diesmal freudloser, auch wenn er seine Züge weiter ganz gut im Griff hatte.
°Nun Rúnar…Zehnjährige, die es sich leisten konnten, stellten so etwas nicht in Frage…°
‚Die Familie weiß, was für einen gut ist…‘
Wie sehr sich ihre Leben unterschieden.
Doch noch immer schwieg er und fuhr ihm nicht dazwischen, auch wenn die Gedanken ihn kurzfristig zurück zu seinem eigenen zehnjährigen Ich ziehen wollten. Für einen Moment konnte er rottendes Holz und Rum riechen und flüchtete sich in seinen Bierkrug, ehe die Schatten nach ihm greifen konnten.
Was Tarón weniger nachvollziehen konnte war, wie es gewesen sein musste eine vorgeschriebene Rolle ausfüllen zu müssen. Für ihn hatte es nie ein Schicksal, eine Bestimmung gegeben. Aber er kannte seinen eigenen Freiheitsdrang und nutzte diesen, um zu verstehen, wie es Rúnar im Walfangboot gegangen sein musste.
In kurzer Zeit ergaben sich drei sehr zentrale Teile im Puzzel: Rúnar hatte tatsächlich massive Erfahrung im Walfang – etwas, das man ihm auf den ersten Blick nicht zutraute; Er interessierte sich eher für Pferde – was ihn durchaus sympathisch machte. Tarón mochte Tiere, auch wenn sich seine Erfahrungen mit Pferden auf die Tiere seiner früheren Nachbarn konzentrierten und den heimlichen Proberitten die er auf den ungesattelten Tieren unternommen hatte…wenn er sie nicht aus dem Gatter ließ, um Chaos zu stiften. Das letzte war, dass er sich offenbar massiv dagegen gewehrt hatte seiner Frau ein Kind zu verpassen. Ok, sie waren „nur“ Freunde gewesen – Tarón hatte das kapiert. Aber in seinem Universum war das kein Grund nicht miteinander intim zu werden, wenn man denn nun schon einmal von „höheren Mächten“ in ein Ehebett gebracht wurde. War Àsta derart unattraktiv gewesen oder fand sie ihrerseits Rúnar so abstoßend, dass sie ihn nicht wollte?
Sein Blick glitt an Rúnars noblen Zügen entlang. Unwahrscheinlich…
Und wieder regte sich etwas Dunkles in ihm und er dachte an Isa und ihre Gründe. Erneut ertränkte er den aufkeimenden Gedanken im Alkohol.
n.
Nein, der Kern schien bei Rúnar zu liegen – Rúnar der sich „vorbereitete“ und „die Dinge nehmen musste, wie sie waren“. Als hätte er in die Schlacht ziehen müssen. Als wäre es schwerer zu akzeptieren gewesen mit dieser Frau zu schlafen, als sein Leben auf dem verdammten Walkahn fern von seinen Pferden zu fristen.
Oho und nun kam die dramatische Wendung in der Ballade! Taróns Brauen zuckten überrascht und Kunde davon tragend, dass er trotz Schweigens Rúnars Geschichte aufmerksam folgte.
„Hm…“
Wie Rúnar über diese Entdeckung dachte überraschte ihn – denn aus seinem vielleicht naiven Verständnis dieser Sachen änderte sich damit rein garnichts. Sein Vater hatte ihn zum Erben erklärt – und wenn er sich dieser Sache verpflichtet gefühlt hatte, als er noch dachte aus dessen Samen entsprungen zu sein, warum dann nicht mehr, als klar wurde, dass er adoptiert war?
°Wie schnell wir uns doch von Vorstellungen fesseln lassen – den eigenen, wie denen anderer.°
Und am Ende war es Alles nichts als Selbstbeschiss. Die Wahl – wenn es irgendeine Wahl gab -hatte es immer gegeben. Nicht erst seitdem er das Geheimnis entdeckt hatte.
Mitgefühl zeigte sich auf seinem Gesicht, als Rúnar zu seinen Beweggründen kam, zum Kern des aktuellen Gefühls.
Svavar? Wer war das? Der Name seines Vaters? Nein… Eine Lücke in dem gut gepflegten und nun um einige Teile reicheren Bildes.
Er kaute noch an diesen Gedanken, sortierte seine, um ihm zu antworten, als Rúnar weitersprach. Und diesmal trafen ihn die Worte wie ein Schlag in die Magengrube.
Gut darin seine Gefühle an und für sich hinter einer ruhigen Fassade zu halten oder nicht: diesmal sah man es dem Falken an.
Eine finstere Dunkelheit schlich in seinen Blick die fast schon Wut glich und einen kleinen Hinweis auf seine andere Seite preisgab. Die Seite die kaltblütig und grausam sein konnte. Skrupellos und tödlich. Die Seite, die Menschen vor Jahren schreiend hatte fliehen lassen, als die Hangman am Horizont erschien und die selbst seine Kameraden auf dem eigenen Schiff davon abgehalten hatte ihn zu sehr zu provozieren.
Doch er war keine zwanzig mehr. Nicht mehr so aufbrausend wie damals, nicht mehr so stolz und nicht mehr so stur darin niemanden auch nur einen Blick hinter die Fassade zu gestatten.
Selbst wenn man sie eintrat und er sich ertappt und auf eine seltsame Art fast nackt fühlte und er das Gewicht seiner eigenen Schuld wie einen Felsen auf sich niedergehen fühlte. Für einen Moment war er sicher, dass dies der Punkt war, an dem sie ihn doch zerquetschen würde.
Der Schmerz peitschte wie ein weiterer Schlag in seinen linken Arm, die Narbe entlang, - fast so, als wollten die Toten der Aurora ihm einen zusätzlichen Tritt verpassen. Ihn daran erinnern wer sie auf den Grund des Meeres gebracht hatte. Schuld! Ja…Schuld…
Die Zähne zusammenbeißend, um den unseligen Nervenschmerz in seiner gezeichneten Gliedmaße zumindest nicht zu offensichtlich werden zu lassen – auch wenn sie zitterte, Göttin, verdammtes Scheißteil. Er kam nicht umhin den Krug abzustellen und die rechte Hand auf die Stelle zu drücken, um zumindest das zu unterbinden – sah er Rúnar kalt in die Augen.
Der entschuldigte sich, bereits deutlich angetrunken und Tarón atmete tief durch. Langsam klang auch der Schmerz ab und er konnte den Arm wieder loslassen, auch wenn der Anfall nicht ganz vorüber war. Für einen Moment sagte Tarón nichts, nahm sich die Zeit Schmerz und Jähzorn gleichermaßen abebben zu lassen, ehe er die Augen kurz schloss und diesmal selbst den Blick abwandte. Als er jedoch sprach richtet er ihn wieder auf Rúnar. Seine Stimme war deutlich angespannter, defensiver und distanzierter als zuvor. Offenbar gab es Dinge, über die selbst er noch immer nicht so einfach hinweggehen konnte…und dieser Zufallstreffer war wohl eines davon.
„Ich wünsche es mir. Ja. Macht es das weniger wahr?“
Schnappte er fast wie ein bissiger Köter.
Nein…aber warum sonst gab er sich dann überhaupt mit dieser verfluchten Echse ab? Was, wenn nicht Schuld war es, die ihn Calwah nicht am nächstbesten Strand zurücklassen ließ, der ihn sogar dazu verleitet hatte, die Aurora in ihren Untergang zu führen und damit noch mehr Schuld, Schuld, Schuld auf sich zu laden, nur um dieses Drecksvieh zu retten?
Seine Stirn legte sich in Falten, als sein Blick nach unten abdriftete, er die Linke Hand, des noch immer schmerzenden Armes ballte und seine Kiefer einmal knirschend übereinander mahlten.
Er schüttelte leicht den Kopf, hob den Blick wieder und entspannte auch seine Hand.
„Treffer, Rúnar. Glückwunsch.“
Doch seine Stimme klang nun eher müde, denn zornig. Loslassen fing hier an, nicht wahr? Offenbar hatte er mit diesen Dingen nicht im Ansatz so gut abgeschlossen, wie er sich selbst vormachen wollte.
Er trank einen Schluck, beäugte Rúnar dabei mit einer leicht seitlichen Haltung und wog ab.
Mit dem Abstellen des Kruges wandte er sich ihm wieder ganz zu.
„Entschuldige dich nicht für Dinge, die du genau so gemeint hast. Und ja…du hast Recht: ich wünsche es mir. Und ich glaube daran. Weil Glaube auch nichts anderes ist, als sich an etwas zu halten, um nicht in den Abgrund daneben zu stürzen. Meine Wahl. Meine Form „es hinzunehmen, wie es ist“. Weil ich es nicht mehr ändern kann.“
Nun schlich sich doch wieder ein Grollen in seine Stimme. Ein leises Donnern wie das Dröhnen eines entfernten Sturmes. Der Schmerz kam wieder, aber ob er aus seinem Arm oder etwas viel tiefer drin Liegendem kam war schwer auszumachen.
„Weil sie tot sind. Und nichts – absolut garnichts wird daran etwas ändern! Und das Rúnar – gilt wahrscheinlich auch für deinen Vater, der nicht dein Vater ist! Wir haben versagt, als sie uns brauchten – so einfach ist das.“
Grausamkeit…oh ja. Sie konnte in mehr bestehen als in körperlicher Gewalt. War das Rache? Kindische Rache, weil Rúnar ihn tiefer verletzt hatte, als er hatte ahnen können? Weil dieses Fass im Grunde sein Fass war und er gradewegs durch den Boden gebrochen war? Er der sich in charmantes Lächeln und gute Ratschläge hüllte und am Ende doch besser auf dem Grund des Meeres verrotten sollte – zusammen mit denen, welchen er dieses Schicksal beschert hatte.
Darauf lief es hinaus, oder? Ein Teil von ihm versuchte noch immer dem Sog des sinkenden Schiffes zu entkommen, ein Teil von ihm war noch immer an diesem verdammten Strand mit dem roten Sand und den spöttisch leuchtenden Sternen…und ein Teil von ihm stand auf der Hangman und sah Isala langsam am Horizont verschwinden, sah Maira, als diese Farans Leiche fand…Und ein Teil von ihm wünschte sich nichts mehr, als selbst mit zerschossenem Gesicht in eben jener Hütte zu liegen, dem Pandämonium seiner Kindheitshölle; am Strand auf Lilanja zu verbluten oder mit der Aurora und ihren Geistern am Boden des Meeres zu liegen. Weil es das war, was er verdiente.
Er kniff die Augen zusammen, schüttelte kurz den Kopf, trank einen tiefen Schluck.
Narzissmus. Was für eine Scheiße… und er blieb dabei: es war Narzissmus, wenn er sich selbst als so wichtig erachtete, dass das alles nur an ihm gelegen hätte. Und es war so bequem sich in den Schatten der Schuld zu flüchten in die dunkle Umarmung und sich einfach selbst zu gleichen Teilen zu hassen… und zu bemitleiden.
°Schüttel es ab…du verdammter alter Narr!°
Seine Stimme war leise, auch wenn er zuvor ebenso nicht laut geworden war.
„Nun war ich taktlos. Wir sind also quitt.“
Er entschuldigte sich nicht, auch wenn er es gerne getan hätte. Er wusste, dass es unfair von ihm gewesen war, dass Rúnar unmöglich hatte ahnen können, was er damit anstieß – dafür hatte er immerhin selbst gesorgt. Und es tat ihm leid.
Aber wenn Rúnar auch selbsterklärt wenig auf seinen Stolz gab war das bei Tarón etwas Anderes. Und so konnte er nicht mehr anbieten als einen Pat – und hoffen, dass Rúnar diesen akzeptieren und es ihm nicht zu sehr nachtragen würde. Wenn es so war, wäre das wohl etwas, das er sich auf seine „Schuld-Liste“ schreiben konnte…dann hatte er es wohl verkackt.
Schweigen, dann ein schwaches Lächeln. Und ein wesentlich versöhnlicherer Tonfall.
„Meinen wunden Punkt hast du damit wohl ausgelotet. Vielleicht darfst du dich nun geehrt fühlen.“
Ein Fetzten Sarkasmus. Erneut ein Kopfschütteln.
„Eigentlich sollte es um dich gehen…ich…wollte nicht so hochfahren. Und hätte es nicht sollen…“
Na? War das etwa doch so etwas wie eine Entschuldigung? Er sah Rúnar an, fast eine Bitte in den Augen ihm diesen Moment des Kontrollverlustes nachzusehen.
Rúnar war sich nicht sicher. Taróns Haltung änderte sich irgendwie und er konnte zunächst nicht sagen, wie und woran es lag. Oder ob er sich nur irrte. Doch dann begann Taróns Arm zu zittern -- irgendwie unkontrolliert. Rúnars Blick huschte zwischen Taróns Arm und dessen Gesicht hin und her. Er hatte offensichtlich Schmerzen, das konnte sogar Rúnar sehen. Und er wusste nicht was er tun sollte -- ob er überhaupt etwas tun sollte. Wahrscheinlich nicht. Jemand wie Tarón wirkte nicht, als ob er Hilfe bräuchte. Das bestätigte sich, als Tarón scheinbar gezielt seinen Krug abstellte und seinen Arm festhielt.
Rúnar sah bewusst weg. Offensichtlich war Tarón dabei, etwas unter Kontrolle zu bringen, das er nicht kontrollieren konnte.
Rúnar zuckte kaum merklich zusammen als Tarón ihn anging. Aber dann schweifte sein Blick zurück zu dem anderen Mann, er sah ihn von unten herab an, atmete tief ein. Etwas in seiner Brust hatte zu brodeln begonnen, er war drauf und dran zurückzuschnappen -- und das lag nicht an seinem Alkoholpegel.
Ordnung. Chaos. Ordnung.
Aber es war wohl nur ein kurzer Ausbruch gewesen -- bloß, dass Tarón noch immer angespannt wirkte. In jeder anderen Situation hätte Rúnar die Chance vielleicht genutzt um die Situation zu eskalieren. Und es dann wieder gut sein zu lassen. Ordnung. Chaos. Ordnung. Dass er es doch nicht tat, lag einerseits nun wirklich an seinem Alkoholpegel. Andererseits daran, wie Tarón sprach. Treffer. Glückwunsch. Das hier war kein Stierkampf und Rúnar kein Matador. Er war nicht darauf aus gewesen, Tarón zu verletzen, also musste Tarón sich nicht geschlagen geben.
Aber das tat Tarón anscheinend auch nicht. Und da war es: Die Teile die Rúnar Tarón hingeschmissen hatte, die der andere geholfen hatte zusammenzuschieben, wurden zu einem Mosaikl. Das Gefühl, dass Rúnar seinem Vater verpflichtet war, dass er ihn suchen musste; das Gefühl, dass er Svavar finden musste -- es war eigentlich, wie er gedacht hatte: Er hoffte nicht mehr, seinen Vater zu finden, weil er es ihm schuldig war. Er hoffte Svavar zu finden, weil er es sich selbst schuldig war. Er wollte aus den Dingen ausbrechen, die ihm seit seiner Geburt an auferlegt geworden waren, die ihn immer die für ihn gepflasterte Straße entlang geschickt hatten. Mit Scheuklappen und vor einen Wagen gespannt, auf den all seine Pflichten aufgeladen waren. Die Scheuklappen war er losgeworden, als er sich dazu entschieden hatte, seinen Vater suchen zu gehen -- und die Welt hier draußen war verdammt furchteinflößend.
Er mochte gut so sein, wie er war, aber er war nicht er. Er musste erstmal wissen wer er war, um gut so zu sein, wie er war.
Und am Ende konnte er vor seinem Vater stehen und ihm zeigen, dass er nicht nur ein gebrochenes, stumpfsinniges Zugpferd war, dass den Weg entlang ging, auf den es gelenkt wurde.
Taróns Worte lenkten Rúnar von seinen Gedanken ab. Rúnars Blick muss noch ernster geworden sein. Seine Entschlossenheit intensiver -- er hatte immer noch dieses Gefühl in seiner Brust und er fuhr mit der Handfläche über die Stelle, wo er es spürte -- dort wo seine Rippenbogen sich trafen.
Tarón hatte keine Ahnung ob Rúnars Vater tot war. Nicht im geringsten. Rúnar wandte seinen Blick ab, seine Hand ging zu seinen Haaren, seine Finger strichen seine mittlerweile viel zu langen Strähnen aus seiner Stirn und sein Atemzug war zittrig -- weil es in seiner Brust zu sieden begonnen hatte.
Weil sie uns brauchten? Tarón hatte an jemanden bestimmten gedacht. Aber das wunderte Rúnar nicht. Schien als zeigte Tarón gerade sein wahres Gesicht. Was einerseits gut war, denn es zeugte davon, dass er ihn nun wirklich kennenlernte. Aber--
So war es irgendwie nicht. Es kam Rúnar nicht so vor, als ob alles nur eine Maske gewesen war und jetzt der wahre Tarón zum Vorschein gekommen war. Es war mehr so, als ob Tarón sich nur entschied den einen Teil von sich außen vor zu lassen -- weil er selbst nicht damit umgehen konnte? Das überstieg aber nun Rúnars Fähigkeit, den anderen Mann zu lesen.
Eins aber hatte er gewusst: Stille Wasser waren durchaus tief.
Er hatte auch gewusst, dass in diesem tiefen Wasser sehr wohl ein Ungeheur liegen könnte, doch er hatte nicht vorgehabt es zu wecken. Und so wie er den anderen Mann gerade vor sich hatte -- scheinbar hart mit sich selbst ringend -- hätte er es mehr um Taróns als um seinetwillen vermieden.
Rúnar sah Tarón nicht wieder an als der weitersprach.
Nichts da, quitt.
Nichts da, geehrt fühlen.
Mit Taróns Worten versiegte das Sieden in Rúnars Brust und als er seinen Blick hob, traf er auf Taróns. Dessen Blick nun ein ganz anderer war.
Rúnar war kein nachtragender Mensch. In der Regel. Doch wenn er es war, dann sicher nicht gegen Tarón.
"Entschuldige, Tarón", sagte er. "Wirklich. Ich fühle mich nicht geehrt, red' keinen Unsinn -- ich fühle mich bescheuert, dass ich dich sowas Dummes gefragt hab." Er fand nicht, dass es per se etwas Dummes war. Er fand es berechtigt. In anderen Situationen hätte es vielleicht zu einer produktiven Diskussion angeregt und er selbst wäre der einzige gewesen, den er unter Umständen damit unglücklich gemacht hätte. Aber Tarón -- der weise, humorvolle, charakterfeste Tarón -- dass man den auf dem falschen Fuß erwischen konnte -- und dabei noch so sehr Salz in eine Wunde streuen konnte, die offensichtlich schon lange vor sich hinsiechte ... "Und es muss nicht nur um mich gehen -- falls du über etwas reden willst, dann höre ich zu. Diesmal, ohne dumme Fragen zu stellen." Er hob seinen Krug und gab Tarón ein schiefes, äußerst zaghaftes Lächeln. "Auf dein Geheule?"
Trotz seines Ausbruches bekam Tarón mit, dass Rúnar auf seine Art versuchte Rücksicht zu nehmen. Oder war es Fremdscham, die ihn den Blick abwenden ließ – nein. Dieser Gedanke ging wohl eher auf seine eigenen Dämonen zurück, die gierig nach allem bissen, was sie von seinem Moment der Schwäche erhaschen konnten.
Für einen Augenblick schien es jedoch als wolle sein blonder Freund zurückfeuern. Tarón sah es in seinen Augen, ehe er sie wieder abwandte, sich offenbar anders entschied. Aber er vernahm das Beben in seinem Atemzug, den Griff ans Herz, spürte das Kochen beinahe mehr, als man es sehen konnte, denn auch Taróns Worte hatten ihr Ziel wohl nicht verfehlt. Und im Gegensatz zu Rúnar hatte er bewusst gezielt. In einem Anflug hässlicher Wut, die am Ende doch nur ihm selbst galt.
Doch diese verrauchte spätestens mit Rúnars zweiter Entschuldigung. Kondensierte zu Asche, die sich mit der vereinte, die auch die Gebeine aller anderen Fehltritte beinhaltete.
„Es war nicht dumm…“
Antwortet er fest, auch wenn seine Stimme so klang, wie er sich fühlte: ausgebrannt.
Und dann kam das Angebot. Wie eine Tür, die sich nun vor ihm aufschob und einen Strahl Lichts in einen lange dunklen, verstaubten Raum ließ. Jenem Raum in dem er sich wohl schon viel zu lange selbst eingesperrt hatte - alleine mit Gedanken und Monstern.
Es war einladend - auch, weil niemand sonst ihm zuvor in dieser Art die Tür für ein Gespräch geöffnet hatte. Es hatte sich niemals jemand auch nur im Ansatz genug für ihn interessiert, um das zu tun - sah man Isa und Aylah ab…und von Jack auf seine Art. Erstere hatte es so oder so schwerer als er und er würde den Teufel tun sich bei ihr auszuheulen und sie mit seinen Problemchen zu belasten. Das durfte er nicht.
Und Aylah...war tot. Und zentraler Bestandteil dieses in Bruchstücken daliegenden Werkes, das er sein Leben schimpfte. Genau wie Jack.
Aber Rúnar fragte. Und vielleicht interessierte es ihn wirklich…
Dennoch war es schwer. So schwer! Denn wenn er durch diese Tür ging gab es kein Zurück mehr - nicht Rúnar gegenüber, vielleicht überhaupt nicht. Dann wusste er es - wie auch immer sein Urteil ausfallen würde. Und tatsächlich fürchtete er dieses Urteil. Fürchtete, dass es genauso ausfallen konnte wie jenes, das der narzisstische Teil in ihm wieder und wieder über sich selbst fällte. Und dann stünde er erneut in diesem Raum. Alleine tanzend mit den Gespenstern - und ohne Tür die den Blick auf ihn und sie verbarg.
Er rang mit sich und dass er dies sichtbar werden ließ war zum einen Teil eines schon lange gärenden Prozesses, zum anderen bereits ein Vertrauensbeweis, denn nicht einmal bis zu diesem Punkt hatte er bisher jemand anderen kommen lassen.
Er umschlich die Option wie eine alarmierte Katze.
Und schließlich traf er seine Entscheidung.
"Also gut. Aber dafür brauchen wir etwas Stärkeres als Bier."
Und mit "wir" meinte er sich. Der Gang zum Tresen verschaffte ihm weitere Minuten in denen er Zeit hatte seine Entscheidung doch noch einmal zu überdenken. Aber Tarón neigte dazu bei einer einmal getroffenen Wahl zu bleiben.
Er kam gleich mit einer ganzen Flasche zurück und stellte den Rum plus die zwei Gläser vor Rúnars Nase ab, wie er es auch schon zuvor mit dem Bierkrug gemacht hatte. Ohne den anderen groß anzusehen schenkte er sich ein erstes Glas ein und leerte es mit einem Zug. So viel zu Manieren, aber die waren ihm gerade wirklich egal.
"Ich...nun ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich beginnen soll. Also mache ich es wohl wie du und beginne am Anfang: Ich bin auf Chikarn aufgewachsen- allerdings in ganz anderen Verhältnissen als du. Sehr anderen…
Eines aber haben wir gemeinsam: der Mann der mich aufgezogen hat war nicht mein Vater. Damit endet aber auch schon jede Ähnlichkeit- zumindest wünsche ich dir das."
In der Sache war er sich jedoch sehr sicher. Niemand würde über einen Faran von „Vaterliebe“ sprechen.
„Meinen Vater kannte ich nie und meine Mutter starb als ich 6 war.“
Er schüttelte leicht den Kopf.
„Ich weiß nicht wie lange ich in unserer kleinen Hütte ausgeharrt haben und ihrer Leiche beim Verrotten zusah, während ich selbst auf meinem Tod wartet, weil ich ansonsten nicht wusste, was ich tun sollte. Meine Tante – ihre Schwester – fand mich schließlich und nahm mich mit zu sich. Isa war da grade zwei Jahre alt.“
Diese Erinnerung brachte ein leichtes Lächeln auf seine Lippen, das angesichts der anderen Erinnerungen jedoch schnell verschwand.
Bevor er weitersprach schenkte er sich ein weiteres Glas ein, trank diesmal jedoch nur einen Schluck.
„Mein Onkel war ein Monster. Und ich sage das nicht leichtfertig. Ich möchte behaupten, dass ich in meinem Leben einige furchtbare Männer getroffen habe – grausame, abartige. Aber bis auf einen weiteren würde ich keinen von ihnen so betiteln. In dem Mann ging etwas Dunkles vor sich, etwas, das über reine Bosheit hinausging.“
Etwas, das nicht ihn betraf. Es betraf Isa. Aber es war nicht an ihm davon zu berichten und es war auch nicht an ihm sich über ihr Leiden als ein Held darzustellen, der er nicht war. Also blieb er bei seiner eigenen Geschichte und ließ den Rest offen.
„Zu seiner „Ehrerettung“ – als wenn er auch nur im Ansatz so etwas wie Ehre gekannt hätte: ich habe es oftmals provoziert.“
Den tatsächlichen Grund hierfür konnte er jedoch nicht nennen… also nannte er den zweiten, der in seinem Kern ebenso wahr war.
„Keine Ahnung warum…aber irgendwie und irgendwann kam ich wohl dazu zu glauben, dass dies einfach meine Rolle war. Wenn er mich schlug wusste ich zumindest woran ich war. Wo ich stand. Und es gefiel ihm, dem Mistkerl. Auch wenn er in klaren Momenten versuchte irgendwas „wieder gut“ zu machen, war das offensichtlich. Und es wurde schlimmer. Irgendetwas in ihm drin fraß an seiner götterverfluchten Seele, bis davon nichts mehr übrig blieb…“
Diesmal leerte sich das Glas – er verschwendete keine Zeit und füllte es nach.
Warum erzählte er das alles, so ausführlich beginnend dort wo es an sich keine Relevanz für Rúnars Frage hatte? Vielleicht wollte er Mitleid- er der nie welches erfahren, es nie gebraucht oder gesucht hatte. Aber er hatte sich auch noch nie so verletzlich gemacht. Nicht vorsätzlich zumindest.
„Wie auch immer…eines schönen Tages fand ich einen verletzten Piraten. Ich war zehn…und ich beschloss dem verlumpten blutenden Kerl zu helfen. Es gab ein Versteck, das nur ich kannte. Eine kleine Höhle, deren Eingang nur bei Ebbe zu erreichen war – es sei denn man wollte tauchen. Hab ihn dort versteckt und ihm Sachen gebracht und mich mit ihm angefreundet.“
Wärme stahl sich in seinen Blick, eine tief empfundene Liebe dem alten Jack gegenüber, die wohl nichts auf dieser Welt je brechen würde.
„Isa lernte ihn auch kennen: Black Tooth Jack! Benannt danach, dass seine Zähne schwarz wie Rattenscheiße waren von dem Kraut, dass er immer kaute.
Wir hatten uns Hoffnung gemacht, geträumt, dass er uns mitnehmen würde…aber das tat er nicht. He…“
Nachdenklich drehte er das Glas in seiner Hand und blickte sich selbst im Honigschein des Rums entgegen.
„Wie auch? Wir waren zwei kleine unnütze Sprotten…nun…er kehrte zu seiner Crew zurück, aber er kam wieder und er besuchte uns und ich träumte weiter meinen Traum von Freiheit, um nicht daran denken zu müssen, wo ich wirklich war.“
Ein Schluck, eine kurze Pause.
„Für Isa hatte es nie eine Chance dazu gegeben…als Mädchen…noch so jung. Doch mir stellte Jack schließlich ein Ultimatum, als er mir zum zwölften Geburtstag eine seiner Pistolen schenkte…
Göttin ich vermisse das Scheißteil. Liegt nun auf dem Grund des Meeres bei…allem andern. Aber dazu kommen wir noch, wenn du bis dahin nicht längst die Schnauze voll hast.
Nun. Jack war nicht blind – er wusste, was bei uns Zuhause passierte. Aber es war nicht an ihm diese Sache zu lösen. Es war an mir. Das wussten wir beide im Herzen. Er gab mir das Ding und seine Worte werde ich nie vergessen:
‚Es gibt nur eine Art, wie man dem Teufel begegnet, Tarón: mit gebleckten Zähnen und einer geladenen Waffe! Töte ihn bevor er dich tötet!‘
Und das hätte er getan…ziemlich sicher. Da ich aber hier bin kannst du dir denken wie die Sache ausging. Ich erschoss meinen Onkel. War überrascht davon wie viel von seinem Gesicht die scheiß Pistole weggerissen hat…ich stand zu tief, hab zu sehr gezittert, deshalb habe ich sein Auge verfehlt…“
Rúnar ansehend zeigte er auf die Stelle ein paar Zentimeter unter dem linken Auge, ehe er die Hand sinken ließ.
„Hat es ihm dennoch weggerissen, zusammen mit einem guten Teil seiner Zähne und schließlich auch Teilen seines Hirns.“
Das Bild Farans brannte vor seinen Augen, der einäugige Blick des Monsters starr in seinem begraben. Keine Angst, keine Überraschung oder auch nur Schmerz, nur ein Abgrund aus bodenlosem Hass!
„Er…starb nicht gleich. Wahrscheinlich kam es mir weit länger vor, wie ich da mit Isa am Boden hockte und heulte, während er um sich schlug und trat und zuckte…aber es war sicher eine halbe Stunde, bis er endlich stilllag. Unsere Tante fand uns schließlich… und egal ob Jack Recht hatte oder nicht: ich habe ihren Mann getötet. Für mich gab es in Chikarn kein Zuhause mehr. Nachdem wir Faran – meinen Onkel – verscharrt hatten, ging ich fort und schloss mich Jack auf der Ocean’s Hangman an…“
Ein schiefes Lächeln neben einem schief gehaltenen Glas.
„Nun, Rúnar…das war Kapitel eins meines Geheules…soll ich weitermachen?“
Es war nicht dumm? Sehr gut. Letztendlich hatte Rúnar das ohnehin eher gesagt, um Tarón zu beschwichtigen. Es hatte anscheinend funktioniert. Und es hatte wohl auch dazu geführt, dass es bis auf offensichtliche Wut und Schuld noch etwas in Tarón ausgelöst hatte. Etwas, das ihn -- wider Rúnars Erwartungen -- dazu brachte, ihm eine Tür zu seiner Vergangenheit zu öffnen.
Wenn er sich nicht auf dem Weg zur Bar umentscheiden würde. Rúnar sah ihm hinterher, musterte die Form seiner Schultern, die Art wie er ging. Sah kurz weg und nahm einen tiefen Atemzug. Das war nicht der passende Moment um Herzchenaugen zu machen. War es von Anfang nicht gewesen -- was hatte sich sein blödes Hirn dabei nur wieder gedacht?
Rúnar hob die Augenbrauen, als Tarón eine ganze Flasche -- er musste etwas genauer auf das Etikett sehen-- Rum vor ihnen abstellte. Und zwei Gläser. Und dann trank Tarón ein ganzes Glas aus ohne abzusetzen. Rúnars Augenbrauen waren immer noch gehoben und er verkniff sich einen unangebrachten, sarkastischen Kommentar -- es musste Tarón wirklich arg sein. Entweder das was er zu sagen hatte, oder dass er sich dazu entschieden hatte, überhaupt etwas zu sagen. (Vermutlich beides.)
Rúnar nahm einen Zug von seinem Bier, stellte es wieder ab, zog das Rumglas zu sich, aber es blieb leer.
Es gelang ihm, Tarón (ohne Herzchenaugen) anzusehen. Es fiel ihm leichter jemand anderen anzusehen der sprach, als jemanden anzusehen, wenn er selbst sprach. Und er wollte Tarón weiterhin bedeuten, dass er zuhörte und das hören wollte, was er zu sagen hatte.
Vater nie gekannt, Mutter gestorben. Rúnar konnte das bis zu einem gewissen Punkt nachfühlen. Seine Mutter hatte die Familie verlassen als er klein war -- und hatte ihn bei dem Mann gelassen der noch nichtmal sein Vater war. Auch er war zusammen mit seinem Cousin aufgewachsen, der ihm letztendlich auch näher stand als seine Geschwister. Aber das war alles nur halb so extrem wie Taróns Leben gewesen war. Und Rúnar hatte sich ausgerechnet bei ihm über seine banalen Probleme beschwert. Dabei hätte er sich eigentlich denken können, dass Tarón nicht aus Spaß an der Freude Pirat war.
Als Tarón einen Schluck von seinem Rum nahm, nahm Rúnar einen von seinem Bier -- und rückte sich dann so hin, dass er Tarón komplett zugewandt war.
Auch Rúnar selbst hatte neben einer verwesenden Leiche gesessen und man hatte ihn fast gewaltsam von ihr wegzerren müssen -- aber ein geliebtes Haustier war noch lange keine Mutter.
Auch Rúnars Onkel war ein bösartiger Mensch -- aber kein Monster.
Und Rúnar wurde nie, nie geschlagen.
Es trieb ihm die Tränen in die Augen und er musste einmal tief einatmen, damit sie dort auch blieben. Er wollte nicht, dass Tarón dachte, dass Rúnar ihn bemitleidete. Die Art und Weise, wie er davon erzählte, ließ Rúnar glauben, dass er kein Mitleid wollte. Und es half ja auch nichts mehr -- was passiert war, war passiert. Auf der anderen Seite tat es ihm leid und er schämte sich dafür, dass er sich darüber ausgelassen hatte, dass ihm selbst so schlecht ergangen war -- dabei war sein eigenes Leid nur ein Dreck unter dem Fingernagel eines Riesen.
Ein Lächeln huschte kurz über Rúnars Gesicht, über die Art wie Tarón über den Piraten sprach und er lachte kurz auf, als Tarón dessen Zähne mit der Farbe von Rattenscheiße beschrieb.
Als Tarón dann erzählte, wie er seinen Onkel getötet hatte, ging Rúnars Hand zu seiner Brust -- ein intensives Gefühl machte sich in seinem Herzen breit, aber er konnte nicht genau sagen, was es war. Auf sich projizierte Genugtuung? Entsetzen über die Vorstellung von einem kleinen Jungen, der einen Mann erschoss? Hochachtung dafür, wie ruhig Tarón gerade davon erzählte?
Bei der Vorstellung, wie er und Isa dasaßen und weinten, konnte er seine eigenen Tränen nun auch nicht mehr zurückhalten. Er versuchte nicht großartig sie zu verbergen, aber wischte sich trotzdem kurz mit dem Handgelenk über die Wange.
Als Tarón geendet hatte, nahm Rúnar erstmal einen großen Schluck von seinem Bier. Es kam ihm weniger bitter vor -- vielleicht weil er sich dran gewöhnt hatte -- oder weil Taróns Worte einen bittereren Geschmack hinterließen als das Getränk.
Rúnar entgegnete das Lächeln. "Ich bitte darum", sagte er, so bestimmt aber so sanft wie möglich. Er hatte nicht vor, dass Tarón sich genötigt fühlte. Aber er wollte auch nicht den Eindruck erwecken, dass es ihm zu viel war.
Tarón hatte jemanden umgebracht. Vielleicht zu Rúnars eigener Überraschung, verschreckte ihn das nicht allzu sehr. Es tat seiner Zuneigung keinen Abbruch, vielleicht hatte es diese sogar noch verstärkt. Zum einen hatte er nichts anderes erwartet, als er sich einer Piratencrew angeschlossen hatte. Zum anderen zeugte das davon, dass Tarón ihm irgendwie vertraute.
× seems like all i'm worth is ×
what i'm able to withstand
Rúnar Rúnarsson ist 22 Jahre alt und wurde unter den Sternen der ersten Welt auf der Insel Andalónia geboren. Dieser mutige Pirat reist als Seemann durch die Meere der Inselwelten und plünderte mit der Crew bereits auf 55 Streifzügen in 15 Tavernen.
Habseligkeiten
Harpune • kleine Stofftasche: Briefpapier, ein wenig Kleingeld, Kamm, Rasiermesser • Halstuch, Hemd, Weste, Mantel, Kniehosen, Lederstiefel • vergoldeter Ehering, vergoldeter Siegelring
Körperliche Verfassung
etwas angeschlagen
Rúnar erwies sich tatsächlich als geduldiger Zuhörer. Und wenn Tarón sich Mitleid gewünscht hatte – nun auch das bekam er. Subtil, ohne allzu großes Bedauern, doch Rúnars Reaktionen sagten ihm, dass der andere mitfühlte – im wahrsten Sinne des Wortes Mitleid zeigte. Nicht gönnerhaft oder egozentriert, nicht sich den Schmerz aneignend, den er fühlte. Sondern lediglich ehrlich versuchte ihm auf der Spur seiner Erinnerungen zu folgen und dabei nachzuempfinden, was er da sagte. Im Guten, wie im Schlechten – im Lächeln über Jack, seinen Tränen oder dem Griff an sein Herz.
Dennoch kam Tarón nicht umhin sich angesichts der Tränen in Rúnars Augenwinkeln zu schämen. Er war es nicht gewohnt, dass jemand um seinetwillen Tränen vergoss, war zeitlebens der gewesen, der sich zusammenzureißen hatte. Darin war er an sich gut geworden. So gut, dass er den Teil, der nun als Wortflut aus ihm herausfloss selbst kaum kannte.
Noch immer sein Lächeln auf den Lippen – trügerisch, in sich selbst tief wie die See – beäugte er Rúnar einen Moment, wog erneut ab. Aber nun war er bereits im Fluss und seine Flut trug auch ihn mit sich – hinaus aufs Meer.
„Na schön…“
Ein Schluck, ein weiteres leeres Glas, das er nachfüllte. Doch für den Moment blieb das gewinnende Lächeln, hinter dem sich dennoch noch etwas anderes zu verbergen schien. Weniger greifbar. Gegen ihn selbst gerichteter Sarkasmus, der das Ganze leichter machte.
„Die nächsten zwölf Jahre verbrachte ich auf der Hangman unter einem Haufen echter Piraten.“
Erneutes Abwägen – diesmal jedoch kürzer. Vielleicht lag das am Alkohol, den der Falke langsam deutlicher spürte.
„Hm. Möglich, dass ich meinen guten Eindruck verderbe, aber auch das ist wohl Teil der Geschichte und von mir. Und du wolltest sie hören, also soll es nicht unerwähnt bleiben: wenn es eine Illusion gab, dass man als Pirat nicht früher oder später Blut an seinen Händen hat, muss ich sie dir jetzt nehmen. Ich habe einige Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin. Dinge, die wahrscheinlich so nicht nötig gewesen wären. Schuld, nicht wahr? Ja…darum geht es schließlich…
die Hangman hatte einen üblen Ruf und sie verdiente ihn. Ich rede mir gerne ein, dass wir ja dennoch unseren Ehrenkodex hatten, uns an gewisse Dinge hielten – aber auch das rechtfertigt nicht alles was damals geschah. Wahrscheinlich half es uns allen nur uns nicht wie verdammte Hunde zu fühlen. Genauso wie die Überzeugung, dass wir es eben tun mussten, um zu überleben. Du magst mich anders kennen, Rúnar…vielleicht hoffe ich das auch nur– aber ich war nicht für meine Warmherzigkeit bekannt. Den Spitznamen „Falke“ trug ich nicht, weil der Vogel so hübsch ist. Je nach Blickwinkel waren wir ein netter Haufen – oder aber Dämonen der See. Aber es gab den Kodex, den Kodex… bis unser Käpt’n überschnappte. Und damit sind wir beim zweiten Monster in dieser Geschichte und vielleicht war er ein noch größeres, als Faran.
Barass war niemals ein angenehmer Mensch gewesen. Wenn jemand mit ihm gut konnte, war es Jack…aber das änderte sich, als er anfing aus reiner Mordlust zu töten. Und wie! Es kam schleichend…und ehe wir es richtig begriffen, war die Mannschaft zwiegespalten zwischen denen, die ihm überallhin gefolgt wären und denen für die die rote Linie längst überschritten war. Auf Jack hörte er schon lange nicht mehr. Nun…“ sein Blick wandte sich zur Seite, das Lächeln verschwand aus seinen Zügen.
„Jacks Fehler war es zu versuchen die Dinge zu ändern…nein…eher nicht zu sehen, was aus Barass geworden war. Es nicht sehen zu wollen, bis es zu spät war. Und als er sich dann mit mir davonmache wollte hatte er bereits bei der Mannschaft Unruhe gestiftet. Barass ließ ihn dafür kielholen…“
Nachdenklich schwenkte er den Alkohol, trank und sah wieder auf das Honigbraun im Glas.
„Damit endete die Geschichte von Black Tooth. Und meine Zeit auf der Hangman…ich habe das Schiff fünf Tage später am nächsten Hafen verlassen und zugesehen, dass ich Land gewinne. Doppelte Schuld – dafür, dass ich Jack nicht gerettet habe und dafür, dass ich Isa von da an nicht mehr besuchte. Ohne dass sie wusste, was aus mir wurde…ohne ein Wort oder Brief…“
Er hob das Glas etwas an, betrachtete, wie sich das Licht in ihm brach.
„Einfach so … weg…“
Die Lippen etwas schürzend sah er Rúnar an, dann leerte auch dieses Glas.
Rúnar lächelte zaghaft zurück, als Tarón ihn ansah, dann bedeutete, dass er weitererzählen würde -- als er sein Glas austrank presste Rúnar ein wenig die Lippen zusammen. Ein guter Teil der Flasche war schon leer und Rúnar hatte bisher gar nichts davon getrunken. Aber es war nicht an ihm zu bewerten, wie viel sein gegenüber trank. Der war selbst alt genug um derartige Entscheidungen zu treffen -- außerdem hatte Rúnar auch nicht gerade wenig getrunken. Nicht so viel wie Tarón, aber er war ja selbst auch ein Leichtgewicht -- und das merkte er bereits.
Schuld -- und Blut an den Händen. Jawohl. Rúnar hatte dahingegen keine Illusionen mehr. Im Kielwasser eines Blutbads und inmitten dem himmelhohen Licht einer brennenden Stadt hatte er sich der Sphinx-Crew angeschlossen. Er hatte gewusst, auf welche Menschen er sich einließ. Immer wieder hatte er vor Augen, wie er seine Harpune aus dem Brustkorb des toten Mannes da in der Gasse auf Lacrinîn zog. Immer wieder. Trevor hatte sie in den Körper des Kopfgeldjägers befördert gehabt und ein wenig später hatte er Rúnar bei der Hand genommen und ihm damit bedeutet, dass er bei ihm und der Crew sicher war. Und wenn er genauer darüber nachdachte, dann war er das bisher auch gewesen. Bei ihnen, ja. Mit ihnen, nein. Aber er konnte aufhören sich einzureden, dass er nur vorübergehend da war. Er wollte bleiben.
Tarón sprach Rúnar nun wieder mit seinem vollen Namen an. Ihm war nicht entgangen, dass er ihn bei einem Spitznamen genannt hatte. Das hatte bislang sonst keiner aus der Crew getan -- außer Trevor, aber das hatte eine ganz andere Konnotation. Ein betrunkener Trevor hatte sich nur einfach nicht Rúnars Namen merken können und nun würde er ihn wohl bis ans Ende seiner Tage 'Daggi' nennen. (Wunderbar.)
Als Tarón das Kielholen erwähnte, verzog Rúnar kurz das Gesicht. Allein die Vorstellung davon, das bei einem Fremden mitbekommen zu müssen -- und dann auch noch jemandem, der ihm wichtig gewesen war. Schien so, als hätte Tarón durchweg Leute verloren oder zurückgelassen, die ihm etwas bedeuteten. Aber nun hatte er zumindest wieder Isa. Und ohehin hatte er die ganze Crew. (Und im besonderen hatte er Rúnar -- diesen Gedanken erstickte Rúnar allerdings im Keim bevor er richtig aufblühte.)
Ende zweiter Akt, exeunt Tarón und ein weiteres Glas Rum.
Exit Rúnars wieder zimmerwarmes Bier -- besser wurde es ja nun nicht. Dann schob er den leeren Krug von sich weg und schank sich einen kleinen Schluck Rum ein. Er wollte ja nicht unhöflich sein und das Glas, das Tarón ihm mitgebracht hatte, unbenutzt lassen.
Dann sagte er: "Zuerst einmal schaffst du es wahrscheinlich nicht mehr so leicht, meinen Eindruck von dir zu verderben."
Rúnar hatte selbst das Gefühl, dass er in den letzten Monaten reichlich abgestumpft war gegenüber jeglichen moralisch bedenklichen Dingen. Wobei das Tarón ja nun gar nicht mehr akut betraf. Tarón hatte sein Monster von einem Onkel beseitigt -- gut so. Er war mit einer Crew gereist, die nicht nur einen fragwürdigen Kodex gehabt hatte sondern einfach darauf geschissen hatte -- das tat er nun aber nicht mehr.
Aber Schuld ... das war es eben.
"Und mir war auch klar worauf ich mich einlasse, wenn ich mich der Sphinx-Crew anschließe. Ich glaube, es weiß keiner außer Trevor -- den hatte ich nämlich als erstes aufgegabelt -- aber ich habe damals gezielt nach der Sphinx-Crew gesucht. Erschien mir sinnvoll mit Piraten zu reisen. Hat sich dann rausgestellt, dass die Piraten weit weniger schlimm waren als in meinen Vorstellungen. Aber die Dinge, die mit den Piraten einhergehen hab ich mir anders vorgestellt." Er seufzte. "Müssen wir jetzt aber nicht alles nochmal aufrollen." Darüber hatte Rúnar sich eben zu genüge beschwert.
Er nahm den einen Schluck rum, den er sich eingeschenkt hatte. Ließ ihn kurz auf seiner Zunge verweilen -- für den Geschmack -- und ließ ihn dann brennend seine Kehle hinabfließen. Dann stellte er das Glas wieder ab. "Und ich muss dich leider darin bestätigen, dass du noch immer nicht gerade für deine Warmherzigkeit bekannt bist -- aber dafür hast du andere Qualitäten", sagte er, grinste und klopfte leicht auf Taróns Schulter.
Schließlich wandte auch Rúnar sich dem Rum zu, als er sein – erneut ziemlich schales, dem Auge nach – Bier heruntergekippt hatte. Der Stand der Flache leerte sich bereits bedenklich und Tarón nahm kurz zur Kenntnis, dass er nun wenigstens behaupten konnte, sie hätten sie zusammen platt gemacht.
Ein sanftes Lachen des Falken, das die feinen Fältchen um seine Augen erreichte.
„Na da bin ich ja froh.“
Es klang ironisch – aber das war er tatsächlich. Generell interessierte es ihn relativ wenig, was andere von ihm dachten – relativ. Bei Rúnar schien ihm das jedoch aus irgendeinem Grund wichtig. Vielleicht weil dieser – anders als ein Großteil der Crew – noch nicht so abgebrüht war. Kein grobes Raubein oder ein cleverer Trickser…niemand der über Leichen ging, um seinen Vorteil zu bekommen – dafür jemand, der tatsächlich Interesse an echten zwischenmenschlichen Beziehungen hatte. Jemand, der noch genügend Vertrauen für so etwas in sich fand.
Obwohl er wohl doch schon einiges begriffen hatte…
„Ausgerechnet Trevor…“ er gluckste in sein Glas, trank kopfschüttelnd. Trevor war für ihn noch immer eine absolute Wild Card, die er kaum einzuordnen wusste. Er merkte sich für später, dass Rúnar und den verrückten Chaoten vielleicht etwas verband und er den blassen Freund vielleicht zu ihm befragen konnte, ohne sich selbst mit Trevors wirrem – und für ihn wirklich anstrengenden – Selbst befassen zu müssen.
Aktuell jedoch dachte der Falke über Rúnars weitere Worte nach, lächelte in seinen Drink, neigte den Kopf ein wenig, trank.
„Das ist tatsächlich äußerst interessant…hast du bei den Kopfgeldjägern von ihnen erfahren?“
Oder von den Steckbriefen? Hatte Rúnar im Vorfeld von der Morgenwind gewusst? Wusste er es jetzt? Tarón erwähnte das Schiff und sein Schicksal nicht, sich wohl daran erinnernd was Luciens Gesicht ihm verraten hatte, als dieser ihn aufklärte, dass dies das Werk der Sphinx gewesen war. Und bei aller Vertrautheit – die Karten seines Käpt’n spielte Tarón niemandem in die Hand. Von dieser konnte er nicht ganz sicher sein, ob Lucien sie nicht vielleicht selbst bereits gespielt hatte oder Rúnar die Info von jemand anderem bekommen hatte – was wahrscheinlich war…aber eben nicht zwingend richtig.
Erneut lachte er leise, diesmal jedoch wieder mehr in sich hineinschmunzelnd.
„Diese Piraten sind weniger schlimm, aye. Eine verdammt gute Bande, wenn du mich fragst…aber kein guter Maßstab fürchte ich. Deine vorherige Vorstellung ist wahrscheinlich weit näher an der Wahrheit der meisten Schiffe dran...“
Mit der Sphinx hatte Rúnar damit verdammtes Glück gehabt…Taróns Blick glitt über seinen Freund, dessen feines blondes Haar, lang geworden in der kurzen Zeit, die weichen blassen Züge…fast feminin…passend zu den geschwungenen Lippen….
Tarón blinzelte…Runar wäre ein gefundenes Fressen an Board der Hangman gewesen – in jeder nur erdenkliche Art.
°Nein Rúnar…worauf du dich eingelassen hättest, wäre es nicht so gut gelaufen, war dir nicht klar…sonst hättest du es nicht getan…°
Aber es war gut gegangen – so gut, dass sie nun hier saßen und Tarón sich, obwohl er noch nicht einmal am Ende seiner Erzählung angekommen war, bereits anders fühlte…besser. War es so einfach? Wäre es die ganze Zeit so einfach gewesen? Er wusste, dass das zugleich trügerisch, wie auch die Wahrheit war. Trügerisch, weil es nur ein Teil dieses Puzzles war sich das Herz auszuschütten und er damit noch nicht einmal fertig war – der schmerzhafteste Teil kam erst,- wahr, weil dieses Teil dennoch einen zentralen Punkt in der Lösung einzunehmen schien.
Und plötzlich lag Rúnars Hand auf seiner Schulter und klopfte leicht darauf, während Tarón sie anstarrte, ehe sein Blick mit leicht gesenkten Brauen und verengten Augen zu ihm herübertaumelte.
„Hey! Hast du gesehen, wie warmherzig ich zu James war? Also bitte, das muss doch zählen?“ An sich war das Nichts, das er zum Lachen fand und nüchtern hätte er diesen Witz nie gemacht – dafür war ihm das ganze Thema um die Angelegenheit herum zu schwerwiegend…seine Drohung zu ernst gewesen. Denn was er James angedroht hatte wäre er bereit gewesen umzusetzen. In dieser Sache hatte er sich nicht geändert. Nun aber machte der Rum seine Zunge leicht und sein Hirn wolkig und er konnte sich tatsächlich ein kehliges Lachen darüber entringen, wenn er an James dumme Fresse nach dem „Kuss“ dachte.
Er trank sein Glas aus.
„Naja ok…vielleicht ist es besser so. Dann hat keiner falsche Hoffnungen…ok…lass mich die Geschichte zum Abschluss bringen.“
Das war ein verdammter emotionaler Wellenritt…aber einmal angefangen wollte er es abschließen…und das ging nur wenn er von Aylah und der Aurora erzählte und sich damit noch einmal hinab an den Meeresgrund wagte, auf dem seine Erinnerungen lagen.
„Zwei Dinge kommen noch. Die wahrscheinlich bedeutendsten für mein kleines Trauerspiel- aber ich versuche mich kürzer zu fassen...kann mir denken, dass das Ausmaß meines Geheuls selbst den geduldigsten Rahmen sprengt...also: Bühne auf für den dritten Akt und das vorläufige Finale.
Ich heuerte auf verschiedenen Schiffen an, ehe ich auf die Aurora kam. Ein prächtiges Ding...mit prächtigen Menschen. Auch sie hatte ihren Ruf. Auch er verdient, aber das war etwas anderes als mit Barass. Käpt’n Frámor hatte eine gewisse ...Klasse.“
Ein Mann von Format…mit Rückgrat…ein Freund.
Tarón griff noch einmal zur Flasche und schenkte sich nach. Trank.
„Die Dinge liefen gut, auch wenn ich nicht konstant bei der Aurora blieb, sondern die Schiffe öfters wechselte. Vielleicht war ich es leid mich zu sehr zu binden… Aber sie liefen so gut, dass ich kaum mehr an Isa dachte...oder an Jack...Faran...“
Schuld. Vergraben selbst in den guten Erinnerungen.
„Auf Lilanja traf ich eine Frau - Aylah - und wir verliebten uns. Also doch wieder eine Bindung…und was für eine…“
Sein Blick verklärte sich einen Moment im Andenken an sie und ein feines, trauriges Lächeln voller Liebe floss über seine Züge wie eine sanfte Welle über verblassende Fußabdrücke.
„Sie war wunderschön – nicht nur ihr Körper, auch ihr Herz…“
Mit einem Kopfschütteln brach er die Trance der Erinnerung.
„Hmpf... nunja. Sie hätte dich wohl besser verstanden, als ich es kann. Aylah war die Tochter eines ziemlich wohlhabenden Händlers und wie du schon recht früh jemanden versprochen worden, den sie sich niemals selbst ausgesucht hätte. Schätze, ich hab dem Arschloch ganz schön die Tour versaut...oder hätte es, wenn die Dinge nicht gekommen wären, wie sie kamen.
Ich wollte sie mitnehmen...mit ihr durchbrennen, wenn sie nicht auf einem der Schiffe mit mir bleiben wollte. Egal wohin - überall hin. Für sie wäre ich bis in die achte Welt gefahren. Aber diese Reise trat sie dann allein an...
Ich fand sie an dem Strand, an dem sie auf mich warten wollte, doch anstatt eines Neuanfanges für uns beide wurde es ein Abschied. Ich konnte bereits Nichts mehr für sie tun - das sagt mein Verstand. Die Schuld sagt mir ich hätte früher da sein müssen oder etwas ahnen. Dass ich, wie ich vorher sagte, versagt habe, als sie mich brauchte. Aber es gab Dinge, die sie mir nicht erzählte...das weiß ich nun, auch wenn ich noch immer nicht weiß, um was es sich genau handelte. Ich fand sie mit mehreren Stichverletzungen am Strand verbluten... meine Sonne sank mit der an diesem Abend auf Lilanja…“
Er schüttelte den Kopf und kippte das halbe Glas hinunter.
„Vielleicht sollte ich besser zum Theater…melodramatischer Holzkopf…
Was mir von ihr blieb ist die Echse.“
Das und eine Strähne dunklen Haares – aber das musste er nicht auch noch erwähnen…er machte sich so schon zum sentimentalen Trottel.
„Calwah gehörte vorher ihr...und ich schwor ihr mich um ihn zu kümmern. Schuld...oh Schuld...tja du hast wohl doch recht, Runar. Warum sonst das Echsenvieh?“
Sprach er seine Gedanken von vorher nun aus.
„Ich nahm Calwah und begrub meine Geliebte und kehrte zu meiner Crew zurück. Wechselte die Schiffe, fand zurück in meinen Trott…und blieb schließlich bei der Aurora, weil ich mich auf ihr am ehesten Zuhause fühlte.“
Der Rest des Glases folgte er ersten Hälfte.
„5 gute Jahre…Jahre, in denen die Crew zu meinen Freunden wurde…und dann brachte ich ihnen den Tod.“
Zum ersten Mal an diesem Abend glitzerten Tränen in Taróns Augenwinkeln, als er den Blick von seinem Glas hob und Rúnar direkt ansah.
„Ich. Und niemand anders ist dafür verantwortlich…die Aurora gibt es nicht mehr – genauso wie Käpt’n Frámor, handsome Jim, Sprok , Curly…Wünsche, Ausreden…‘ich habe es nicht wissen können‘. Aber ich hätte es wissen müssen! Ich hätte auf den Instinkt von Frámor vertrauen müssen, anstatt ihn dazu zu überreden diese Passage zu nehmen…wozu?…weil ich es wollte! Weil ich – und nur ich - zu dieser Pissinsel wollte, um irgendwas über dieses Mistvieh zu erfahren, das Aylah mir aufgezwungen hat. Aber ich habe sie überredet…ihnen die Sache schmackhaft gemacht, bis sie zustimmten…“
Und grade sagte er mehr, als er eigentlich gewollt hatte, doch nach der Ruhe, kam der Sturm erneut zurück und peitschte ihm mit beißender Gischt die Tränen in die Augen.
„Ich weiß nichtmal wer die Typen waren, die uns versengten…“
Er wusste jedoch warum…aber das, zumindest das, behielt er für sich.
„Aber sie lauerten in einer Nebelbank…he…ironisch, oder? So ähnlich hatten wir es mit dem verfluchten Handelsschiff vor. Sie lauerten uns auf und sie schossen die Aurora in Stücke und beförderten sie auf den Grund des Meeres…wir kamen noch ein Stück weit, deshalb kamen sie nicht zum entern…aber auch das hätte keinen Unterschied gemacht. Die Aurora sank, meine Freunde sanken mit ihr und verrotten nun am Grund des Meeres. Wegen mir. Und ich? Ich sitze hier und saufe Rum. Scheiße!“
Er schloss die Augen, lehnte den Kopf nach hinten und eine einzelne Träne löste sich aus seinem rechten Augenwinkel, als er tief durchatmete.
„Wenn jemand tot am Meeresgrund liegen sollte, dann ich. Nicht Jack, nicht Frámor oder einer der anderen. Und auch Aylah sollte am Strand stehen und mit ihrer Echse spielen, anstatt in einem feuchten Grab zu liegen…vielleicht sollte selbst Faran bei Maira sein…“
Sein Kopf kippte wieder nach vorne, die Augen – blau wie die See – öffneten sich wieder. Er lachte bitter.
„Nein…die ist auch tot…aber er wäre bei ihr gewesen…ihr verschissener Mann. Nein…der Bastard hat den Tod mehr als verdient…diese Schuld zumindest werde ich nicht tragen.
Nun, aber damit wären wir hier, oder? Ich schaffte es meinen Arsch zu retten – so wie immer! Weil das so läuft und Männer, die es nicht verdienen leben, während andere mit den Fischen schwimmen. Ich fand irgendwie zu dieser Scheißinsel mit den scheiß Kopfgeldjägern…und ich roch den Haufen Mist, den sie anzünden wollten…erkannte und nutzte meine Chance, weil ich gut darin bin! Oh, so gut! Und so trafen wir uns auf der Sphinx, mein hübscher Rúnar. Nur um hier zu sitzen und darüber zu reden, was Schuld ist. Vielleicht verstehst du meinen Wunsch nun – und ja. Ja verdammt es ist ein Wunsch. Und es ist Glaube. Was soll ich tun? Jetzt? Heute? Wenn ich mich mit der neuen Pistole hier...“
Und er zog sie hervor, legte sie auf den Tisch zwischen sie.
„..erschieße, weil ich die Schuld nicht ertrage…macht das irgendetwas besser? Holt sie das zurück? Oder mein Geheule, meine Trauer, meine Wut?“
Er atmete schwer seufzend aus, so als wäre er hunderte Meter gerannt, sah auf das raue Holz des Tisches.
„Nein. Mein Punkt und mein Fazit. Schuld bringt niemandem etwas.“
Seine Augen hoben sich und müde sah er Rúnar mit einem schiefen traurigen Lächeln an.
„Und doch ist es schwer sie loszulassen…“
Rúnar quittierte Taróns ironische Bestätigung darüber, dass er es nun nicht mehr bei dem anderen Mann verscheißen konnte, mit hochgezogenen Augenbrauen und einem aufgesetzten Gesicht, das ein ebenfalls ironisches, Na, dann eben nicht, bedeutete.
Als Tarón dann darüber schmunzeln musste, dass es ausgerechnet Trevor war, den Rúnar aus der Crew aufgegriffen hatte, zuckte Rúnar nonchalant mit den Schultern -- aber die Art wie er lächelte, machte deutlich, dass er es ebenso amüsant fand wie Tarón.
Seine Augen verweilten kurz auf Tarón -- und er lächelte noch immer, ein wenig abwesen, während er beobachtete wie Taróns Lippen sich zu einem Lächeln kräuselten und er sie dann an das Glas setzte.
Taróns nächste Frage holte ihn wieder zurück auf das Gesamtbild -- das Gespräch zwischen ihnen. Ob er von den Kopgeldjägern von der Sphinx erfahren hatte? Nein. Rúnar schüttelte den Kopf und sagte: "Ich war sozusagen auf Lacrinîn gestrandet und wollte endlich eine Mitfahrgelegenheit, die nicht Geld verlangte, das ich nicht hatte; mir Arbeit abschlug, die sie mir nicht zutraute; oder schlicht und einfach keine Lust oder Kapazität hatte, jemanden mitzunehmen. Ich hab dann in der Taverne gehört, dass ein Schiff mit roten Segeln vor kurzem eingelaufen war und dass das Piraten waren." Er schmälerte die Lippen zu einem Halblächeln. "Und der Rest ist Geschichte."
Zu Taróns Kommentar über seine Vorstellung von Piraten nickte Rúnar nur etwas nachdenklich -- er hielt sich allerdings bewusst davon ab, in dieses Gedankenloch zu stürzen. Sonst überlegte er es sich vielleicht doch nochmal anders damit, auf der Sphinx zu bleiben. (Natürlich würde er das nicht. Wenn ihn auch sicherlich weiterhin die Zweifel plagen würden, über die er sich bei Tarón ausgelassen hatte.)
Als Tarón die Situation mit James erwähnte, musste Rúnar laut auflachen -- und hoffte, dass Tarón nicht bemerkte, wie er wieder errötete. Denn das erste, an das er sich dabei erinnerte, war, wie er sich gerne an James' Stelle gesehen hätte. (Natürlich unter anderen Umständen.) Und da wurde ihm bewusst, dass das der Moment gewesen sein musste, in dem es ihn getroffen hatte. Zumindest so, dass es am heutigen Abend dazu geführt hatte, dass ihm deutlich bewusst wurde, wie sein Herz schneller schlug in der Gegenwart des anderen; wie ihm danach war, Tarón zu berühren, sei es auch nur die Hand auf seiner Schulter, oder die Finger in seinen Haaren, oder die Lippen auf seinen, oder--
Rúnar atmete tief ein und fuhr sich kurz mit der Hand übers Gesicht.
Falsche Hoffnungen, hm? Wahrscheinlich konnte er sich das ganze einfach sowieso abschminken. Dieser Kuss mit James war ja nicht aus Zuneigung oder gewesen. Er war zur Lehre gewesen. (Wie und ob das fragwürdig war, war Rúnar im Moment egal.)
Rúnar atmete nochmal ein -- aus -- um wieder konzentriert zuhören zu können. Dritter und letzter Akt ...
Mein Rahmen ist sehr flexibel, dachte er. Aus Eschenholz oder so.
Wie bitte?
Zum Glück hatte er aufgehört zu trinken -- sowas hätte nüchtern nicht seine Gedanken gekreuzt.
Doch er hörte weiter zu. Seine Augen folgten Taróns Hand, als er zur Flasche griff und dann sein Glas an den Mund hob um daraus zu trinken. Kurz hatte Rúnar den Impuls, die Flasche zu nehmen und sie weiter zu seiner Seite des Tisches zu ziehen, aber er tat es nicht. Wenn es Tarón half, seine ... Sache so zu verarbeiten, dann musste das eben so sein. Fürs erste.
Dann sank sein Herz, als Tarón von Aylah zu sprechen begann. Zunächst, weil er also annahm, dass Tarón eben doch nur Interesse an Frauen hatte -- das war aber unlogisch per se, denn das musste sich ja nicht auf ein Geschlecht beschränken. Dann aber, weil ein gewisser Ausdruck über Taróns Gesicht huschte. Die Art wie sein Gesicht sich veränderte, bedeutete für Rúnar, dass er niemals jemand anderen so ansehen könnte, wie die Gedanken an diese Frau.
War Rúnars Herz eben noch gesunken, so spürte er es jetzt wieder fester schlagen. Oder eher schmerzen. Bei der Vorstellung, wie Tarón die -- offensichtlich -- Liebe seines Lebens tot oder beinahe tot vorfand.
Melodramatischer Holzkopf? Sicher nicht. Rúnar schüttelte den Kopf. Er wollte sich gar nicht ausmalen ... wieder hatte er das Bild vor sich von Nótts totem Körper auf der Weide, Sólfaris verzweifelten Schreien, als er versuchte mit seinem gebrochenen Bein aufzustehen.
Aber ein geliebtes Haustier oder gar ein Götterpferd war noch lange, lange, lange nicht die Liebe seines Lebens.
Aber was verstand Rúnar schon von Liebe.
Zum dritten Mal bekannte sich Tarón nun als Mörder. Aber auch diese Situation war anders -- es war kein kaltblütiger Mord, kein Mord im Affekt oder dergleichen. Es war die Schuld, die sich Tarón selbst zuschrieb, die ihn zum Mörder machte. Sonst nichts. Nur er sah sich selbst so.
Wieder musste Rúnar seine Hand auf sein Herz pressen, als er bemerkte, dass Tränen in Taróns Augen standen -- sofort schossen ihm Tränen in die seinen.
Der charakterstarke, immer bestens gelaunte Tarón mit der lustigen, bunten Echse. Es musste unglaublich wehtun, diese Erinnerungen hervorzuholen und Rúnar konnte den Schmerz regelrecht an seinem eigenen Körper spüren.
Ihm liefen schon lang die Tränen hinab, als sich auch eine aus Taróns Augenwinkel löste.
Rúnar hätte tausend Sachen sagen können: Du kannst nichts dafür. Was geschehen ist, ist geschehen. Du hast niemandem die Entscheidung abgenommen. Aber nichts davon wäre das richtige, geschweige denn in irgendeiner Weise hilfreich gewesen. Er wusste, dass das nichts an den Schuldgefühlen ändern würde.
Rúnar wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, als Tarón seine Augen wieder öffnete -- das blau glasig und wütend.
Ja. Ja, er verstand. Nein, er wusste nicht, was Tarón tun sollte -- verdammt, er wusste ja selbst nicht mal was er tun sollte. Natürlich war es eine rehtorische Frage gewesen, aber Rúnar suchte nach irgendetwas, das er sagen könnte.
Sein Herz machte einen Sprung beim Anblick der Pistole und bei Taróns -- hoffentlich noch immer -- rhetorischer Frage, ob es etwas besser machen würde, wenn er sich erschießen würde.
Er nickte, bestätigte damit Taróns letzten Satz, und griff dann langsam aber geschickte nach der Pistole und zog sie zu seiner Seite des Tisches, weit genug weg von Tarón. Natürlich dachte er nicht, dass Tarón sich an Ort und Stelle das Gehirn aus dem Kopf pusten würde -- es war eine Art non-verbale Kommunikation: Hier wird sich niemand erschießen. Und es machte nichts besser. Ganz und gar nicht.
Rúnar wusste noch immer nicht genau, was er sagen sollte. Aber er wollte etwas sagen -- begann mit: "Es tut mir leid ... dass ..."
Ja, was?
Was tat ihm leid?
Tarón im Allgemeinen? Oder dass alles für ihn so blöd gelaufen war? Dass er sich so schuldig fühlte? Dass er diese Bürde mit sich trug? Dass Rúnar dafür verantworktlich war, dass es in diesem Gespräch nun so weit gekommen war, dass sie beide betrunken und weinend dasaßen?
Ihm fehlten die Worte. Und er wusste gerade nicht, das anders deutlich zu machen, als seine Arme zu öffnen und zu fragen: "Willst du ... eine Umarmung?"
Nach wie vor registrierte ein Teil von Taróns Gehirn Rúnars Reaktionen und Regungen auf seine Worte – und er stellte fest, dass der Blonde eine Menge auch ohne Worte und allein mit seiner Mimik ausdrücken konnte. Das war auf eine Art erstaunlich – wie er selbst in seinem aktuellen Zustand noch bemerkte. Denn Rúnars Gesicht schien ansonsten oft reglos, beinahe ausdruckslos.
Aber auch das war vielleicht nur eine Maske – antrainiert? Gewählt?... Beides?
Dass sich dahinter auf jeden Fall eine große emotionale Tiefe verbarg, daran bestand kein Zweifel mehr.
Der analytische Teil von Tarón -wenn auch etwas vernebelt - schnappte automatisiert nach Rúnars Antwort zu seiner Frage bezüglich der Sphinx. Ahnungslos also. Gut. Vielleicht vorerst besser so… Allerdings zeigte sich in der Antwort erneut eine gewisse Naivität, die dem Jungen schnell das Genick brechen konnte, wenn an die Falschen geriet.
Tarón entgegnete seinen Abschluss zu der Frage mit einem Lächeln seinerseits…ja…es war Geschichte – eine, die sie hier her geführt hatte. Mit allen Höhen und Tiefen dieses überraschenden Abends. Für ihn jedenfalls, denn so hatte Tarón sich das sicher nicht vorgestellt. Bereite er es?...zumindest aktuell nicht. Noch immer fühlte es sich unvertraut und seltsam gut an sich das von der Seele zu reden.
Taróns Bemerkung dazu, dass die Sphinx keineswegs der Standard war, kam wohl an- Rúnar nickte -auch wenn der Falke noch immer sicher war, dass Rúnar keine wirkliche Vorstellung davon hatte, wie übel die Dinge für…nun für eine Person wie ihn werden konnten.
°Und was genau meinst du damit?...°
Fragte er sich kurz selbst, ehe der Gedanke bereits weg war.
Am Ende seiner Geschichte flossen bei Rúnar die Tränen – mehr noch wie bei ihm selbst, auch wenn Tarón nur noch erhaschte, wie sein Gegenüber die seinen schnell abwischte.
Bei Tarón reichte es am Schluss nur für die eine, die herabperlte und eine feuchte Spur auf seiner rechten Wange hinterließ. Vielleicht fand er einfach keine weiteren mehr in sich. Bereits am Strand von Lilanja hatten sie sich mit dem Meer vereint und auf dem namenlosen Strand, an den er sich mit Calwah nach der Katastrophe gerettet hatte – als er verstand was geschehen war und die Hoffnung darauf etwas von seinem Leben retten zu können anstelle seiner Freunde begrub.
Seine Augen flackerten zu der Bewegung, als Rúnar die Pistole von ihm wegzog. Ein amüsiertes und doch leer klingendes Aufglucksen, als er ihn mit geneigtem Kopf ansah.
„Du machst dir wohl Sorge, eh?“
Vielleicht ja zu Recht…an diesem Abend wusste er offenbar nicht wirklich was er tat…oder was er redete. Auch wenn er im Allgemeinen nicht der Typ dafür war einfach aufzugeben – Schuld und Schmerz hin oder her. Er streckte seine Hand jedoch nicht nach der Waffe aus. Vielleicht war sie aktuell bei Rúnar besser aufgehoben.
Er sah ihn weiter an, als die Worte unbeholfen aus Rúnars Mund stolperten. Es tat ihm leid…ja – das sah Tarón. Das Mitleid, das er gesucht hatte, hatte er endgültig gefunden Das Urteil war gefällt, auch wenn der Blonde es nicht aussprach. Und in Tarón löste sich ein Knoten. Offenbar war Rúnar immer noch gewillt sich mit ihm abzugeben. Sah kein absolutes Monstrum in ihm.
Bei den nächsten Worten des Blassen zog Tarón jedoch die Stirn in Falten, starrte irritiert, dann misstrauisch auf Rúnars ausgebreitete Arme. Schließlich lachte er leise.
„Scheiße, du willst mich doch verarschen!“
Er nahm die Flasche Rum, schwenkte den kläglichen Rest, der in ihr verblieben war und spülte ihn kurzentschlossen seine Kehle hinab. Sein Blick – überlegend, offenbar mehr schlecht als recht analysierend ob Rúnar ihn einfach auf den Arm (haha) nehmen wollte oder das etwa ernst meinte – glitt noch einmal über seinen Freund, dann durch den Raum, ehe er wieder bei dem Blonden ankam.
Gefundenes Fressen auf einem anderen Schiff…oh ja.
Tarón grinste ihn an, ließ die Flasche krachend auf den Tisch aufkommen und lehnte sich in die Bewegung
„Nein.“
Ehe er sich aufrichtete und aufstand (und dabei leicht schwankte).
„Aber ich brauch ne Zigarette!“ Er linste zu den Musikern hinüber.
„Und ich bekomm von dem Gedudel langsam Kopfschmerzen. Komm…sehen wir nach, was die Wellen machen!“
Und damit machte er sich auf den Weg nach draußen. Dabei nicht über irgendwen in der Taverne zu stolpern stellte sich dabei als schwerer heraus, als er vorausberechnet hatte. Irgendwie schien ihm ständig jemand in den Weg zu taumeln. Doch ein gewinnendes Lächeln hier, ein aus dem Weg geschobener Körper da und er erreichte den Ausgang doch noch, ohne eine Kneipenschlägerei auszulösen.
Draußen traf ihn die Kühle Nachtluft wie ein Kanonenschuss. Schwankend blieb er stehen und schloss kurz die Augen, um durchzuatmen und das Drehen etwas unter Kontrolle zu bringen.
„Verdammte scheiße, Rúni…du hast mich fast die ganze Flasche trinken lassen…“
Und jetzt merkte er das wirklich, denn obwohl er einiges vertrug trieb die Kälte ihm den Alkohol in den Schädel.
„Ach…wen interessierts… Wo ist der verfluchte Tabak…ah!“
Umständlich fummelte er das trockene Kraut hervor und drehte sich genauso ungeschickt eine krumme Zigarette.
Allein Taróns Blick wirkte schon seltsam zweifelnd, nachdem ihm Runar die Umarmung angeboten hatte. Seine Worte stießen ihn vollends vor den Kopf.
Ob Rúnar ihn verarschen wollte? Rúnar senkte die Arme, blinzelte.
Sein Kopf war für einen Moment einfach nur blank.
Ein einfaches, 'Nein, danke', hätte auch gereicht. Er war aber immer noch zu verblüfft um etwas dazu zu sagen.
Das 'nein' kam dann zwar auch noch, allerdings mit Nachdruck -- nachdem Tarón noch den Rest der Rumflasche ausgetrunken hatte und Rúnar zusammenzuckte, als der andere sie auf den Tisch knallte.
Das mit den Kopfschmerzen konnte Rúnar nachvollziehen. (Noch hatte er keine, morgen würde er die vermutlich haben. Das lag dann aber nicht an der Musik.) Er überlegte kurz, ob er Taróns Gestik und den Ton seines 'Nein' nachahmen sollte, einfach aus Trotz -- und wahrscheinlich weil er betrunken war -- aber der Gedanke an einen ruhigen Moment an der frischen Luft war verlockender.
Rúnar stand also ebenfalls auf, griff sich die Waffe vom Tisch -- ihre leeren Gläser konnten sie getrost dort stehen lassen, die Pistole liegen zu lassen wäre allerdings dumm. Entweder sie wurde missbraucht oder gestohlen. Letzteres würde wahrscheinlich im besonderen Tarón unglücklich machen und ersteres im besonderen Rúnar. Wenn ihr Tisch danach von jemand anderem eingenommen worden wäre, dann hatten sie eben Pech gehabt. Es war eigentlich ohnehin an der Zeit zurück zur Sphinx zu gehen -- was Rúnar nicht zuletzt daran bemerkte, dass Tarón schon nicht mehr gerade gehen konnte. Er folgte ihm zum Ausgang und murmelte immer wieder ein, "Verzeihung -- Entschuldigung -- Verzeihung", wenn Tarón jemanden anrempelte oder irritierte.
Rúnar ließ die Tür hinter sich zufallen. Trotz dass es kühl war, hüllte die Nacht ihn angenehm ein, in die Dunkelheit und das Zirpen von Zikaden und dem Geräusch der Wellen.
Er hörte Tarón tief durchatmen, stellte sich direkt neben ihn und richtete seinen Blick auf die Wellen, die in ihren Gischtspitzen das spärliche Licht von den Tavernenfenstern einfingen.
Rúnar wusste genau, warum Tarón ihm dann vorwarf, dass er ihn die ganze Flasche allein hatte trinken lassen. Er nahm es aber nicht als Vorwurf auf und Tarón war es -- seinen darauffolgenden Worten nach zu urteilen -- auch ziemlich egal. Rúnar spürte selbst, wie ihm der Alkohol nun zu Kopf stieg. Allerdings hatte er keine ganze Flasche Rum allein getrunken. Götter, das war wirklich eine ordentliche Menge. "Nächstes Mal halte ich dich frühzeitig davon ab", sagte er. Mit diesen Worte reichte er Tarón die Pistole. Nächstes Mal hätte Tarón vermutlich auch nicht das Bedürfnis so viel zu trinken. Immerhin schien dies ein Symptom seiner Offenheit was seine Vergangenheit anging gewesen zu sein.
Rúnars Herz machte einen Sprung als er daran dachte, wie viel Vertrauen ihm Tarón damit geschenkt hatte. Vor allem ihm, dem naiven, unverdorbenen Rúnar, der das Leben noch nicht in all seinen grausamen Facetten kennengelernt hatte. Und der gerade erst schmerzhaft lernen musste, dass er nicht so resilient war, wie er gedacht hatte. Vor allem im Vergleich zu der Resilienz Taróns. Rúnars Mundwinkel zuckte kurz nach oben, als er daran dachte, dass Tarón ihn verantwortungsbewusst beiseite genommen hatte und sich um sein Wohlbefinden gesorgt hatte, nur damit sie beide in Dingen herumgewfuhrwerkt hatten, die man besser in Ruhe ließ -- und letztendlich durfte Rúnar wahrscheinlich den Verantwortungsbewussten spielen und dafür sorgen, dass Tarón später heil bei seiner Hängematte auf der Sphinx ankam.
Er beobachtete Tarón dabei, wie dieser sich -- seinem Zustand geschuldet etwas ungeschickt -- eine Zigarette drehte. Dann fragte er: "Darf ich 'nen Zug?"
Das Lachen rumpelte tief durch Taróns Brustkorb, als Rúnar zusagte ihn das nächste Mal rechtzeitig davon abhalten zu wollen so viel zu trinken.
„Nächstes Mal…“ er wandte sich ihm zu und grinste verschmitzt.
„… trinkst du einfach richtig mit!“
Sein Blick senkte sich - eine leichte zickzack Linie beschreibend – auf die dargereichte Pistole.
„Ah, da ist sie hin! Sehr gut Rúnar! Gut aufgepasst, danke!“ Er streckte die Hand nach dem Ding aus, griff danach und verharrt noch kurz, „die hätte ich tatsächlich fast vergessen…“ ehe er sie aus Rúnars Hand nahm.
Das stimmte nicht – er hatte eher darauf vertraut, dass Rúnar sich darum kümmern würde, nachdem er sie schon halb an sich genommen hatte. Aber die Aussage kam ihm besser vor.
Die blauen Augen richteten sich auf Rúnars Gesicht , auch wenn Taróns Blick ein wenig schwankte, als wären sie schon wieder an Board der Sphinx. Überrascht zog er die Brauen hoch, dann lachte er, nachdem er selbst den ersten Zug des krummen traurigen Dings in seinem Mund genommen hatte.
„Oho, du rauchst? Nun…aber klar…ich muss eh mal pissen…“ Den Rauch ausblasend reichte er die „Zigarette“ an Rúnar… und wuschelte diesem in einem plötzlichen Affekt durch die blonden Haare, beließ die Hand einen Moment in den feinen Locken, während sein Blick sich diesmal doch auf ihn fokussierte.
„Danke, Rúnar…fürs Zuhören…“
Dann atmete er tief ein, löste die Berührung und wandte sich fast auf der Stelle um – was er bereute, denn das brachte ihn fast aus dem Tritt und er musste sich kurz an der Wand der Taverne abstützen.
„So! Nun aber!“
Seine Augen wanderten kurz über die Landschaft, ehe er sich für das angrenzende Stückchen „Wald“ entschied, auch wenn dieser Begriff für die kleine Ansammlung von Bäumen und Gesträuch wohl etwas hoch gegriffen war. Aber es war zumindest abgelegener und wohl doch etwas angebrachter, als seinen Schwanz gleich vor der Tavernentür rauszuholen, um das Bier wegzubringen.
Während er sich – sich vorsichtshalber mit der Rechten an einen der Bäume abstützend – erleichterte durchmaß sein Blick erneut die Dunkelheit und blieb schließlich an der fast malerischen Kulisse des Strandes hinter dem „Wäldchen“ hängen. Dieser Teil des Strandes lag in eine andere Richtung als die Sphinx und schien damit auch generell weit weniger frequentiert zu werden.
Also beschloss er -nachdem alles wieder eingepackt war, was eingepackt gehörte -kurzerhand sich diesen im Mondlicht fast leuchtenden Strand anzusehen. Dort würde er hoffentlich auch endlich das Gedudel der Musik nicht mehr hören müssen, denn das hatte ihn zumindest noch bis zu den Bäumen verfolgt. Schon ein paar Meter durch das Gestrüpp getaumelt kam ihm Rúnar jedoch wieder in den Sinn. Den konnte er ja nun nicht einfach so stehen lassen.
Sein Pfiff klang klar und deutlich, was er angesichts seiner Lage fast selbst erstaunlich fand.
„Ey, Rúni!“ rief er den anderen. Das würde wohl reichen, oder? Strand, genau! Da wollte er hin! Also machte er sich wieder auf den Weg.
Rúnar zog die Augenbrauen hoch. Richtig mittrinken ... wohl eher nicht. Er hatte nicht immer eine gute Impulskontrolle, aber die Alkoholgrenzen wurden nicht überschritten. Er erinnerte sich ungern an die Nacht in der Jón, sein Bruder und er bis zum Vormittag abwechselnd über der Toilette hingen.
Rúnar fing Taróns Blick ein -- oder versuchte es zumindest, denn der andere konnte wohl auch nicht mehr gerade schauen -- ließ sich die Pistole abnehmen und nahm die Zigarette entgegen. Dann fokussierte sich Taróns Blick doch noch und Rúnar stockte kurz der Atem, als Tarón ihm auch noch durch die Haare wuschelte. Wieder spürte Rúnar noch den Effekt seiner Berührung, als er seine Hand schon wieder zurückgezogen hatte. "Gern geschehen", sagte Rúnar, und hoffte, er hatte es ordentlich über die Lippen gebracht. Dann ging Tarón weg um sich zu erleichtern.
Rúnar zog an der Zigarette, sog den Rauch in seine Lungen -- hustete ihn sofort wieder aus. "Boah ... das ist ja widerlich." Er war kein Raucher. Er hatte noch nie geraucht. "Wer macht denn sowas freiwillig?"
Er behielt die Zigarette in der Hand -- die Spitze glomm rot und ein Rauchfaden stieg von ihr empor.
Was brauchte Tarón so lange? (Nun ja, er war eben betrunken.)
Rúnar drehte sich um zu der Baumgruppe, kniff die Augen zusammen, weil er Tarón nicht mehr sehen konnte. Verdammt -- was hatte er sich auch dabei gedacht, einen Betrunkenen allein zu lassen.
Dann erklang ein Pfiff und Tarón rief nach ihm. Den Göttern sei dank -- Panik nochmal abgewandt.
Was hatte er vor? Das Schiff war in die andere Richtung. Er hatte gesagt, er wolle sich die Wellen anschauen, aber Rúnar hatte das eher im übertragenen Sinne verstanden -- es war wohl wörtlich gemeint gewesen.
Rúnar ging mit zügigen Schritten in die Richtung, aus der Taróns Stimme gekommen war. So weit war er auch noch nicht gekommen und Rúnar holte ihn schnell ein.
Er hielt ihm die Zigarette hin, die mittlerweile ausgegangen war. "Hier", sagte er und fügte nochmal hinzu, "ist ja widerlich."
Malerisch – das traf es auch beim zweiten Blick ganz gut. Der Mond wurde nur von ein paar langsam vorbeiziehenden Wolken verdeckt und brach immer wieder aus diesen hervor, um den Sand und die Wellen vor Tarón in sanften Schein zu tauchen. Ganz nach seinem Geschmack.
Auch nach all den Jahren, die er nun auf den Welten wandelte, hatte die Faszination des Meeres den Falken nicht verlassen. Das gleichmäßige Rauschen, der Geruch nach Salz und Tang. Es gab nichts Schöneres als das Meer bei Nacht.
Diese Gedanken, dieser Eindruck spiegelte sich auch auf Taróns Gesicht wider, der den Strand in Richtung Wellengrenze entlangschlenderte und dabei ungleichmäßige Fußabdrücke im Sand hinterließ.
Als er bei einer Reihe vom Meer rundgeschliffenen Felsen ankam, holte Rúnar ihn ein. Dieser gab ihm die Zigarette zurück – kam angerührt, aber noch immer so kläglich, wie zuvor…und mittlerweile erloschen.
Tarón lachte leise, nahm das krumme Ding und Rúnars Kommentar gleichermaßen an.
„Wusste du bist kein Raucher! Passt auch nicht zu dir….man man, was hast du denn mit dem armen Ding gemacht?“
Fragte er nun, ganz so, als hätte die Zigarette je besser ausgesehen und Rúnar hätte sie erst in dieses…traurige etwas verwandelt. Er schüttelte den Kopf und ließ sie vorerst in der Manteltasche verschwinden, während er sich nun dem Meer zuwandte.
„Ich liebe solche Nächte…“
Murmelte er und als er sich nun wieder Rúnar zudrehte stieß er dabei gegen einen der kleineren Steine. Ins Taumeln geraten griff er wohl automatisch zu – und erwischte Rúnar am Arm…und den zog er nun mit sich, als er sich recht ungalant auf den Felsen hinter ihm „setzte“.
„Scheiße…sorry Rúni…“
Rúnar bemerkte Taróns Blick. Er blickte auf die See wie auf eine Geliebte. Das war das zweite Mal an diesem Abend, dass er diesen Ausdruck auf Taróns Gesicht sah und wieder erwischte er sich dabei, wie er sich vorstelle, dass Tarón ihn so ansehen würde. Doch die Vorstellung verdrängte Rúnar schnell wieder und löste sie mit einem anderen Gefühl ab: Neid.
Für ihn war die See nie etwas gewesen, das man lieben konnte. Nicht vollends. Die See war sublim. Sie war schön und bedrohlich zugleich. Für Rúnar war sie meist etwas gewesen, das man bezwingen musste, weil sie und alles in ihr einen sonst gnadenlos verschlang. Irgendwann. Irgendwann wollte er das Meer so ansehen können, wie Tarón es ansah.
Rúnar grinste in sich hinein, sah auf den nassen Sand zu seinen Füßen. Es hätte ihn auch gewundert wenn Tarón ihn für einen Raucher gehalten hätte. Er sparte es sich, Tarón darauf hinzuweisen, dass er ja die Zigarette wohl so zugerichtet hatte.
Er steckte die Hände in seine Manteltaschen, sah um sich als Tarón über die Nacht sprach. Ja, es hatte etwas. Ein Aspekt davon war vermutlich, dass Rúnar nichts mehr von der Apathie spürte, die er zuvor nich mit sich herumgeschleppt hatte. Teil davon war dem Alkohol geschuldet, der stattdessen einen angenehmen Schwindel durch seinen Kopf sandte. Ein anderer Teil davon war Tarón geschuldet, einfach ... weil er mit Rúnar gerade diesen Strand entlang lief und Rúnars Herz dazu brachte, schneller zu schlagen, wenn er ihn ansah.
"Ich--" Das 'auch' blieb ihm im Hals stecken, als Tarón ihn plötzlich am Arm packte. Rúnar schaffte es nicht rechtzeitig, seine Hände aus den Taschen zu nehmen um das Gewicht, das ihn zur Seite zog, auszubalancieren und seine Hände dämpften seinen Fall so: Die eine auf dem Felsen, die andere auf Taróns Brust. Sein eines Knie wäre um Haaresbreite in Taróns Schritt gelandet, stattdessen war es unsanft auf dem Felsen aufgekommen.
Tarón entschuldigte sich. Rúnar konnte seinen Atem auf seiner Wange spüren. Er brauchte einen Moment -- er war zu beschäftigt damit zu verarbeiten wie nah er Tarón gerade war.
"Macht nichts, Tarón", murmelte er. Sein Atem wurde etwas schwerer -- von der Anstrengung sich oben zu halten, von der Nähe, von dem Gefühl seiner Hand unter Taróns Schlüsselbein, dem Gedanken, wie es sich unter den paar Lagen Stoff anfühlen würde.
Er sollte aufstehen.
Jetzt.
Jetzt!
Aber alles krachte gerade auf ihn ein: die Atmosphäre, die Situation, ihr vertrauensvolles Gespräch von vorhin, die Wirkung des Alkohols und ganz einfache, banale Lust. Er sagte: "Ach, was soll's", und griff in den Kragen von Taróns Mantel, zog ihn an sich und küsste ihn.
Taróns leises Lachen angesichts der bizarren Situation (Angesichts seines Alkoholpegels wohl eher!) wurde abrupt erstickt als Rúnars Lippen plötzlich die seinen berührten -weich, wie die einer Frau, fordernd, leidenschaftlich.
Tarón – viel zu verblüfft davon, was geschah – unternahm für einen Moment garnichts, erwiderte den Kuss nicht, ließ ihn jedoch zu, als sein Verstand versuchte zu der Situation aufzuholen und sein verklärter Geist sich durch den Dunst kämpfte, den der Rum in seinem Kopf hinterlassen hatte.
Und trotz seines Zustandes kamen die Puzzlestücke nun zusammen, machte es „klick klick“ in Taróns umwölkten Schädel.
Das war es also – die Gesten und die Mimiken des Abends, die Worte und ihre Tonlage setzten sich zu einem weiteren Bild zusammen und fügten sich zu dem, was er zuvor schon beobachtet hatte.
Und jetzt reagierte auch sein Körper wieder. Taróns Rechte schoss hoch- eine umgekehrte Analogie zu dem Sturzflug des Vogels, mit dem man ihn oft verglich – und fasste Rúnars Kinn, während er ihn mit dem linken Unterarm ein Stück von sich schob. Jedoch nicht weit – die rechte hielt ihn noch immer so nah, das Rúnar Taróns Worte über seine eigenen Lippen zu fließen spüren glaubte.
Der Falke sah ihm in die Augen – Blau in Grau. Das Lächeln, dass seinen Mund kräuselte hatte etwas raubtierhaftes – zugleich etwas Grausames.
„So ist das also…“
Die Worte waren ein raues tiefes Branden der Wellen.
„Hm…
Deshalb, ja? Hast du ihn deshalb bei deiner Frau nicht hochgekriegt?...“
In Taróns Stimme klang etwas Gefährliches mit. Er nahm seinen Kopf zurück, betrachtete Rúnar einen Moment mit dem Ausdruck eines Falken.
Und irgendetwas in ihm erwachte. Vielleicht war es seine Art des Monsters, das wohl tief in jedem Mann lauerte. Ein Biest, rasend und düster…und voller Verlangen. Rúnars fein geschnittenes Kinn in seiner Hand…rau ließ er den Daumen über diese perfekten Lippen gleiten, hielt ihn nun nurnoch mit der Rechten wo er war, während seine Linke sich senkte, zwischen sie kroch und beinahe sanft über den Stoff von Rúnars Schritt glitt.
„Und wie sieht es jetzt aus?“
Taróns Stimme – ohnehin schon tief – schien noch eine Octave zu sinken und ein Knurren zu beinhalten.
Seine Hand in Rúnars Schritt verschwand – er nutzt sie um sich etwas aufzurichten – dem anderen entgegen. Seine Bartstoppel strichen an Rúnars Wange entlang, als er den Mund zu dessen Ohr führte, den Atem heiß und seltsam schwer in seiner eigenen Brust gegen die bleiche haut schlagend und über das Läppchen streichend.
„Willst du das Rúni…? Mich…?“
Seine Lippen streiften sein Ohr, hinunter zum Hals, wieder hinauf.
Und Tarón wurde sich klar, dass er selbst bereits hart, wie der Fels in seinem Rücken war.
Gegen den stemmte sich nun seine Hand, als er Rúnars Körper herumzwang, sich selbst über ihn wälzte – die Hand endlich von seinem Gesicht lösend – und ihn auf den Felsen pinnte. Der Anblick des anderen unter ihm war wie Alkohol im glühenden Feuer der Bestie. Ihr Verlangen tat beinahe weh.
'O-oh', schoss es durch Rúnars Kopf. Und auch immernoch etwas, das ihn drängte, jetzt sofort wieder aufzustehen. Etwas das ihn drängte, den Kuss zu vertiefen. Der Gedanke, dass er das ganze Vertrauen, dass sie an Land gezogen hatten in diesem Kuss wieder versenkte. Dass Tarón kein Interesse an Männern hatte. Dass Rúnar ihn an sich ziehen wollte. Dass er ihn auf tausend verschiedene Arten, an tausend verschiedenen Stellen an seinem Körper spüren wollte. Dass er es gründlich verschissen hatte. Dass er--
Tarón nahm ihm jegliche Entscheidung ab. Plötzlich waren seine Finger an Rúnars Kinn und er hatte Rúnar ein kleines Stück von sich weggeschoben. Rúnar ließ seinen Griff an Taróns Kragen locker, aber nicht los.
Sein Herz machte einen Sprung -- ihm graute vor Taróns Reaktion. Aber im nächsten Moment vergaß er wieder, den Teufel an die Wand zu malen, als der Atem des anderen auf seinen Lippen seine Sinne benebelte. Taróns cheshire-artiges Lächeln ... sein eindringlicher Blick ... seine tiefe, tiefe Stimme. Rúnar stockte kurz der Atem, dann stieß er ihn mit einem Seufzen aus. Ja, so war es.
Und das mit Ásta ... "Nein. Also, ja. Also--" Rúnar wusste wieder nicht wohin mit seinen Worten, als Tarón ihn betrachtete -- eindringlich, neugierig und scharf, wie der Falke der er war.
Rúnar schloss die Augen, als Taróns Finger über seine Lippen glitt -- wieder stockte ihm der Atem als er Taróns andere Hand in seinem Schritt fühlte. Wo Taróns Stimme dunkel und rau war, war Rúnars sanft und atemlos: "Das fragst du noch?"
Als Tarón sich zu ihm lehnte, löste Rúnar seine Hand von dessen Kragen und seine Finger legten sich sanft, fast unauffällig auf Taróns Hinterkopf. Er lehnte seine Wange in Taróns Hand, ein Schauer, ein Zittern fuhr einmal durch seinen ganzen Körper, als Taróns Atem über sein Ohr glitt. Bei dessen Worten krallten seine Finger sich in Taróns Haare und er antwortete, so fest wie es mit fehlendem Atem möglich war: "Ich will dich."
Rúnar stieß einen weiteren Atemzug aus, als Taróns Lippen seinen Hals entlang wanderten. Die kühle Meeresbrise auf der feuchten Haut jagten einen weiteren Schauer durch ihn.
Tarón stützte sich ab und Rúnar nahm seine Hand aus Taróns Haaren, umklammerte stattdessen seine Schulter, damit er sich leichter umdrehen ließ.
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Taróns Kopf lehnte mit der Stirn zwischen Rúnars Schulterblättern, als er wieder zur Besinnung kam, zu Atem. Keuchend rollte er sich neben ihm auf den Rücken.
„Das war…der Wahnsinn...“
Erzählte er den Sternen über sich, ehe sein Blick zu Rúnar glitt.
„Bist du okay?“
Auf den letzten Metern dieses Sprints hatte er keinerlei Rücksicht mehr genommen, Rúnars Körper in völliger Vergessenheit benutzt, als hinge sein Leben von der Erlösung ab, die er ihm gegeben hatte.
[...]
Rúnars Brust hob und senkte sich noch immer mit schweren Atemzügen. Eine kühle Brise streifte seine schwitzige Haut und er erschauderte ein wenig. "War es", bestätigte er. Auf mehr als nur eine Art.
Er sah Tarón an. Dessen ebenfalls verschwitzten, wohlgeformten Körper. Als sein Blick bei Taróns Augen ankam, lächelte Rúnar und nickte. Er war okay. Und ein etwas suggestiver Blick folgte.
Dann ließ er seine Augen zum Meer schweifen -- wieder zurück zu Tarón. Er zog die Augenbrauen hoch. "Kurzes Bad?" Sand und andere Dinge loswerden.
„Götter, ich bin total fertig…“ murmelte der Falke sachte, während sich sein Herzschlag langsam wieder normalisierte und die kühle Luft das Fieber mit sich davontrug. Rúnar Nicken erwiderte er mit einem seichten Lächeln seinerseits.
Noch immer fühlte sich sein Kopf umwölkt an – nun jedoch wieder mehr vom Alkohol und nicht mehr vorn dem Wahnsinn, der ihn befallen hatte. Und sein Körper lag angenehm schwer auf dem Felsen.
Baden?...Er sah Rúnar an, dann wälzte er sich mit einem Seufzen herum und entledigte sich mit den Füßen seiner Stiefel. Gefolgt von der dümmlich rumhängenden Hose und seinen Socken.
„Bad.“ Bestätigte er. Das würde seinem Kopf vielleicht ganz guttun.
Was zum Henker war das gewesen?
Während er sich aufrichtete musterte er Rúnar, dann dessen zerfetztes Hemd…und lachte leise.
„Scheiße du siehst aus, als hätte man dich verprügelt…“
Seine Brauen zogen sich nachdenklich zusammen
„Was vielleicht garnicht so schlecht ist…“
Rúnar lächelte ein wenig in sich hinein. Hätte ihm jemand vor nur ein paar Stunden erzählt, was den Abend noch passieren würde, hätte er wahrscheinlich herzlich gelacht und wäre weiter seiner Wege gegangen. (Er wusste, dass dies bald in irgendeiner seltsamen Art und Weise an ihm nagen würde -- er wusste nur noch nicht, wann.)
Er sah aus als hätte man ihn verprügelt? Rúnar spiegelte Taróns Gesichtsausdruck. Etwas mehr Verwirrung lag vielleicht noch mit darin. Er sah an sich herunter. Sein kaputtes Hemd, das noch halb an ihm dran hing, zog er ganz aus, hob es kurz an einem Finger hoch um es resigniert anzusehen, und legte es dann zur Seite. Und hier -- während er begann, sich vom Rest seiner Kleidung auch noch vollends zu entledigen -- entschied sich sein Kopf auch schon dafür, ihn an der ganzen Sache nagen zu lassen.
Er hatte keine Nähsachen. Er müsste jemand anderen fragen, ob er sich Nähsachen leihen konnte. Vielleicht würde derjenige ja gar nicht genauer nachfragen. (Vermutlich würde er Gregory fragen. Der hatte sicher Nähzeug und er stellte generell nicht allzu viele Fragen.) Und wenn doch jemand fragen würde, was würden sie antworten? Würden sie die Wahrheit sagen? Oder sich eine Ausrede einfallen lassen? Was war das überhaupt gewesen? In einem Moment saßen sie noch betrunken und weinend in der Taverne und im nächsten trieben sie es auf irgendeinem Felsen am Strand. War das für Tarón nur dieses eine Mal gewesen? War es, weil er betrunken war? Sollte Rúnar ihm sagen, dass er vielleicht, möglicherweise, unter Umständen, ziemlich sicher Gefühle für ihn hatte? Aber fühlte er sich vielleicht nur so, weil er ebenfalls betrunken war?
"Sehe ich noch anderweitig vermöbelt aus?" Er konnte sich vorstellen wie und wo. Und was zur Hölle meinte Tarón mit, dass das wahrscheinlich gar nicht so schlecht war? Aber darüber musste Rúnar dann nicht weiter nachdenken. Sie würden sich eine Ausrede einfallen lassen. So war das also. War vielleicht auch gar nicht so schlecht. Solange seine Gedankenbrühe so seltsam trüb war. "Was sagen wir den anderen?"
„Auf keinen Fall sagen wir was hier wirklich passiert ist!“
Diese Antwort kam sogar für seine eigenen Ohren zu schnell und zu heftig aus ihm heraus.
Er seufzte, rieb sich über das Gesicht…und langsam sickerte die Erkenntnis darüber was sie eben getan, wozu er sich hatte hinreißen lassen, wirklich in seinen Geist.
„Das war einer der verrücktesten Abende meines Lebens…erst schütten wir uns gegenseitig das Herz aus und erzählen uns unsere Lebensgeschichten und dann…“
Er sah Rúnar an – nackt und bleich im Mondlicht, das zerrissene Hemd neben ihm - und wandte den Blick fast beschämt wieder ab.
„…und dann ficke ich nen Typen…wie in aller Welten ist es dazu gekommen? Ok…ok ich bin betrunken…aber…“
Erneut ging seine Hand zu seinem Gesicht, als würde das helfen seine Gedanken beisammen zu halten.
„Wir sagen wir sind in eine Kneipenschlägerei gekommen – ich hab sie verursacht, du hast eingesteckt…“ Er sah zu Rúnar, ließ den Blick flüchtig über die Blessuren gleiten, die er ihm verpasst hatte.
„Scheiße warum auch immer irgendein Kneipenschläger dir Bissmale am Hals und wer weiß noch wo verpassen sollte…“
Das Ganze wäre lustig - wenn es nicht so verdammt ernst wäre.
Und wie ernst es womöglich war, ging ihm selbst nun nach und nach auf, da der Rausch nachließ, der ihn überhaupt erst in diese Lage gebracht hatte – nicht der des Alkohols, sondern der seines eigenen Verlangens. Und nun fühlte er sich als würde er an einem Abgrund stehen – und der in einholende Sturm im Rücken wollte ihn jederzeit hinunter stoßen.
„Was wir hier…getan haben kann auf jeden Fall keiner der anderen erfahren. Darf keiner erfahren.
Leute wie…“
‚Du‘, wollte er sagen - doch stattdessen seufzte er, denn auch er war nun ‚so jemand‘. Er war an dieser Lage mindestens genauso schuld…eher mehr noch als Rúnar. Er wusste was so etwas bedeuten konnte!
„Leute die so...etwas tun... wir wären unseres Lebens nicht mehr froh!“
Und nun sprach er es doch aus – das, was ihm bereits bei ihrem Gespräch in der Taverne durch den Kopf gegangen war, denn Rúnar musste verstehen, wie die Karten lagen. Auch wenn Taron ihm damit weh tat.
„An Board jedes anderen Schiffes als der Sphinx wärst du damit in jedem Fall gefundenes Fressen gewesen. Erst hätten sie dich vergewaltigt und was von dir übrig wäre hätten sie mit durchschnittener Kehle über Board geworfen.“
Das wäre ihm zumindest auf der Hangman passiert. Daran hatte er wenig Zweifel.
„Wir können das keinen wissen lassen. Verstehst du das?“
Und ihm ging noch etwas anderes auf. Er kniff die Augen zusammen, stellte es klar bevor Rúnar nach diesem dummen Gefühl der Unzulänglichkeit greifen und es womöglich darauf schieben konnte.
„Nicht weil du zu schwach für dieses Leben bist oder so ein Mist...scheiße, mit mir hätten sie hiernach das gleiche gemacht...vielleicht hätten sie meinen Arsch verschont und mir dafür den Schwanz abgeschnitten...wie auch immer: Männer die Männer ficken...das ist auf einem Schiff wie ein Anker am Fuß!“
Oder ein Strick um den Hals. Machte keinen Unterschied.
„Was hab ich mir nur dabei gedacht?“
Garnichts, Tarón…garnichts hast du gedacht. Das alles hatte rein garnichts mit denken zu tun. Und nun war es zu spät.
„Und es hat mir gefallen…“
Er lachte leise auf – und es klang fast ein wenig hysterisch.
„Oh scheiße, hat es mir gefallen…
mein Kopf....
Das war ein Fehler…ein verdammt dummer Fehler.
und doch... wenn ich gewusst hätte wie es sein kann mit einem anderen Kerl...
Ich hätte da niemals auch nur dran gedacht, in keiner Fantasie in keinem Traum und da kommst du und dann passiert...das hier.“
Wieder lachte er.
„Götter, ich bin völlig durcheinander...“
Diesmal rieb die Hand stärker durch sein Gesicht, als könne er das, was geschehen war wie einen Flecken wegreiben. Sein Blick glitt zu Rúnar und er atmete durch.
„Das war kein Vorwurf Rúni...ich...ich weiß nur nicht was...ich weiß garnichts!“
Und das war für jemandem wie ihn ein verdammt beschissenes Gefühl.
Er atmete noch einmal durch, versuchte seinen Kopf dazu zu zwingen zu funktionieren.
„Das wird nie jemand außer uns erfahren. Verspricht mir das! Wir waren saufen, wir sind in eine Kellerei geraten und dich hat es mehr erwischt als mich - obwohl ich sie vom Zaun gebrochen habe... und danach…keine Ahnung haben wir irgendwelche Huren aufgegabelt oder weiß der Geier. Dann haben wir was für die Bisse…scheiße, Rúnar es tut mir leid…“
Rúnar zuckte ein wenig zusammen -- starrte Tarón an, die Schultern immer noch ein wenig hochgezogen. Taróns Monolog hielten Rúnar für ein paar Momente davon ab, sich zu sehr in seinen eigenen zu verlieren.
Seine Augenbrauen hoben sich. '... einen Typen', das hörte sich an, als wäre es davor noch nie passiert. Das wäre absurd.
Es war offensichtlich, wie verwirrt und aufgewühlt Tarón über die ganze Situation war -- er war, wie Rúnar selbst, gerade erst zur Besinnung gekommen, was eigentlich passiert war. Doch seine Gedankengänge gingen wohl einen ganz anderen Weg als Rúnars: einen sehr steilen Abhang hinab -- und Rúnar konnte nicht sagen, ob Tarón ihn gerade wider Willen mitriss oder ob Rúnar einfach vergeblich nach ihm zu greifen versuchen wollte. Vielleicht ja beides. Was auch immer es war, es war verdammt unangenehm.
Kneipenschlägerei, gute Idee. Tarón hatte sie verursacht, Rúnar hatte eingesteckt. Genau so fühlten sich Taróns Worte gerade auch an.
Leute wie -- wer? Rúnar zog abermals die Augenbrauen hoch. Sag jetzt eine falsche Sache--
Aber was dann? Rúnar konnte nicht so tun als wäre er ein Verfechter der Ehre ... seiner Leute. Er war, was das anging, mehr ein erbärmlicher Knappe als ein edler Ritter.
Und dann sagte Tarón eine falsche Sache. Und Rúnar ballte kurz die Fäuste -- aber tat nichts weiter. Es war nicht allzu lange her, dass er genau so gedacht hatte wie Tarón. Rúnars Selbstwertgefühl mit dieser Seite von sich stand noch immer auf eine enorm bröckeligen Fassade und Tarón hatte gerade mit der Faust hineingeschlagen und einen ordentlichen Riss verursacht.
Rúnar ließ nicht einsickern, was Tarón darüber sagte, was sie mit Männern wie ihnen auf Piratenschiffen taten. (Und sicherlich würde es später zurückkommen um ihn heimzusuchen.) Trotzdem spielten sich die Szenarien vor seinem inneren Auge ab und kurz begann das Blut in seinen Ohren zu rauschen. Er legte sich die Hand aufs Herz und atmete tief ein. Zum einen hatte Tarón es eben selbst gesagt -- auf jedem anderen Schiff als der Sphinx, aber sie waren nun mal Teil der Sphinx und nicht irgendeines anderen Schiffes. Zum anderen fragte sich Rúnar, ob Tarón nicht derjenige war, der sich selbst gerade einen Anker an den Fuß band.
Durcheinander, kein Vorwurf, es tat ihm leid. Rúnar hatte nicht erwartet, dass ihn noch irgendwas heute überraschen könnte. Wie Tarón vorhin die Kontrolle verloren hatte, das war die eine Sache gewesen ... und jetzt, als es gerade so wirkte, als käme Tarón wieder in einen Zustand, in dem er die Kontrolle zurück erlangte, brannten ihm diesmal die mentalen Sicherung durch.
Rúnar streckte seine Hand nach Tarón aus, griff dessen Oberarm. Keine liebvolle Geste oder derartiges, einfach etwas um den anderen zu erden. "Tarón", sagte er, ruhig, aber mit genug Nachdruck. "Es muss dir nicht leid tun." (Was nur halb stimmte. Was passiert war sollte ihm nicht leid tun, nur das was, er sich oder ihnen beiden gerade einredete.) "Niemand wird etwas erfahren."
Tarón Valur ist 35 Jahre alt und wurde unter den Sternen der ersten Welt auf der Insel Chikarn geboren. Dieser mutige Pirat reist als Quartiermeister durch die Meere der Inselwelten und plünderte mit der Crew bereits auf 51 Streifzügen in 16 Tavernen.
Habseligkeiten
Säbel, zwei Pistolen, Pulverhorn, Dolch, Schwarze Haarsträhne, Geldbeutel, Echse „Calwah“
Körperliche Verfassung
Risse und Schürfwunden an den Händen
Verkatert
Rúnar wusste von Anfang an -- schon als er Tarón ergriffen hatte -- dass er keine Chance gegen ihn haben würde. Trotzdem hielt er kurz gegen, aber gab schnell auf -- vor allem, weil er sich gerade noch nicht ganz bei Kräften fühlte -- erwiderte jedoch kurz Taróns raubtierhaftes Grinsen, ehe dieser aus seinem Bildfeld verschwand, die Wasseroberfläche darin auftauchte, und er im nächsten Moment dastand, auf die Wellen starrend, in Taróns ... Umarmung. (Doch den letzten Gedanken verwarf er wieder. Sie hatten nur etwas rumgealbert. Sie hatten eben klar gemacht, dass die letzte halbe Stunde etwas gewesen war, dass sie wohl besser schnell wieder vergaßen.)
Rúnar hatte den Impuls sich etwas gegen Taróns Griff zu stemmen, um deutlich zu machen, dass er losgelassen werden wollte. Aber er tat es nicht. Eigentlich ... wollte er es nicht. Und selbst wenn Tarón ihn nun loslassen würde ... er hatte ihn. Trotzdem.
Und wieder war er ihm so nah, dass Rúnars Körper in ihn der Kühle des Wassers ein wenig wärmte. Und der Blonde wich nicht von ihm – auch wenn Taróns Griff um seine Handgelenke sich mittlerweile gelockert hatte. Dem Falken wurde eines erschreckend bewusst: wenn er sich eingebildet hatte die reine Anziehung wäre mit ihrem Akt erloschen - eine Eintagsfliege, ein schnell sterbendes Glühwürmchen – dann hatte er sich geirrt. Vielleicht aber war der erneute Wunsch Rúnar so nahe zu sein aber auch erst Resultat der zuvor gemachten Erfahrung. Des Augenöffners, der ihm eine Begierde offenbart hatte, die er zuvor nicht einmal vermutet hatte.
Natürlich kannte er Männer, die schlicht sachlich betrachtet attraktiv waren – aber nie hatte er auch nur den leisesten Wunsch verspürt sie auf solch eine Art zu berühren. Wenn er an die anderen Typen auf der Sphinx dachte…nein. Auf keinen Fall.
Aber er hatte auch nicht wirklich Männer wie Rúnar gekannt – auf eine feminine Art zarter als die anderen Typen. War es das? Dass Rúnars Haut sich so zart unter seinen streichenden Fingern auf dessen Unterarm anfühlte? Seine im Vergleich zu ihm so viel schmalere Statur? Zu einem guten Teil war es das Machtgefühl – das wusste er. Unleugbar. Macht über einen anderen Mann – ihn zur vollen Unterwerfung zu bringen. Das hatte er getan – und es war wie ein Rausch gewesen.
Er hatte Frauen genommen – auch hart. Auch ohne jegliche Liebe und aus einem Akt reiner Wollust. Aber auch das war anders gewesen. Berauschend, ja – aber nicht so.
Auch Tarón bewegte sich nicht weg. Lehnte sich sanft gegen Rúnar und ließ die Finger stumm über dessen Unterarme wandern, für einen Moment – den ersten wirklichen Moment und ohne Panik – analysieren, nachdenken, was hier los war.
Auch in den nächsten Momenten konnte Rúnar nicht anders, als einfach da zu stehen, in Taróns ... sanftem? ... Griff? Sein Kopf wiederholte die Worte, die sie eben noch gewechselt hatten und wehrte sich gegen die Vorstellung, gegen das Gefühl wie Tarón ihn gerade berührte -- dieses innerliche Paradox drückte so von beiden Seiten auf ihn ein, dass er sich nun in dieser Stasis befand. Dass ein Teil von ihm sich aus Taróns Armen winden wollte, ein anderer sich an ihn schmiegen wollte.
Sein Gewissen, seine Gefühle, sein ganzes Dasein tickte wie ein Metronom -- das Pendel zwischen Vernunft und Verlangen hin- und herschwingend. Und umso länger er dort stand und fühlte, wie Taróns Finger über seine Haut strichen, umso mehr übertönte das Ticken das Tosen seines Gedankensturms und es blieben diese zwei Dinge übrig. Tick. Tack. Vernunft. Verlangen.
Ordnung. Chaos.
Und dann erwischte er das Metronom im richtigen Moment und drehte sich aus Taróns Armen, wandte sich ihm zu. Auch, wenn seine Hand dabei den Unterarm des anderen ergriffen hatte. Trotzdem.
Ordnung.
Sein Blick wanderte von seiner Berührung Taróns Arm hinauf, seine Schulter, sein Schlüsselbein entlang, sein Hals, seine Lippen, seine Augen ... ob er nicht vielleicht etwas darin sehen konnte, ob der andere nicht vielleicht etwas sagen konnte, das Rúnar helfen würde, das Metronom zu stoppen.
Schließlich entwand sich Rúnar seiner seltsamen Umarmung und Tarón tat nichts, um ihn aufzuhalten, obwohl das kühle Meerwasser nun ein wenig kälter wirkte. Doch Rúnars Hand umschloss noch seinen Unterarm. Tarón sah auf sie, ehe er den Blick hob, selbst spürte, wie Rúnars Augen über ihn wanderten – und in seinem Gesicht nach etwas suchten.
Tarón hatte es gewusst: das Meer machte alles besser. Ihm war noch immer duselig im Kopf, doch das Taumel darin folgte nun dem Takt der Wellen, die ihn schaukelten und beruhigten. Ihn und die Bestie, das Unbekannte in ihm, das Rúnar geweckt hatte. Sie war da – das wusste er nun ganz genau. Sie war aufgetaucht um zu bleiben, geboren aus einem unheiligen Verlangen das sich für ihn noch nicht greifen oder erklären ließ.
Den Kopf ein wenig gesenkt sah er Rúnar von unten her an und lächelte leicht.
„Echt seltsam, oder? Wie das Leben manchmal so spielt…was ist das nur an dir, Rúnar?“
Mit der Hand des Armes, die der andere nicht festhielt strich Tarón nun an dem Unterarm des anderen entlang und hob den Blick.
„Ich nehme an für dich war das alles…weniger neu…oder?“
Weniger überraschend… er war sich verdammt sicher, dass Rúnar…nun…seine „Erfahrung“ mit Männern hatte. Dennoch schien auch er verwirrt. Und Taróns mit dem Meer schwimmender Geist schob die verschwemmten Puzzleteile ein wenig näher zusammen. Erst Taróns - zugegeben völlig hysterische, aber er glaubte noch immer einen Grund dafür zu haben – Reaktion hatte ihn aus dem Tritt gebracht.
Was das an ihm war? Er war doch nur ... es war nichts an ihm. Er war einfach nur ... Rúnar. Oder er versuchte es. Doch ein Teil von ihm kam nicht drum herum, sich etwas berauscht davon zu fühlen, dass jemand wie er -- der behütete, naive Adlige, der zu allem Ja und Amen sagte -- dass er ohne sich auch nur Gedanken darüber gemacht zu haben, genug Wirkungsmacht gehabt hatte um jemandem wie Tarón mit keinerlei Mühe den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
Rúnar atmete tief ein, als Tarón seinen Arm entlang fuhr und mit einem wohligen Schauer stellten sich die feinen Haare auf seinem Arm auf. Ihre Blicke trafen sich -- Rúnar verstand die Frage erst nicht. Weniger neu? Er hob die Augenbrauen und blinzelte. Öffnete den Mund um etwas zu sagen, aber stolperte über seine Worte, bevor er dann einen vollständigen Satz herausbrachte. "Was ... wie meinst du?" Und sobald die Frage draußen war, war Rúnar schon fast klar, was Tarón damit meinte. Die Teile waren gerade dabei, sich zusammenzusetzen, er musste nur nochmal kurz hinsehen, um das ganze Bild zu bekommen.
Tarón beobachtete seine Reaktion – natürlich tat er das. Das war, was er immer tat, worin er wirklich gut war, nicht wahr? Andere Leute beobachten, sie analysieren, Schlüssel ziehen, um Fäden und Teile zu verbinden. So war er – so war er wahrscheinlich schon immer gewesen.
Und so ahnte er was Rúnar so straucheln ließ. Was diese fast wunderbare Verwirrung auf sein Gesicht und in seine Augen rief. Und doch schoben sich auch für den anderen die Teile zusammen – auch das sah der Falke und er lächelte ihn wissend und mit einem Funken Anerkennung an. Sein Nicken war angedeutet – eine kaum sichtbare Bewegung vor der Kulisse der Wellen.
„So, wie du es verstanden hast. Dachtest du ich hab sowas schon öfter gemacht?“
Er klang ein amüsiert.
„Hm…naja, dann habe ich mich fürs erste Mal wohl ganz gut angestellt nehme ich an…?“
Rúnar stand die ganze Zeit, während Tarón sprach, der Mund offen. Er sah auf die Wellen, auf ihre -- fast schon verschlungenen -- Arme, in Taróns Gesicht, wieder auf ihre Arme. "Ganz gut ist vielleicht ein wenig untertrieben", murmelte er. Und dann wandelte sich sein überraschter Gesichtsausdruck zu einem Grinsen und er nickte leicht, zu sich selbst. Auch, wenn man nichts davon bemerkt hatte, es bedeutete, dass Rúnar dem über zehn Jahre älteren, abgebrühten, erfahrenen Seemann etwas voraus hatte -- sein Selbstbewusstsein trug ihn kurz auf Händen, ehe er seine Fassung wiederfand, sich räusperte und einen ernsten Gesichtsausdruck auflegte -- nur um die gewonnene Fassung dann komplett zu verlieren und laut aufzulachen. Nicht schadenfroh oder herablassend, lediglich amüsiert. Worüber genau, das wusste nur der Alkohol, der wohl noch immer durch seine Adern strömte.
Rúnars Worte brachten auch ihn zum Lachen.
„Oho – ein Kompliment. Ich werde noch rot…nicht, dass du davon viel sehen würdest. Es ist verdammt dunkel…“
Sein Blick legte sich wieder auf seine eigene Hand, die Rúnars Arm entlangwanderte – auf und ab…auf und ab.
„Ich bereue es nicht… nicht um seiner selbst willen zumindest. Falls das eben…falsch rüberkam.“ Er hielt in seinen Bewegungen inne, sah Rúnar nun wieder in die Augen.
„Ich schätze ich habe einfach…“
Er kaute an dem Wort, wandte den Blick ab auf das Schwarz der Nacht
„…Angst. Und ich verstehe es nicht.“
Er atmete durch, sah Rúnar mit einem schiefen Lächeln wieder an.
„Aber verdammt es war gut.“
Rúnar folgte Taróns Blick, den Bewegungen seiner Finger auf Rúnars Haut. Auf, ab, auf, ab -- tick, tack, ging das Metronom.
Wieder trafen sich ihre Blicke. Wieder sah Tarón weg -- haderte mit seinen Worten. Sah Rúnar wieder an. Und Rúnar lächelte zurück. Er wusste ganz genau wie Tarón sich fühlte. Nicht nur in dieser Sache, sondern fast immer -- fast immer tosten Rúnars Gedanken in seinem Kopf, wenn etwas passiert war, das er nicht kannte, nicht definieren konnte, oder nicht in der Lage war zu verarbeiten. Und dann griff er nach der nächstbesten Hand, die sich ihm entgegenstreckte, und diese Hand gehörte einmal dem Zweifel, und beim nächsten Mal gehörte sie der Akzeptanz, und die dritte dann wieder dem Zweifel, und so ging es immer weiter, bis der Sturm sich legte. Und er wollte Tarón eine helfende, zuverlässigere Hand reichen, als die, die dessen Emotionen ihm geben konnten, also sagte er: "Da gibt es nichts zu verstehen. Das ist etwas, das ist einfach so wie es ist." Das mit der Angst war etwas komplizierter. Es lief darauf hinaus, dass es sich mehr lohnte, so wie man war in Angst zu leben, als nicht zu sein wie man war. Doch dies war ein Gerüst, das bei Rúnar auf enorm wackeligen Beinen stand. Und hatte Tarón diesem Gerüst vorhin noch ein Bein abgeschlagen, hob Rúnar nun einen Mundwinkel, wohlwissend, dass es Taróns eigene Worte gewesen waren: "Und ich verrate dir ein Geheimnis: Alle haben Angst."
Und ja, es war gut. Rúnar verging das Lächeln, desto länger sie sich so ansahen. Tarón bereute es nicht, hatte er gesagt. Trotzdem. Seine erste Reaktion -- reine Verwirrung. Zu viel Alkohol. Dennoch. Tick, tack -- Vernunft, Verlangen -- Ordnung, Chaos.
Rúnar nahm einen tiefen Atemzug und fast ohne nachzudenken hob er seine Hand, führte sie an Taróns Gesicht -- machte kurz davor halt--
Tick.
--zog sie wieder ein wenig zurück.
Tack.
Chaos.
Er legte seinen Hand um Taróns Nacken, zog ihn an sich und küsste ihn.
Nicht zu verstehen…
Vielleicht. Vielleicht war das so. Und dennoch war es…abnormal. Oder? Diesen Gedanken, sein ganzes Leben hindurch genährt, konnte Tarón nicht abschütteln.
Aber traf das nicht auch auf eine ganze Menge anderer Sachen zu die ihn betrafen?
Es fiel seinem analytischen Gehirn dennoch schwer die Sache ruhen zu lassen – nicht nach einem Grund zu suchen, nach Verstehen. Fakt war jedoch, dass die Begierde da war – kein Verliebtsein oder so ein Blödsinn. Er mochte Rúnar, zweifellos – aber das stand nicht wirklich im Bezug zu dem was sein Körper von ihm wollte. Trotzdem war es auch nicht wirklich wie bei anderen Freunden – eher ein seltsames Zwischenland, in dem er Rúnar weder unter den anderen Männern noch unter einer weiblichen Liebschaft wie er sie kannte oder ebenfalls platonischen Freundschaften, die er durchaus auch mit Frauen gehabt hatte, einordnen konnte.
Das hier war anders. Einzigartig – zumindest in seiner bisherigen Welt.
Rúnars nächste Worte durchbrachen seinen Gedankenstrom und Tarón musste erneut schief lächeln und leicht nicken.
„Ah…du hörst mir also zu!..Ja…so ist es wohl.“
Auch wenn seine Angst sehr konkret war – und sehr real. Das hier war eine Gefahr. Es gab die Möglichkeit, dass sie das hier umbrachte – wenn er es auch nicht mehr ganz als Gewissheit ansah. Panik würde ihm jedoch nicht helfen…Panik half niemals. Und er hatte seinen Kopf schon aus ganz anderen Schlingen gezogen…
Grade steckte er ihn jedoch bereitwillig wieder hinein: geradewegs in den Strick und unter die Axt des Henkers.
Rúnars Hand vor seinem Gesicht, dann in seinem Nacken – und wieder spürte er diese weichen feminin anmutenden Lippen auf seinen. Und er hatte dem Kuss nichts entgegenzusetzen und ließ sich erneut in den Strudel hinabziehen, als er ihn erwiderte.
Nach einem Moment löste er die Lippen von Rúnars, nahm seinen Kopf ein Stück zurück und sah ihn an. Sein Kopf funktionierte etwas besser als das letzte Mal aber er die Begierde lag bereits in seinen Augen. Einen Moment dachte er darüber nach andere Worte zu wählen – Worte, die Rúnar vielleicht zum Rückzug bewegt hätten…aber er tat es nicht. Er wollte das hier.
„Schätze nun ist es auch egal, oder? Ich meine…der Abend ist bereits gelaufen wie er ist und eine Ausrede brauchen wir so oder so…“
Er beugte sich vor, küsste Rúnars bereits dunkel gegen den Rest seiner hellen Haut wirkenden Hals.
„Viel schlimmer können wir es wohl kaum machen…“
Als Tarón sich wieder von ihm löste, hielt Rúnar seine Augen für einen Moment länger geschlossen. Als er sie dann öffnete, blickte er direkt in Taróns. Trotz der Dunkelheit konnte er das Verlangen in Taróns Augen schimmern sehen -- und sein eigener Blick musste ein Spiegel davon sein.
"Der Meinung bin ich auch ..." Das letzte Wort verlor sich schon in einem Wispern, als Taróns Lippen Rúnars Hals berührten.
Er fuhr mit der einen Hand, die eben noch im Nacken des anderen war, in dessen Haare. Mit der anderen Hand fuhr er unter Taróns Arm hindurch, umschlang dessen Brustkorb und zog ihn enger an sich.
Nein, schlimmer wurde es gewiss nicht.
Zustimmung – er hatte es nicht anders erwartet.
Rúnar zog ihn an sich und Tarón gab sich sowohl in seine Umarmung, wie auch in die des Verlangens, das in ihm aufwallte und die Kälte von Nacht und Wasser zu einer Nebensächlichkeit werden ließ.
[...]
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[...]
Einmal mehr hätte es ewig so bleiben können.
Taróns Kopf fühlte sich auf angenehme Art völlig leer an, sein Körper schwer und träge – mehr noch als nach dem ersten Akt. Und Rúnar unter ihm war so schön warm gegen die Kühle, die sich langsam wieder in sein Bewusstsein schlich. Kurz schloss der Falke die Augen, genoss für einen letzten ewigen Moment das Gefühl einer geeinten Welt in der sein Körper nahtlos mit dem des anderen zu verschmelzen schien und ein gemeinsames Herz in ihrer beiden Brust raste. Rúnars Finger strichen durch sein Haar und für einen Wimpernschlag fühlte er etwas anderes als tobende Lust und Gier – er fühlte sich geborgen. Als wäre er Treibgut, das endlich jemand an Land gezogen hatte.
Der Gedanke, die Erkenntnis, stach so sehr in seinen Geist, dass es ihn veranlasste sich mit einem schweren Grunzen zu erheben, Distanz zwischen sich und Rúnar zu bringen. Das Gebilde zerbrach – zurück blieben wieder zwei getrennte Teile. Der blonde Rúnar und er und über ihnen der Sternenhimmel, der sie beobachtete und über seine Idiotie lachen mochte.
Immernoch außer Atem setzte sich tarón neben den anderen, sah ihn an und lehnte sich seufzend etwas zurück.
Er lachte leise, lenkte sich selbst von dem Gedanken ab, der ihn überspült hatte, wie eine kalte Welle.
„Sieht nach nochmal baden aus, he?“
Die letzten bebenden Wogen der Erschöpfung liefen durch Rúnars Körper und das einzige was letztendlich blieb, war eine Gänsehaut, die die Meeresbrise über seine schwitzige Haut streifte. Verstärkt durch die Dissonanz, die Taróns warmer Körper auf ihm dazu bildete.
Für einen Moment hatte Rúnar Hemmungen, den Falken so liebevoll zu berühren -- sie hatten sich deutlich gemacht, dass dies hier einfach nur eine Sache aus reiner Trunkenheit und Geilheit gewesen war -- und trotzdem. Und trotzdem. Wie schon die ganze Zeit an diesem Abend: Rúnar konnte nicht anders.
Und für einen noch kürzeren Moment war es Rúnar, als wäre dem Drachen bewusst, dass der Drachenfänger ihn hatte. Als hätte der Falke sich freiwillig eine Haube über die Raubvogelaugen gezogen. Als bestünde ihre Verbindung nicht nur aus einem rein körperlichen Akt; als wären sie nicht nur eine tosende See, die ihre Wellen gegeneinanderschlug und sie gegenseitig verschlang -- sondern als wären sie die ruhige See, die all ihre sanften Wellen in dieselbe Richtung schwemmte. Doch ehe er sich diesem Gefühl hingeben konnte -- ehe er überhaupt richtig feststellen konnte, ob es wirklich da war -- brachte Tarón die nötige Distanz zwischen sie beide.
Rúnar schauderte nochmal als die Wärme schwand, doch er bliebt so liegen, die Hände auf seiner Brust, wo eben noch Taróns Kopf gelegen war; die Beine angwinkelt. Er musterte Tarón und er erwischte sich bei dem Gedanken, dass er schön war. Nicht auf die Art und Weise, die dafür gesorgt hatte, dass sie übereinander hergefallen waren. Zwei Mal. Sondern einfach nur ein schöner Anblick -- der Rúnars Herz einen Stich versetzte. Weswegen er nicht weiter darüber nachdenken wollte.
Und sein schönes Lachen erst.
Jetzt reichte es aber. Rúnar schloss die Augen und legte für einen Moment den Arm übers Gesicht, grinste jedoch selbst auch. Baden. "Gute Idee."
Und wieder erwischte er sich bei dem Gedanken: Und dann nochmal von vorne. (Zumindest war es das, was er wollte.)
Sein Blick glitt bei Rúnars Worten zurück zu diesem. Wie er fast noch genauso dalag wie eben zuvor, gezeichnet und markiert von der Sünde, der sie beide sich so bereitwillig hingegeben hatten. Den Arm übers Gesicht, als wolle er die Welt aussperren. Und doch war es vielleicht das, was Tarón erlaubte seinen Körper noch einmal genauer anzusehen, den Blick über jeden Zentimeter Haut gleiten zu lassen. Ein Anblick den er trotz der erneut aufkeimenden Scham behalten wollte. In Bernstein eingießen, um sie der Kollektion seiner Erinnerungen hinzuzufügen.
Seufzend riss er sich hoch, erhob sich und streckte sich im bleichen Mondlicht mit einem hörbaren Knacken des Rückens.
„Na dann komm! Und dann…Rúnar ich sags nicht gerne aber diese Schlägereigeschichte…die geht niemals durch.“
Rúnin sah noch lädierter aus als zuvor…aber immernoch nicht auf eine Art wie sie ein Kneipenschläger hervorbringen würde. Und verprügeln – auf de altmodische Art – wollte er ihn auch nicht. Also musste etwas anderes her.
„Aber…ich denke ich habe eine Lösung. Wird wirklich ne lange Nacht…baden, dann machen wir uns zum nächsten Bordell auf oder sehen ob wir ein paar Huren auf der Straße aufgabeln und in zwei Zimmer schleppen können.“
Zwei – getrennt! Das war wichtig…
„Und keine Sorge…ich bezahle…“
Irgendwie fühlte er sich, als schulde er dem anderen das.
Als Runár hörte wie Taróns Knochen knackten nahm er seinen Arm vom Gesicht und sah den anderen an. Versuchte nochmal, das Bild aufzunehmen bevor es von dem Sturm, der wieder in seinem Kopf aufkam, verschlungen werden würde und nie wieder auftauchen würde.
Auch Rúnar setzte sich auf mit einem Ächzen, während er nickte um Tarón zu bedeuten, dass er zuhörte.
Der Drachenfänger in ihm sagte sich, dass Tarón nicht hatte an sich halten können, als sie schon beschlossen hatten, dass nichts mehr in der Art passieren würde. Und trotzdem hatte der Drache sich so leicht fangen lassen. Er könnte ihn wieder fangen. Und dieser Teil von ihm jagte ihm ein kurzes Lächeln über die Lippen. Doch das Metronom war noch immer da, wenn auch langsamer. Und es schlug um in etwas, das Rúnar das Lächeln wieder aus dem Gesicht wischte und ihm einen Stich versetzte, den er ignorierte, indem er aufstand und Tarón antwortete: "Das klingt nach einem guten Plan." Überzeugt war er davon jedoch nicht. Es war ein guter Plan, ja, aber er gefiel ihm nicht. Der Riss, den Tarón vorhin in sein Fundament geschlagen hatte krachte ein Stück weiter auf. (Obwohl Rúnar nicht wirklich unterscheiden konnte, ob es das Fundament seines Selbstbewusstseins war oder ob es sein Herz war, das gerade versuchte, ihm deutlich zu machen, er sollte diese Gefühle, die er vorhin glaubte gehabt zu haben, lieber wieder schnell loswerden, bevor der Riss sich noch weiter ziehen würde.)
Ihn schauderte, als den ersten Schritt ins Wasser machte. Aber das war gut. Sein Körper und sein Geist brauchten dringend diese Abkühlung. Die kleinen schmerzhaften Blitze, die das Salzwasser durch seine Nerven jagte als es die offenen und beanspruchten Stellen seines Körpers berührte, lenkten ihn von den Blitzen ab die irgendwo in seinem Geist gerade einschlugen.
"Du musst nicht allein bezahlen." Sie waren ja wohl beide an dieser ... Situation beteiligt. Gewesen.
Tarón bemerkte sehr wohl, wie das Lächeln auf Rúnars Lippen erstarb – auch wenn dieser dem Plan zustimmte. Aber glücklich machte den Blonden das nicht. Und nachdem wie Tarón ihn nun sah, nachdem einige Teile des Puzzles ihren korrekten Platz gefunden hatten, wunderte ihn das nicht. Tarón würde ihn damit in eine Situation zerren, die dem anderen wahrscheinlich verdammt unangenehm war – um selbst der für ihn unangenehmen Wahrheit was hier passiert war zu entgehen.
Natürlich: er glaubte das auch für Rúnar selbst tun zu müssen. Und seiner Ansicht nach ging es um so viel, dass dieses Opfer verdammt klein war…dennoch fühlte er sich damit irgendwie beschissen. Und es fühlte sich auf eine seltsame Art ziemlich unfair an – dass er ihm nun diesen Weg aufzwang, genauso wie, dass sie diesen überhaupt gehen mussten.
Manchmal war die Welt einfach beschissen.
Doch auch wenn sein Herz so fühlen mochte, regierte nun wieder sein Verstand. Nicht mehr kopflos und panisch, sondern der Teil von ihm der voll kalten Kalküls über Leichen gehen konnte. Und dieser Teil verbannte diese Zweifel und Gedanken. Der Plan stand – sie würden ihn durchziehen. So einfach war das.
Er folgte Rúnar in die Wellen, sah, wie aufgeschrammt dessen Rücken mittlerweile aussah…nun zum Glück hatten die Ladies meist ordentliche Fingernägel, die auch das erklären mochten…abgesehen davon würde wohl kaum einer Rúnar ausziehen und einer Leibesvisitation unterziehen.
Bei dem absurden Gedanken musste er fast lachen.
Rúnars Gestalt in den Wellen hielt ihn jedoch davon ab. Irgendwie wirkte nun er wie Treibgut…Treibgut, das niemand eingesammelt hatte.
Mit einem leisen Knurren verschloss Tarón sein Herz vor dem Anblick und den erneut aufkommenden Gedanken, die diese Sache nicht besser machen würden. Wischte sie fort – warf sie hinaus in die Wellen. Auf dass sie ertrinken mochten.
Stattdessen stahl sich auf seine Züge das charmante Tarón Lächeln – wenn es diesmal auch nicht bis in seine Augen reichte.
„Nun, ich hab dein Hemd zerrissen…also doch: ich zahle. Vielleicht haben wir sogar Glück und eine der…Damen kann nähen. Ansonsten kommst du zumindest langsam in das echte authentische Piratenaussehen. Hm…oder doch nur verarmter Adel?“
Der Witz in seiner Stimme klang fast überzeugend.
Rúnar hatte über das Geräusch der Wellen und das Geräusch des (noch) undefinierbaren Gedankensturms in seinem Kopf nicht bemerkt, dass Tarón ihm direkt ins Wasser nachgegangen war. Erst als der zu sprechen begann, wandte Rúnar sich zu ihm -- und erwiderte sein Lächeln.
So war das doch schon besser. Tarón machte sich über Rúnar lustig. Alles beim Alten. (Dass ihm exakt dieser Gedanke einen weiteren kurzen Stich versetzte, ignorierte Rúnar.)
Echtes Piratenaussehen oder verarmter Adel. "Beides, möchte ich behaupten", sagte er, noch immer lächelnd. Und es stimmte sogar. Seine Kleidung war offensichtlich hochwertig, aber mittlerweile verschlissen in einem Ausmaß, den man einem Mann von gutem Stand nicht zutrauen würde. Geld hatte er auch keins mehr in der Tasche, oder lange nicht so viel, wie das, was ihm davor zugänglich gewesen war. Seine Haare hingen mittlerweile über seine Augen und ein Federvieh hing bisweilen wie ein großes, buntes Klischee auf seiner Schulter. Und er hatte es akzeptiert. Das war wohl das bedeutendste. Er fühlte sich nicht mehr so, als würde sich in ihm alles zusammenziehen, wenn er darüber nachdachte, dass, er ein Pirat war. Er sah sich nicht mehr als Mitreisender bei einer Piratencrew, sondern als Crewmitglied der Sphinx. Doch an diesen Gedanken wollte er Tarón im Moment nicht teilhaben lassen, auch, wenn sie vorhin darüber schon gesprochen hatten. Der Bann war gebrochen. "Was heißt hier langsam? Musst du etwa noch mehr meiner Kleidung zerreißen, bevor ich angemessen aussehe?" Ihm war bewusst, wie sich das anhörte. Und vielleicht hatte er es absichtlich so formuliert. "Außerdem trägt doch Harald bestimmt sehr dazu bei, dass ich authentisch wirke." Rúnar grinste, doch es wandelte sich zu einem ernsthaften Lächeln. "Gute Idee." Die mit dem Nähen. "Und Tarón ... danke." Rúnar wusste nicht genau, für was er dankte. Dafür, dass Tarón so einfallsreich war? Dass er anbot, die Kosten ihres Plans und die des Schadens zu übernehmen? Für ... die Nacht?
Schmunzelnd sah er den anderen an. Und langsam schmolz ein wenig der Schauspielerei und wurde zu dem wahren Humor, der den Falken auszeichnete, als das Lächeln den bitteren Glanz in seinen Augen zurücktrieb.
„Ja…beides. Also sollten wir dein Hemd vielleicht einfach so belassen.“
Überlegte er laut, eine nachdenkliche Miene zur Schau tragend. Bei Rúnars nächsten Worten zog sich die Stirn kurz in Falten. Da war es wieder…Einladung? Spiel?
Nein…er würde keine Kleidung mehr zerreißen – zumindest nicht auf diese Art. Welch seltsame Gedanken: wenn man wusste, dass man etwas nicht wieder tun würde, war es, als verlöre man etwas, vermisste es bereits – selbst, wenn Tarón bis vor kurzer Zeit garnicht gewusst hatte, dass er es vermissen konnte. Weil er es nicht gekannt hatte. Doch nun war es Teil seines seltsamen Kosmos geworden. Eine Tür, die aufgegangen war – und sich nun wieder schloss. Und er selbst drehte den Schlüssel um und warf ihn zusammen mit seinen Gefühlen ins Meer.
„Ich glaube das Hemd reicht erstmal – sonst wirst du vom Piraten noch zum gewöhnlichen Vagabunden…obwohl beides schon seine Ähnlichkeiten hat, muss man die feine Linie dazwischen bewahren.“ Wischte er auch das mit Humor beiseite, sperrte die Gedanken erneut aus. Nichts war geschehen. Nichts hatte sich verändert - wenn er diese Tür verschlossen hielt.
Er schaffte es sogar zu lachen.
„Ja, dein kleiner Geier macht sich in der Tat ganz gut! Wo hast du den eigentlich her? Das kam in deiner Erzählung bisher nicht vor.“
Doch dann stutzte er – Unverstehen im Blick.
„Wofür? Dafür, dass ich zu deinem authentischen Aussehen beigetragen habe? Gern geschehen. Hab ja gesagt wir machen noch nen richtigen Pirat aus dir.“
Rúnar glaubte auf seinen Witz hin einen etwas zu ernsten Blick von Tarón zu ernten, aber er war sich nicht sicher -- das Mondlicht war zu karg, sein Kopf zu benebelt und seine generelle Wahrnehmung, wie so oft, nicht besonders gut. Trotzdem schoss es ihm durch den Kopf: Doch nicht alles beim Alten? Und im Moment konnte er nicht sagen, ob ihm das missfiel oder gefiel. (Nicht die Umstände der Gesamtsituation, sondern Taróns Blick. Doch je mehr er darüber nachdachte, desto mehr dachte er sich, dass er sich Taróns seltsamen Gesichtsausdruck nur eingebildet hatte -- denn jetzt blickte er den anderen für einen Moment konzentriert an und alles sah aus wie immer. Alles war wie immer. Wie davor.
Was beim Weltenwind war das nur gewesen?
Und wofür Rúnar ihm dankte, das wusste er noch immer nicht. Es klang wie ein Scherz, aber auch jetzt war er nicht sicher, ob es das war oder nicht. Es war, als hätte Tarón ihm zuvor noch seine Geschichte mehr oder minder anvertraut und nun schlug er ihm gewaltsam das Buch vor der Nase zu. Er konnte ihn nicht mehr einschätzen -- nicht so, wie er es vorhin getan hatte.
Er kniff die Lippen zusammen als er den anderen ansah, legte kurz den Kopf schief und schöpfte dann Wasser mit seinen Händen, um sich damit kurz das Gesicht und den Hals zu waschen und sich durch die halbtrockenen Haare zu fahren. Er atmete kurz scharf ein als das Salzwasser über die offenen Stellen auf seiner Haut lief.
Feine Linie dazwischen. Rúnar hätte fast gelacht. Wenn er sich den Verlauf des Abends so ansah, dann hatten wohl beide, Tarón und er, keinen Schimmer wie man feine Linien bewahrte.
Nun lachte er tatsächlich auf, als er drüber nachdachte, wie Harald zu seinem Begleiter geworden war. (Der Gedanke, wie tragisch im Gegensatz dazu Taróns Geschiche mit Calwah war, schlich sich dazwischen -- ehe er ihn wieder beiseite schob.) "Klingt wie erfunden, aber ich hab ihn zusammen mit Trevor von einer Wahrsagerin gestohlen."
Beobachtend, abwartend – die Reaktionen des anderen mit Auge und Instinkt messen. So, wie er es immer tat.
Und ohne, dass er ahnte, was Rúnar in diesem Fall dachte oder wie er sich fühlte spürte auch Tarón ein Pendel in sich schlagen- doch seinen schwang zwischen der Hoffnung, dass alles einfach so sein würde wie zuvor und der Sorge, dass er sich selbst etwas vormachte. Zwischen Erheiterung und einem anzüglichen Witz angesichts Rúnars zusammenzucken vor dem salzigen Biss des Wassers und der Schuld und der Scham darüber, wie diese Kratzer überhaupt entstanden waren. So sagte er nichts und wandte zeitgleich jedoch auch nicht den Blick ab, um sich schamvoll zu verstecken.
Er verharrte, beobachtete weiter, darauf wartend in welche Richtung und in welchen Abgrund er, der Falke, seinen Sturzflug antreten würde.
Doch zumindest hatte er mit der Frage nach dem Vogel einen Treffer gelandet, sich selbst und vielleicht auch Rúnar einen Ausweg aus diesem seltsamen Wellenland geschaffen, in dem die Brandung sie ziellos hin und her zu schubsen schien.
Tarón hob eine Braue und sah Rúnar an. Das mochte man als Skepsis deuten aber im war mittlerweile so viel untergekommen und Rúnar war eine ehrliche Haut, also stimmte das wohl – und Trevor war involviert. Trevor…die wild card – der den Tarón nach wie vor irgendwie sehr schwer greifen und von dem er bisher kaum eine Meinung hatte, weil er nicht sagen konnte, ob dessen Chaos Kalkül…oder ob der Junge einfach völlig irre war.
„Ok…also ich fürchte die Geschichte musst du mir nun doch noch erzählen. Aber vielleicht sollten wir uns dafür wieder was anziehen.“
Seine Witze darüber, dass sich die Sache sonst wiederholen könnte oder dass er sich eine Fettschicht angefressen hätte, wenn ihm bewusst gewesen wäre, dass sie zu Wassertieren würden schob er beiseite. Sie wären nur Wind für das Pendel gewesen.
In dem Moment, in dem Tarón erwähnte, dass sie sich etwas anziehen sollten, begann es, Rúnar unangenehm zu werden, dass sie da so nackt beieinander standen -- wenn auch das Wasser sie zum Großteil bedeckte. Doch es war nun ein seltsames Gefühl. Dass er wusste, dass sie sich nie mehr so gegenüber stehen werden, wenn sie jetzt aus dem Wasser gingen und sich anzogen.
"Das sollten wir." Er zwang sich ein Lächeln auf aber sah den anderen nicht an, als er sich umwandte und gezielt auf die Stelle am Strand, am Felsen zuwatete, wo er seine Kleidung hatte liegen lassen -- wo Tarón seine Kleidung hingeworfen hatte.
Und kurz fragte sich Rúnar, ob er richtig kombinierte, aber sein Gefühl sagte ihm, dass er das tat -- diese Beobachtung war so sehr mit einer Art Gefühl behaftet, dass er daraus nur schließen konnte, dass sie richtig waren. Mit jemandem eine Nacht verbringen im vollen Bewusstsein, dass es nur für ein wenig Spaß und Erlösung war, das war etwas anderes. Das war etwas, das in Rúnar schon länger nicht mehr auslöste, dass er sich plötzlich dafür schämte, nackt vor einem Mann zu stehen, der zuvor gefühlt jeden Zentimeter seiner Haut berührt hat. Er wusste, dass Tarón sich dafür schämte, was sie getan hatten und nicht nur brandeten diese Wellen an den Strand, den Rúnars Kopf oft für die Gefühle anderer spielte; sondern sie liefen geradewegs in den Malstrom seiner eigenen Scham, auf den er versucht hatte, sich ein Fundament zu bauen.
Wie götterfroh er war, dass sie komplett -- komplett das Thema gewechselt hatten.
Er sah sich -- zum ersten Mal an diesem Abend -- kurz am Strand um, ob nicht noch irgendwer anders zugegen war. Sein Herz schlug einmal kurz aus. Wenn sie so leicht (so betrunken wie sie gewesen waren) an diesen Strand gefunden hatten, dann würden andere das auch. Andererseits -- vielleicht waren sie ewig durch die Gegend geirrt und der Alkohol hatte Rúnars Zeitgefühl ertränkt. Aber so betrunken war er nun auch nicht gewesen. Jedenfalls war niemand hier. Rúnar hob seine Strümpfe auf, schüttelte einmal kurz die Sandkörner ab und zog sie an. Dasselbe mit seiner Hose. "Also, folgendermaßen ...", begann er, während er sich dann seine Stiefel überstreifte. "Es ist wahrscheinlich sehr viel weniger spektakulär, als ich es habe klingen lassen. Wir waren auf diesem Markt auf Silvestre und da war diese Wahrsagerin. Trevor hatte es wohl spannend gefunden, sich die Karten legen zu lassen und ich dachte mir, warum denn nicht." (Dass Rúnar mitunter an die Macht solcher Dinge glaubte, das sollte er zunächst für sich behalten. Doch Tarón war aufmerksam und er konnte sich das sicher zusammenreimen, nachdem Rúnar schon die ganze Zeit hinter Svavar her war. Mit Trevor Zeit zu verbringen war auch nichts, das jemals dazu führen würde, den rationaleren Teil seines Geistes anzuregen.) "Wir gehen also hinein und man sieht sofort, wie unglaublich schäbig alles ist. Was an sich vielleicht nicht gerade professionell wirkt, aber halb so schlimm wäre, wenn da nicht dieser Vogel gesessen wäre, der genau so schäbig ausgesehen hat." Rúnar hob sein Hemd und seinen Mantel auf und ein paar der abgesprungenen Knöpfe, die er auf Anhieb fand. "Sag, meinst du wir finden jemanden, der nicht nur nähen kann, sondern auch Ersatzknöpfe hat?" Er hob demonstrativ einen davon hoch. "Oder du hilfst mir gefälligst, alle wiederzufinden."
Tarón folgte dem Blonden an den Strand und währed er auf Rúnars Rücken sah und versuchte die roten Kratzer darauf zu ignorieren musste er sich bemühen seine Gedanken nicht wieder in falsche Richtung davontreiben zu lassen. Nicht der lustgesteuerte wilde Kurs, der ihn veranlasst hatte sich wie von Sinnen auf den anderen zu stürzen und sich ihm hinzugeben – dieser Funke schien vorerst erloschen, sein Brand gelöscht-…sondern eine Richtung, die er beinahe noch mehr fürchtete. Das leise Sirenenlied des Bedauerns, das Gefühl, als würde etwas von ihm davontreiben, das er festhalten wollte. Vielleicht war es nicht einmal Rúnar als Person, sondern eher die Offenbarung, die er ihm gebracht hatte – ungefragt, ungewollt und doch…
Doch seine Füße fühlten den Sand und mit dem Meer ließ er die ihm überantworteten Gedanken hinter sich zurück, als auch er begann sich wieder anzuziehen – darauf bedacht diesen Felsen nicht zu genau zu betrachten, um den herum verstreut seine und Rúnars Sachen lagen.
Stattdessen konzentrierte auch er sich auf die Geschichte, die nun folgte.
Er schmunzelte, während er seine Hose schloss.
„Und da habt ihr euch gedacht ihr rettet das Federvieh vor der alten Schrulle, die ihn so verkommen lässt? Hm…Schicksalsvogel sozusagen? Vielleicht ein Zeichen…“ witzelte er und hob die Brauen.
Dann jedoch spülten Rúnars nächste Worte das Meer heran. Tarón schaffte es sein Lächeln beizubehalten. Sein Spielergesicht aufzusetzen, obwohl er sich bei Rúnars letzten Worten wie ein gescholtener Junge vorkam. ‚Gefälligst…‘ Nun, vielleicht hatte er das verdient.
Er lachte das Gefühl weg.
„Warte, hier ist einer…und da…ach nein, nur eine Muschel. Sähe vielleicht auch ganz gut aus, wenn noch welche fehlen. Dann könnten wir vielleicht behaupten die Meerjungfrauen wären über dich hergefallen.“
Er bereute den Scherz fast sofort als er ihn ausgesprochen hatte.
Tarón war seit jeher berühmt berüchtigt anzügliche, provokante und seltsame Witze zu machen – aber nun hatte das ganze eine Tiefe bekommen, die sich wie ein Krater unter ihm auftat…zumindest wenn er mit Rúnar sprach. Die Sache war ungeahnt…kompliziert geworden. Aber vielleicht war dies auch eine Chance – eine Möglichkeit zu sehen ob der andere das Spiel mitspielen konnte so zu tun als sei alles wieder „ganz normal“…auch wenn Tarón ahnte, dass der komische Beigeschmack selbst dann eine Weile bleiben würde.
Als Tarón schon wieder einen Witz machte, wollte Rúnar einerseits den Kopf schütteln. Andererseits fand er es amüsant. Und auch irgendwie liebenswürdig. Und auf wieder eine andere Art, hatte er nach wie vor -- oder abermals? -- das angenehme Gefühl, dass alles wie immer war. Doch allein die Tatsache betrachtend, dass er all diese Gedanken hatte, war ihm klar, dass er gerade einfach nicht festlegen konnte, wie die Situation war. Und er wusste noch nicht, ob es gut oder schlecht sein würde, aber er entschied sich, es nun erstmal einfach dabei zu belassen. Es hatte sonst keinen Sinn. (Nicht, dass die meisten seiner Gedanken -- oder besser: die Tatsache, dass er sich Gedanken über etwas machte -- überhaupt einen Sinn hatten, aber man durfte ihm ja auch hier und da einmal einen Moment der sinnvollen Eigenwahrnehmung zutrauen.)
Rúnar schnaubte und hatte den Impuls, Tarón die Muschel spielerisch aus der Hand zu schlagen, aber das hatte zu große Ähnlichkeit mit der vorigen Situation und wahrscheinlich würden sie dann wieder nackt zusammen auf dem Felsen liegen, bevor sie überhaupt 'Meerjungfrau' sagen konnten. Aber Rúnar ließ es sich trotzdem nicht nehmen, auf den Scherz einzusteigen. "Ich könnte das Hemd auch sein lassen und mich ganz authentisch nur mit Muscheln bedecken." Um seine Idee zu visualisieren, legte er sich beide Handflächen auf die Brust und nahm eine demonstrativ graziös Haltung ein. (So graziös es ging mir der Hälfte seiner Kleidung über einem Arm hängend.) "Das fiele dann aber für die Authentizität natürlich eher in die Kategorie Meerjungfrau, weniger in die Kategorie Pirat."
Und wieder legte sich Taróns Stirn kurz in Falten, als er darüber nachdachte, ob Rúnars Entgegnung auf seinen vorschnell geäußerten Witz mehr implizierte, als sie sollte oder ob der andere es ganz harmlos meinte – das Niveau ebenso wieder auf den „Normalstand“ ziehend, den Tarón so sehr herbeisehnte. Vielleicht war es dieses Sehnen, dass ihn entscheiden ließ, dass er es genau so auffassen würde: ein harmloser Scherz unter Freunden.
Auf sein Gesicht stahl sich abermals ein schiefes Grinsen. „Nun zu der Meerjungfrau passen zumindest ihre höchst adeligen Züge, mein Herr. Soll ich ein paar Fische für den Schwanz entschuppen? Hm…und ob wir die Löwin dann abbauen und dich als Galionsfigur aufhängen sollten? Soll Glück bringen so eine Meerjungfrau am Bug.“ Nachdenklich betrachtete er den anderen.
Rúnar fiel für einen Moment Taróns etwas verwirrter Blick auf, doch das darauffolgende Grinsen und die darauffolgende Aussage hielten ihn davon ab, genauer über Taróns Gemütszustand nachzudenken. (Das würde sicherlich auch noch kommen. Sobald er sich mit seinen ganz eigenen Gedanken einmal vollständig im Kreis gedreht hatte, würde er auf eine Ebene gelangen, auf welcher er anfangen würde, sich auch um die Gedanken anderer zu scheren -- was ihm in dieser Situation auch sicherlich zum Nachteil gereichen würde. Nicht immer, aber hier schon.)
In seiner üblichen Manier -- so unterschwellig ironisch, dass man es kaum bemerkte -- sagte Rúnar: "Das klingt nach einem verlockenden Angebot, ich fürchte jedoch, ich muss ablehnen." Dabei zog er sich sein halb verrissenes Hemd an, das er zudem auch nicht mehr zuknöpfen konnte -- also ließ er es offen und zog auch seinen Mantel über. Wahrscheinlich war es auch besser so, dass er das im Moment so handhaben konnte. Er hatte es eben noch nicht einmal geschafft, seine Mimik unaufschlussreich zu belassen, als der Stoff seines Hemdes über seine offenen Hautstellen gestriffen war. Nun ging er in die Hocke, um ebenfalls nach dem Knöpfen zu suchen. "Ich fasse das jedenfalls als Kompliment auf", sagte er und lächelte den anderen Mann an. Er hatte das ernst gemeint, doch wusste er nicht, ob Tarón den kleinen Unterschied darin hörte, wie sein Ton sich verschoben hatte -- von kaum merklicher Ironie zu Ernsthaftigkeit. Dann wandte er sich dem Sand zu, ließ seine gespreizten Finger durch die oberflächliche Schicht gleiten um sie auszuwühlen und im Sand vielleicht einen weißen Knopf zum Vorschein zu bringen.
"Jedenfalls", knüpfte er an der vorigen Stelle an. "Das mit Harald war etwas anders als man vielleicht erwarten würde. Entgegen dem, was man Menschen mit normaler Vernunft und Mitgefühl zutrauen würde, haben wir Harald nicht mitgenommen, weil er uns leid getan hat bei dieser Frau -- zumindest nicht in erster Linie, weil leid getan hat er uns natürlich schon -- aber mitgenommen haben wir ihn, weil die uns so übers Ohr gehauen hat und uns die Karten so beschissen gelegt hat, dass wir -- ja, praktisch aus Rache -- einfach ihren Vogel geklaut haben." Er zuckte die Schultern um sich im Einklang mit dieser Geste nicht fragen zu müssen, wie moralisch vertretbar diese Aktion gewesen war.
Ganz offensichtlich blieb es bei der harmlosen Variante – nur die feine Note, kaum hörbar, in Rúnars Antwort brachte seine Gedanken ein wenig ins Straucheln, als Tarón ihm zusah, wie der Blonde sich das Hemd überstreifte. Doch beim kurzen Straucheln blieb es.
„Zu schade!“ witzelte er zurück.
Und in Rúnars nächsten Worten fand sich keine versteckte Note, als dieser sich wieder der Suche nach den Knöpfen widmete. Tarón schloss sich ihm an und begann ebenfalls im Sand nach verstreutem Gut zu fischen, während der andere mit der Geschichte fortfuhr. Während Tarón zwei Knöpfe fand, lauschte er der Erzählung.
Nun, das machte Sinn, nicht wahr? Selbst wenn einem irgendein Vieh leidtat: man band sich eigentlich nicht jedes Mal irgendein Haustier ans Bein, nur weil sein aktueller Besitzer es herunterkommen ließ. Ansonsten wäre die Sphinx wohl vollgestopft mit allerlei Viehzeug. Aber er hatte es Rúnar zugetraut…und irgendwie war ihm der Gedanke sehr sympathisch gewesen, dass der Jüngere einen armen zerrupften Vogel nur um seiner selbst willen gerettet hatte.
Die Realität holte auch diese Vorstellung wieder ein. Rache – wahrscheinlich Trevors Idee. So banal waren die Dinge und die menschliche Natur in ihrem Kern. Es war nicht um Harald gegangen – den armen leidenden Vogel – es ging um die Frau, der er gehört hatte und darum dieser einen Schaden zuzufügen. Oh, er fand es durchaus vertretbar der Alten eins auszuwischen – weniger für ihren schlechten Dienst (was auch immer das beim Kartenlegen genau heißen sollte) als deswegen, weil sie ohnehin nicht für den Vogel hatte sorgen können. Aber eine kleine bittere Note blieb – und das ausgerechnet bei ihm: dem Piraten der weitaus moralisch verwerflichere Dinge getan hatte. Weitaus.
Und nicht, dass das Federvieh sich über die Wendung seines Daseins beklagen konnte. Für den Sittich spielte es wohl kaum eine Rolle, warum er bei Rúnar gelandet war. Manchmal waren Tiere in ihrer Einfachheit zu beneiden.
Nicht zum ersten Mal an diesen Abend dachte sich Tarón, dass er wohl alt wurde. Zumindest irgendwie seltsam und verstörend sentimental. Und wie zuvor lachte er es weg.
„Oho! Und da fragt sich der blasse Drachenzähmer noch vor kurzem, ob er für das Leben als Pirat gemacht sei! Alte Frauen bestehlen passt auf jeden Fall wunderbar in den Lebenslauf!“
Rúnar hielt inne in seiner Suche. Es war ja doch absurd, wie sie beide im Sand hockten und nach Hemdknöpfen buddelten (und dabei Scherz um Scherz wie Backsteine stapelten, damit sie sich schön eine Mauer um die Unbehaglichkeit, die die Situation nun mit sich brachte, ziehen zu können). Er wünschte für einen Augenblick, sie würden einfach darüber reden. Dieses Drumherumschleichen um eine Sache, die unwillkürlich zu Geheimnistuerei führte -- oder diese eben mit sich brachte -- daran hatte Rúnar nicht gerade schöne Erinnerungen. Deshalb hatte er auch nicht den Nerv, diese Art von Spielchen zu spielen.
Doch etwas in ihm überschrieb dieses Gefühl. Etwas, das er früh gelernt hatte. Etwas, das in solchen Situationen seinen Geduldsfaden zuverlässig zusammenhielt: Fügsamkeit. Akzeptanz. Es war alles einfacher, wenn man die Dinge so nahm, wie sie kamen -- das hatte er vorhin Tarón selbst erklärt. Vor allem, wenn es Leute betraf, die man mochte.
Und dazu gehörte auch-- "Ich wurde wohl eher dazu verleitet. Aber das muss natürlich keiner Wissen, wenn ich das nächste mal nach Referenzen gefragt werde." Er erwischte sich bei einem schiefen Lächeln. Da war er schon wieder. Tarón behielt recht. Ein neuer Beweis dafür, dass Rúnar sich ein Stück weiter zu dem hinbewegt hatte, was sich die Leute unter einem Piraten vorstellten. (Er traute sich nicht, sich zu Fragen, was passieren würde, wenn der Chaosfunke in ihm einmal für längere Zeit brennen würde als für eine Vogelklauaktion oder eine -- zwei -- Nummern am Strand auf einem Felsen.) "Du tust ja so, als sei es keine Leistung, sich den Titel 'Drachenfänger' zu verdienen", sagte er, wieder mit seinem subtilen, sarkastischen Unterton. Im vollen Bewusstsein, dass Tarón es ursprünglich selbst gewesen war, der ihm diesen Titel gegeben hatte.
Rúnar gab ein Nicken in Taróns Richtung: "Wie viel Knöpfe hast du? Das müssten bald alle sein, oder nicht?" Er hatte sechs Stück. So viel mehr könnten es nicht gewesen. Wiederum absurd. Rúnar hatte in seinem Leben auf hoher See, als Pirat, in jeglichen Liebschaften, mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass es einmal relevant wäre zu wissen, wie viel Knöpfe an seinem Hemd waren. Gewesen waren.
Verleitet – ja. Trevor also. Der Falke hatte sich das bereits gedacht. Und es sehr seltsamer Teil in ihm atmete bei dem Gedanken fast auf, dass er sich sein Bild von Rúnar als…nun „unschuldig“ war sicher das falsche Wort, aber eben als den vielleicht noch etwas naiven, lieben Burschen, der in seinem Groll nicht einfach vorschlug, eine alte, vielleicht gar nicht mehr zurechnungsfähige Frau zu bestehlen, die auch nur versuchte irgendwie über die Runden zu kommen. Und immer noch ging es weniger um die Aktion an sich, als um irgendetwas anderes (er hatte schon weit Schlimmeres getan, gebilligt und gehört. Die Frau war so gesund und munter wie vor dem Streich. Dem Vogel ging es nun deutlich besser), das Tarón weder benennen wollte noch wirklich konnte.
„Also, dass Trevor dich darauf gebracht hat, solltest du weglassen. Und immer dran denken: du musst die Geschichten schön dramatisieren! Es gab bestimmt ein Feuer irgendwo und die Alte war eine Hexe.“
Erneut lachte er leise und fischte noch einen weiteren Knopf aus dem Sand.
Da war wieder dieser Unterton…Tarón sah mit einem schiefen Lächeln auf.
„Oh, das war in der Tat eine Großleistung von dir.“ ein wenig neckend, auch wenn er Rúnar das Einfangen von Calwah durchaus dankte und es ihn ohne Frage beeindruckt hatte.
„Immerhin hat der Drache dich dabei fast gefressen! Das darfst du beim Erzählen auf keinen Fall vergessen!“
Den Blick schmunzelnd senkend entdeckte er noch zwei hell schimmernde runde Dinger im sand und fügte sie den anderen hinzu.
Moment mal…er stockte, betrachtete wie sich das Licht in einem der Knöpfe brach, der offenbar aus Perlmut zu bestehen schien. Seine Stirn legte sich in Falten.
Es müssten alle sein? Nein…das waren definitiv zu viele! Und sie waren nichtmal alle gleich.
„Ehm…Rúni… sag mal, dein Hemd… hat da schonmal irgendwer Knöpfe neu angenäht?“
Jemand, der kein Stück drauf geachtet hatte ob die auch zusammen passten…der eine da war viel größer als der Rest…
Amüsiert schüttelte Rúnar den Kopf, als Tarón ihm den Rat gab, alles ja schön zu dramatisieren. Sowohl über den Scherz als auch über sich selbst. Für einen Moment haderte er, ob er das nun laut sagen sollte, denn immerhin waren sie nun wieder auf Distanz, doch andererseits ... war es auch ziemlich egal -- und Tarón wäre ein ziemlicher Narr, wenn er bisher nicht mitbekommen hätte, was Rúnar ihm nun sagte: "Dramatisieren muss ich da noch nicht mal was, das macht mein Kopf schon von ganz allein -- und der Rest geht dann wie von selbst." Er schnaubte und es klang zynischer, als er gewollt hatte. Er versuchte, den Ton ein wenig zu retten, indem er hinzufügte: "Und ich kann mich zwar nicht mehr erinnern, was ich gedacht habe, als ich Calwah gefangen habe, aber es würde mich nicht wundern, wenn ich der Meinung gewesen bin, dass er mich fressen wird." Trotzdem hatte er in dem Moment seine Intuition walten lassen -- mit einem erfolgreichen Ergebnis. Das konnte man ihm sehr wohl zugute lassen kommen. (Das nächste Mal, dass er ohne große Vorgedanken seine Intuition hatte walten lassen, war vermutlich gewesen, als er sich dazu nicht-entschieden hatte, Tarón zu küssen, sondern es einfach getan hatte. Es war einfach passiert. Und jetzt waren sie hier, Rúnar -- für den anderen konnte er ja nicht sprechen -- mit diesem seltsam nachhängenden, wirren, undefinierbaren Gefühl und dem mehr oder weniger erfolgreichen Versuch, so zu tun, als wäre nichts passiert. Da lässt man einmal seine Gedankenbrühe außer acht und schon schüttet jemand einen Eimer Salz hinein. Nun ja. Er hatte sich eben noch gesagt, er würde das jetzt einfach so lassen und nicht groß weiter drüber nachdenken.)
Die Möglichkeit weiter in seine Gedanken zu kreiseln nahm Tarón ihm auch sogleich ab. Ob jemand schon mal Knöpfe neu an das Hemd genäht hatte. Rúnar legte fragend den Kopf schief. "Bestimmt." Sein Blick schweifte kurz ab, zur Seite, aufs Meer, in seine Erinnerung. Aber es kam nichts konkretes auf. "Ich hab das schon seit einiger Zeit, würde mich wundern, wenn nicht." Als Rúnars Blick zurückschweifte bemerkte er erst, wie Tarón auf die Knöpfe in seiner Hand sah. Rúnar tat es ihm nach. Führte seine Handfläche, in der er die Knöpfe hielt, etwas näher an sein Gesicht. War sich noch nicht komplett sicher, worauf Tarón hinaus wollte, aber irgendwas schaltete und er realisierte, dass einer der Knöpfe zwar auch weiß, aber grünlicher war als die anderen. Dass dieser grünliche Schimmer Algen waren. Weil dieser Knopf schon so lange hier herum lag.
Rúnar dachte gar nicht nach, es platzte nur ein, "Was zum--?!", aus ihm hinaus und die Knöpfe schleuderten in die Luft, als seine Hand sie so schnell wie möglich loswerden wollte und er verlor fast das Gleichgewicht, machte einen kleinen Ausfallschritt nach hinten, um nicht rücklinks in den Sand zu fallen.
Wie die Dinge von selbst liefen hatten sie ja gesehen…und zu welchem Drama dies geführt hatte. Weit mehr als Tarón lieb war… Ja – vielleicht kannte Rúnar sich auch ohne absichtliches Dazu erfinden damit schon genug aus. Doch Tarón überging diese Spitze, weigerte sich wieder in dieses Gedankenmeer hinabzusteigen und konzentrierte sich stattdessen auf den Rest.
„Soso – derart schreckhaft? Ich meine Calwah kann schon furchterregend und gefährlich sein – besonders für Waden und nackte Zehen.“
Wie schreckhaft Rúnar wohl offenbar tatsächlich war zeigte sich im nächsten Moment. Erst antwortete ihm der Blonde noch im ruhigen Ton und mit Worten, die es zumindest zur Möglichkeit gemacht hätten, dass doch alle Knöpfe an sein Hemd gehörten (und doch wusste Tarón dass dem nicht so war – diese Ungleichmäßigkeit wäre ihm aufgefallen…ziemlich sicher.), dann sah er sich die Knöpfe in seiner Hand genauer an. Tarón beobachtete ihn nichts Böses ahnend und plötzlich flogen die sorg und mühsam eingesammelten Kleinode in alle Richtungen davon, als Rúnar sie wie glühende Kohlen von sich schleuderte und dabei fast mit dem Arsch im Sand landete.
Also…DAS war definitiv dramatisch!
Einen Moment sah Tarón den anderen an – reine Verblüffung ob dieser Reaktion im Blick.
„Okay...ich hab gesagt du sollst dramatisieren, aber das habe ich an sich nicht gemeint…!“
Und er prustete los angesichts des verschreckten Gesichtsausdruckes und wie Rúnar da einer krummen Pappel gleich im Mondlicht stand.
Grinsend ging sein Blick zu dem dunklen Stein. Und nun konnte er nicht anders, als seiner Natur zu folgen und trotz des unsicheren Bodens seine Witze zu machen.
„Tja…scheint das hier ist nicht exklusiv „unser“ Felsen…entweder das oder hier treffen sich die Frauen zur Schneiderarbeit….“
Er wusste nicht welche Vorstellung er komischer fand also kicherte er schon wieder los. Und als er sich vorstellte wie hier eine Gruppe Frauen am Tag irgendwelche Knöpfe annähte und dabei dort rumhockte wo des Nächtens irgendwelche Leute übereinander herfielen verwandelte sich das Kichern in schallendes Gelächter. Rúnars Gesicht tat sein übriges.
„Götter du guckst so bescheuert...!“
Brachte er keuchend hervor.
Natürlich guckte Rúnar bescheuert, denn die Vorstellung wurde Wort um Wort aus Taróns Mund schlimmer. Dabei wusste Rúnar zunächst gar nicht warum er deshalb so entsetzt war -- vielleicht weil er dadurch gezwungen war, sich auszumalen, wie andere Leute es auf diesem Felsen getrieben hatten und in Erweiterung also, wie sie beide es ebenfalls auf diesem Felsen getrieben hatten und wie absurd das gewesen war und in den Augen der meisten äußerst skandalös. (Er blieb kurz dabei hängen, dass Tarón es "ihren" Felsen nannte.) Und er war auf eine Art und Weise großgezogen worden, die dazu geführt hatte, dass er skandalöse Dinge nunmal eben skandalös fand.
Doch es fiel ihm immer leichter, sich aus diesem erzwungenen, ihm seit Geburt an auferlegten Habitus herauszuwinden. Deshalb fing er zunächst an zu grinsen, schüttelte dann nochmals amüsiert den Kopf und begann schließlich ebenfalls zu lachen. Und stellte dabei fest, wie sehr Taróns Lachen ihm gefiel. (Und stellte ebenfalls fest, wie oft ihm dieser Gedanke in Zukunft wohl noch durch den Kopf gehen würde.)
Aber wenn Tarón austeilen konnte, dann konnte er wohl auch einstecken. "Ich war nur schockiert über die Vorstellung, dass es außer dir noch mehr solch brutale Menschen gibt, die ihren Liebhabern direkt wirklich die Kleidung vom Leib reißen." Er hob etwas suggestiv die Augenbrauen (bereute es sofort ein wenig) und wandte dann seinen Blick von Tarón ab und begann abzuzählen, wie viele Knopflöcher sein Hemd hatte, damit er am Ende mit mindestens der richtigen Anzahl an Knöpfen dastand und hoffentlich mit allen den korrekten darunter.
Was auch immer da grade hinter Rúnars Stirn vorging: es war zu komisch! Die Gesichtsentgleisung setzte sich noch einige wundervolle Sekunden fort in denen der Blonde sich wohl was-auch-immer ausmalte und Tarón vor Lachen fast wieherte.
Was da in seinem Kopf vorging konnte Tarón diesmal allerdings nicht wirklich erraten. Nachdem er selbst bisher eindeutig derjenige gewesen war, der sich hier den Kopf zerbrach und über das, was sie getan hatten entsetzt gewesen war, machte Rúnars Reaktion eigentlich keinen wirklichen Sinn, denn der schien die ganze Aktion eigentlich ganz…“normal“ zu finden. Zumindest kein Grund in Panik zu geraten und sich über die Maße zu schämen, wie der Falke es getan hatte.
Aber gerade dieses Absurde machte das Ganze so komisch…und es tat gut so zu lachen.
Gut genug, dass Rúnars nächste Worte ihn nicht so sehr aus dem Gleichgewicht brachten, wie es vielleicht ansonsten passiert wäre. Nach Luft schnappend wischte Tarón sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
„Ja…pass nur auf…das hier ist ein Sammelpunkt für Monster, die über unschuldige Damen und Knaben herfallen…“ konterte er daher fast schon automatisch und ohne sich in zu viele Hintergedanken zu verirren.
„Wahrscheinlich sind sie mit den ansässigen Schneiderinnen im Bunde…“ er gluckste schon wieder „Die nähen die Knöpfe dann wieder an...“ beim Versuch eine erneute Lachsalve zu unterdrücken verschluckte er sich fast. Rúnars Beschämtsein entging ihm unter seinem Anfall beinahe – jedoch nur beinahe. Aber wie zuvor beschloss er nicht auf diesen Kahn aufzuspringen. Das Ganze etwas ins Lächerliche zu ziehen war viel besser als die wahnsinnigen Gedanken zuvor. Und es war ja auch völlig absurd – dies alles hier. Und sollte ihm die Sache am Ende doch den Kopf kosten, nun, dann hatte er zumindest jetzt Spaß damit gehabt.
„Und…wie viele Knöpfe passen an dein Hemd? Sollten wir vielleicht ein paar zusätzliche annähen lassen? Nur für den Fall?“
Dass er das nun äußerte war definitiv alleine dem Umstand geschuldet, dass sein eigenes lachen so heftig in seinem Schädel widerzuhallen schien, dass Tarón für einen Moment nicht wirklich klar denken konnte.
Rúnar sah es Tarón nach, dass er sich über ihn lustig machte und ihn dazu noch vom Zählen ablenkte. Bestimmt war der Alkohol noch nicht aus seinem System -- aus ihrer beider Systeme -- und außerdem hatte jeder seine Bewältigungsstrategien. Wenn dies Taróns war, dann ... gut für ihn.
Rúnar grinste trotzdem, als er von vorn begann zu Zählen, konzentrierte sich stark auf die Knopflöcher, um nicht Tarón anzusehen, auf dass sein Herz nicht schneller schlagen würde, auch wenn der andere gerade für jeden Außenstehenden einfach nur seltsam wirken musste. (Aber Rúnar war nun schon so betört, dass Tarón nicht mehr neutral wahrnehmen konnte.)
"Acht Stück", sagte er. Und nun sah er doch wieder auf. Das Grinsen noch immer auf sein Gesicht gepflastert hallte in Rúnars Kopf nach, was Tarón gesagt hatte. Für den Fall. Für den Fall? Rúnar fürchtete, dass das Metronom wieder zu pendeln beginnen würde, also fiel ihm nichts besseres ein als dem Impuls nachzugehen, etwas Sand nach Tarón zu kicken. Ein Knopf flog mit. Für einen Moment -- das Grinsen jedoch wie festgewachsen noch immer auf dem Gesicht -- sprang in ihm ein Funke auf. Er dachte kurz es war der Chaosfunke, aber beim abebben des Impulses, wurde ihm klar, dass es ein Funke war der sagt: 'O-oh. Vielleicht hast du es diesmal mit den Scherzen übertrieben.'
Langsam bekam er sich wieder unter Kontrolle. Das Lachen ebbte schließlich ab und hinterließ ein seltsames fast flaues Gefühl in seinem Magen. Vielleicht war es ganz gut, dass Rúnar ihn sehr deutlich absichtlich nicht ansah – er fühlte sich ein wenig wie ein Irrer, der grade wieder zu Sinnen kam. Andererseits – Rúnars Gesicht war komisch gewesen! Was sollte er da tun? Und das Alles hier war so absurd, dass er sich diesen Anfall auch verzeihen durfte.
„Acht.“ Echoete er. Und wich dann mit einem belustigten Schnauben dem Sand aus, den Rúnar nach ihm kickte. Der Knopf traf ihn dennoch auf Höhe des Schienenbeines. Tarón fischte ihn auf. Überging dabei nach wie vor jedwede Möglichkeit, dass die Situation wieder in eine andere Richtung kippen könnte. Wenn man es nicht beachtete verhungerte dieses Monster vielleicht von ganz alleine?
„Nun…ich habe alleine schon sechs – welche sollen es sein, die aus Perlmut, die großen irgendwie kantigen…oh hier ist einer der leicht bläulich ist…vielleicht…bei dem Licht schwer zu sagen.“
'Ich will meine eigenen Knöpfe haben', schoss es Rúnar durch den Kopf und er fühlte sich sofort wie ein kleines, trotziges Kind.
Am Ende war es doch egal. Seine Kleidung würde immer mehr verschleißen, je länger er mit der Sphinx fahren würde. Er -- oder besser gesagt Tarón -- hatte nur den Prozess etwas beschleunigt. Außerdem konnte er sich einfach neue Kleidung kaufen, wenn er genug Geld zusammen hatte. Aber da war eben noch immer etwas in ihm, das nicht ganz von seinem alten Leben loslassen konnte. Und bald war davon nichts mehr übrig, bis auf seine Kleidung.
Rúnar hob noch zwei Knöpfe aus dem Sand auf. Einer davon war ziemlich sicher seiner, der andere hatte ebenfalls einen Perlmuttschimmer. "Solange sie alle halbwegs ähnlich aussehen bin ich zufrieden", sagte er. Dann klaubte er jedoch kurzerhand noch zwei deutlich sichtbare auf, ohne darauf zu achten, was es genau für welche waren. "Allerdings könnten wir aus Prinzip alle mitnehmen, falls irgendwer doch mal Ersatz braucht." Wie sich das nun schon wieder anhörte. "Aus der Crew."
Tarón drehte einen der Knöpfe dicht vor seinen Augen hin und her, die er dabei im versuch irgendetwas sinngebendes zu erkennen zusammenkniff. Das Licht war einfach zu schlecht um wirklich etwas genauses auszumachen und schließlich gab er es mit einem leisen seufzen auf und schob die Knöpfe – alle – in seine Tasche.
„Hm…vielleicht sind ein paar von denen sogar etwas wert. Also nehmen wir sie natürlich mit. Man kann nie zu viele Knöpfe haben – das hat zumindest meine Tante immer gesagt.“
Und deshalb fischte er noch zwei weitere auf, die seine Augen im Sand ausmachen konnten – einer entpuppte sich allerdings als ein Stück zerbrochener Muschel.
„Na wenn wir nun genug haben…lass uns gehen. Die Nacht wird nicht jünger und ich ahne jetzt schon, dass mein Kopf sie sehr bereuen wird, wenn die Sonne aufgeht… Gucken wir also, wo sich die hoch ehrenwerten Damen so tummeln…hm?“
Vielleicht konnte eine davon massieren. Das wäre nicht schlecht – er bezweifelte nämlich, dass er zu dem wozu er sie eigentlich buchen würde noch groß in der Lage wäre.
Seine Tante, hm. Rúnar hätte Tarón gerne mehr darüber gefragt. Für einen Moment spürte er den kleinen Funken der zuvor etwas Vertrauen zwischen ihnen hatte aufflammen lassen. Das und mehr. Und jetzt--
Nun ja ...
Rúnar nickte und gab dem anderen ein schiefes Lächeln, aber es war kein echtes. Wo sich die Damen tummelten ... Nein, an diesen Ort in seinen Gedanken würde er sich jetzt nicht schon wieder begeben. Warum Tarón--
Nein, eigentlich wusste Rúnar, warum Tarón so geheimnistuerisch war, dass er sogar mit einem derartigen Alibi sicher gehen wollte. Er wusste es nicht nur, er konnte es auch nachvollziehen. Und das war fast noch schlimmer--
Nicht! Er würde nicht weiter darüber nachdenken. Einatmen. Ausatmen.
"Weißt du, wo wir hin müssen?", fragte Rúnar, als sie gingen. Er steckte seine Hände in seine Manteltasche und hielt sie etwas vor sich, sodass die Front des Mantels zumindest ein klein wenig Schutz bort vor neugierigen Augen, die sein zerstörtes Hemd beäugten -- aus welchem Grund auch immer. Es gehörte sich einfach nicht mit einem solch zerrissenen Hemd draußen herumzulaufen.
× seems like all i'm worth is ×
what i'm able to withstand
Rúnar Rúnarsson ist 22 Jahre alt und wurde unter den Sternen der ersten Welt auf der Insel Andalónia geboren. Dieser mutige Pirat reist als Seemann durch die Meere der Inselwelten und plünderte mit der Crew bereits auf 55 Streifzügen in 15 Tavernen.
Habseligkeiten
Harpune • kleine Stofftasche: Briefpapier, ein wenig Kleingeld, Kamm, Rasiermesser • Halstuch, Hemd, Weste, Mantel, Kniehosen, Lederstiefel • vergoldeter Ehering, vergoldeter Siegelring
Körperliche Verfassung
etwas angeschlagen
Das Lächeln in Rúnars Gesicht wirkte so unecht, dass Tarón es selbst dann noch als fadenscheinig erkannte, da eine große Wolke das eh schon spärliche Mondlicht verschluckte. Aber es war ja auch kein neuer Gedanke, dass Rúni diese Sachen wohl nicht wirklich gefallen würde – doch Tarón nahm es in diesem Fall in Kauf. Musste es in Kauf nehmen. Zumindest glaubte er das.
Und wie zuvor lächelte er den Anflug eines schlechten Gewissens, das dabei in ihm emporkroch, wie eine im Sand verschüttete Krabbe, davon.
„Nun…ich habe zumindest eine ganz gute Ahnung.“
Er machte aus, wie Rúnar sein Hände in die Taschen seines Mantels stemmte, um ihn ein wenig vor sich zu halten und kurz schwankte er zwischen Witz und der erneuten fast peinlichen Berührtheit angesichts dessen, dass es wohl seine Schuld war, die diese Handlung nötig machte.
Zeit also sich auf etwas zu konzentrieren, das er aktiv tun konnte, anstatt Rúnar einfach so anzuglotzen.
Seine Beine kamen in Bewegung während seine Augen noch versuchten festzustellen wo sie eigentlich genau waren. Doch die Lichter, die er entfernt durch Reihen von Bäumen scheinen sah gaben ihm genug Anhalt, um diese Frage schnell zu klären.
„Ich meine neben der Taverne gab es Zimmer…ein paar der guten Damen haben sich auch direkt drinnen getummelt – ist dir wahrscheinlich nicht aufgefallen…“ konnte er sich die kleine Stichellei nicht nehmen lassen.
"Sehr gut", sagte Rúnar, mehr aus Höflichkeit, mehr als Floskel. Nach wie vor hätte er lieber weiterhin mit Tarón herumgelegen, weiter seine Finger durch das Haar des anderen, über dessen nackte Haut gleiten lassen. Den Moment herausgezögert, an dem sie sich hatten anziehen müssen und so tun müssen, als wäre das nie passiert -- weil Tarón es so wollte. Weil Rúnar vorhin Taróns kurzen Anflug von Panik nur zu gut hatte nachvollziehen können. Aber anscheinend hatte auch Tarón es noch nicht ganz verdrängt, denn Rúnar sah kurz zu ihm und diesen Blick konnte selbst er deuten.
Er versuchte jedoch nicht Taróns Blick zu halten, sah wieder weiter geradeaus -- dorthin, wo sie hergekommen waren. Bei Taróns kleinem Scherz kam er nicht um ein kurzes, ehrliches Lächeln hin. Er hatte den Impuls über etwas wie Ansteckungsgefahr zu scherzen, und dass Tarón aufpassen musste, dass er nicht selbst einen Blick für sowas verlor, aber das wagte er nicht, nachdem der andere ohnehin schon so unsicher gewesen war.
Und Rúnar hätte die Damen wahrscheinlich so oder so nicht bemerkt. "Ich hatte ja auch nur Augen für dich. Ist dir wahrscheinlich nicht aufgefallen." Er hatte es ausgesprochen, bevor er darüber nachgedacht hatte, dass dies Tarón mindestens genau so sehr verunsichern könnte. Und zudem auch noch verletzter klang, als es Rúnar lieb war. Er fügte leise hinzu, weiter geradeaus schauend, den Blick des anderen vermeidend: "Entschuldige. Das war unangebracht."
Tarón stolperte beinahe – sowohl ganz wortwörtlich als auch über die Worte, die Rúnar in seinem Rücken einfach in die Nacht spuckte, als wäre es das natürlichste auf der Welt. Es hätte ein Scherz sein können – doch die nächsten Worte des anderen unterstrichen, dass es zumindest kein vollständiger Scherz war. Sonst hätte sich der andere nicht entschuldigen müssen.
„Nicht nötig…“ War es nicht. Tatsächlich nicht. Denn er wusste, dass Rúnar das ernst meinte – und für die Wahrheit musste sich niemand entschuldigen.
Und doch – nun wo er darüber nachdachte, WAR es ihm aufgefallen. Tarón hatte die Zeichen nur nicht richtig gedeutet – weil er bis zu den Ereignissen am Strand niemals damit gerechnet hätte, dass sich ihre „Beziehung“ auf solch eine Ebene erheben würde. Aber Rúnars Blicke hatte er gesehen, hatte sich sogar in der Taverne über sie gewundert, ehe er sie abgetan hatte. Und nun, wo er wirklich darüber nachdachte wurde ihm auch bewusst wie viel Öl er selbst wohl noch ins Feuer gegossen hatte…
Nun…aber auch das war egal, nicht wahr? Denn spätestens am Strand hatte er höchstselbst gleich ein ganzes Fass Öl hinein gestoßen und Rúnars beschauliches Lagerfeuer in ein unkontrollierbares Inferno verwandelt, das ihn selbst verschlungen hatte.
Doch eine Frage ergab sich dann doch…
Während er dennoch weiter ging, nutzte er die bleibende Einsamkeit ehe sie wieder zu anderen Menschen stoßen würden darüber nachzudenken, ohne sie am Ende zu formulieren. Er glaubte die Antwort garnicht wirklich wissen zu wollen…denn diese würde alles im Zweifel nur noch komplizierter machen als ohnehin schon.
Augen für ihn – bereits in der Taverne…wie lange schon?
°Es ist egal…°
Und das war es wohl auch.
Die Musik begrüßte sie so, wie sie sie zuvor verabschiedet hatte – und Tarón hatte das seltsam unwirkliche Gefühl als würden sie die Barriere zu einer anderen Welt überschreiten als er zwischen den Bäumen wieder auf den Weg vor der Taverne trat. Die lag genauso da, wie sie sie zuvor verlassen hatten. Nur die Leute schienen ein wenig betrunkener, die Taverne an sich vielleicht etwas leerer. Aber Taróns Augen fanden dafür nur umso schneller was sie suchten.
„Ah scheint wir müssen nicht einmal rein…“
Ein Funken Mitleid keimte in ihm auf, als er die drei Mädchen sah, die offenbar beinahe jeden Mann ansprachen, der an ihnen vorbei kam, Verzweiflung und Gram bereits so tief in ihre an sich jungen Gesichter eingegraben, dass selbst ihr strahlendes unechtes Lächeln die Spuren nicht daraus vertreiben konnten. Nicht hübsch, nicht hässlich – ganz normale junge Frauen, die vielleiht noch nicht einmal ihr zwanzigstes Jahr gesehen hatten und die versuchten ihre offensichtliche Armut mit billigem Tand zu kaschieren mit dem sie ihre erbärmlichen Kleider etwas aufzuhübschen versucht hatten.
Das waren keine typischen Huren – nun oder doch. Je nachdem wie man es sah. Es waren nur keine, die zu einem organisierten Etablissement gehörten. Und solche wie sie gab es überall. Das dort waren Frauen, die auf sich allein gestellt und aus purer Verzweiflung handelten und sich verkauften, weil sie sonst verhungern würden. Weil sie – warum auch immer - keinen Mann hatten und keine Aussicht darauf einen zu bekommen, keine Familie, die sie stützte oder aber Familie, die sie stützten mussten. Keine Arbeit oder die nötigen Fähig- oder Möglichkeiten eine zu ergattern.
Kurzum: sie waren perfekt für ihre Zwecke.
Tarón warf Rúnar ein wölfisches Grinsen zu, dann bewegte er sich auch schon in Richtung der drei, die grade dem letzten Mann nachsahen, der auf dem Weg von der Taverne die schlecht beleuchtete Gasse entlangtorkelte in der sie ihre Träume begraben hatten.
Für den Moment den Tarón brauchte um zu antworten malte Rúnar sich sämtliche Szenarien aus, was als nächstes passieren könnte. Dass Tarón ihn am Kragen packte und ihm mit drohend leiser Stimme einflößte, dass er besser dafür zu Sorgen hatte, dass seine Augen sich das nächste Mal auf was anderes richteten. Dass er so tat als hätte er Rúnar gar nicht erst gehört. Was dann dadurch revidiert wurde, dass Tarón kurz stolperte und schon schoss Rúnar durch den Kopf, wie er am besten zurückrudern konnte. Und absurderweise kam ihm dennoch sofort der Gedanke, wie Tarón ihn am Kragen packte, wie Rúnar kurz den sanften Atemhauch auf seinen Lippen spüren würde während Tarón zögern würde und ihn dann doch küssen würde.
Taróns nächste Worte hielten Rúnar davon ab den Gedanken weiterzuspinnen. Nicht nötig. Das war alles. Schlicht und neutral. Nicht nötig. Immerhin das.
Rúnar wusste nicht, was er dazu noch sagen sollte. Es sah ihm nicht gleich zu schweigen, vor allem nicht bei einem Gespräch das so viel Spannung mit sich brachte. Oder bringen konnte. Wenn irgendeine Anspannung zwischen ihnen war, dann war Tarón gut darin, sie zu verbergen. Dass Rúnar angespannt war, war bestimmt offensichtlich. Auf wahrscheinlich tausend verschiedene Arten und Weisen. Besser wurde es nicht, als Tarón ihre beider Aufmerksamkeit auf die drei Mädchen vor der Taverne lenkte. Ihre Berufssparte sah man ihnen an: Sie versuchten sich gezielt und willkürlich zugleich Kundschaft zu verschaffen und der einzige, der in einem schlechteren Aufzug dastand war Rúnar mit seinen geradewegs zerrissenen Klamotten.
Tarón warf Rúnar ein Grinsen zu -- Rúnar erwiderte es halbherzig und folgte Tarón zielstrebig zu den Mädchen. Die fassten sie schnell ins Auge. Die Braunhaarige mit den zusammengebundenen Haaren flüsterte der mit den offenen schwarzen Haaren ganz kurz etwas zu, beugte sich dann zur anderen Seite, um der dunkelhäutigen Frau ebenfalls etwas zu sagen. Alle drei musterten die Männer für einen Moment und dann legten sie einen Blick auf, den Rúnar eigentlich nur von Geschäftsleuten bei Verhandlungen kannte. Seltsam, ihn ausgerechnet bei Prostituierten zu sehen, in Kombination mit verführerischem Lächeln und aufreizender Haltung -- aber es machte die Sache leichter.
"Abend, die Damen", sagte Rúnar und wie automatisch hatte er seine, zum Szenario recht passende, diplomatische Stimme aufgesetzt.
"Noch nicht genug gehabt heute, was?", sagte die Dunkelhäutige und ließ ihre Finger über das Revers von Rúnars Mantel gleiten, während sie ihn unter schweren Lidern hervor mit einem schiefen Lächeln musterte. Rúnar nahm einen scharfen Atemzug, zwang sich aber ein Lächeln auf. Seine Gedanken wieder kurz davor zu kreiseln: Wie auffällig war es? Was würde die Crew später bemerken? Doch er rief sich ins Bewusstsein, dass sie eben genau deswegen jetzt hier vor diesen Frauen standen.
Rúnar nahm die Hand der Frau in seine, hielt sie, als hätte er die Dame gerade zum Tanz aufgefordert -- sanft, höflich ... diplomatisch. Rúnar warf Tarón nicht gerade unauffällig einen Blick zu, sah dann wieder zurück zu der jungen Frau. (Spätestens wenn er hinter ihnen beiden die Tür des Gästezimmers schließen würde und sie darum bitten würde, mit ihm die Zeit auszusitzen, würde sie schon verstehen, was Sache war.) "Mein Begleiter wird bezahlen", sagte Rúnar, "deswegen überlasse ich ihm die Auswahl der Dienlichkeiten."
"Ich verstehe", sagte sie. Und Rúnar war sich, trotz seiner leichten Resttrunkenheit und seiner generellen Unaufmerksamkeit, sicher, dass sie alles verstand, was er ihr bedeutet hatte.
Der Umschwung in Rúnars Stimme war bemerkenswert – und doch überraschte er Tarón nicht. Nicht, nachdem Rúnar ihn an diesem verflucht langen Abend seine ganze Lebensgeschichte offenbart hatte.
Nicht einmal, dass der Blonde es schaffte die „Dame“ vor sich wie eben eine solche zu behandeln rang dem Falken mehr als ein leises innerliches Seufzen ab. Vielleicht war er sogar dankbar dafür, dass Rúnar so einfach mitspielte – schlecht fühlte er sich deswegen dennoch. Doch den Blick des anderen erwiderte er fest und bestätigend: das hier war der Weg. Sie hatten ihn eingeschlagen, sie gingen ihn nun bis zum Ende. Und Tarón würde dafür zahlen - auf mehr als eine Weise.
Auch auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus und das seine war trotz der Umstände deutlich echter als das Rúnars. Die drei waren hübsch genug und rochen halbwegs anständig, so, dass ihre Gesellschaft vielleicht sogar erfreulich werden konnte.
Doch wo Rúnar sich noch immer wie ein gestrandeter Adeliger verhielt, war Tarón sich sehr bewusst darüber, dass diese Mädchen aus einem Loch stammten, das nur unbedeutend tiefer lag als das, aus dem er einst gekrochen war. Er machte sich nicht die Mühe so zu tun, als wisse er nicht wie ihre Lage aussah oder als seien sie etwas, das sie nicht waren. Und das schloss ihn selbst mit ein.
Er klopfte Rúnar kurz auf den Rücken, warf ihm ein verschmitztes Lächeln zu, das dann zu der Dunkelhäutigen und anschließend weiter über die anderen beiden Mädchen strich – doch nicht, ohne dass sich etwas anderes in seinen Blick schlich. Eine unausgesprochene Drohung besser die richtigen Worte und Entscheidungen zu treffen.
„Na Rúni – glaubst du, du schaffst auch zwei? Wenn nicht – ich bin ja zum Glück auch noch da.“
Zumindest die Dunkelhäutige schien schlau und im Umgang mit seinesgleichen erfahren genug, um auch gut zwischen den Zeilen zu lesen (nicht, dass er davon ausging, dass sie tatsächlich lesen konnte). Sie lächelte nur und sah kurz zu ihren Freundinnen.
Das hier war ein Geschäft – und egal ob diese beiden Männer nun wirklich den Dienst wollten, den sie hier offen anpriesen oder es um etwas anderes ging, sie alle drei würden heute wohl nicht mit leeren Taschen gehen müssen.
„Wohnt ihr in der Nähe?“
Ein misstrauisches Flackern, ein kurzes Zögern. Die Dunkelhäutige sah zu der Brünetten. Doch welche Wahl hatten sie denn schon?
„Ja. Nur eine Straße weiter.“ Antwortete das Mädchen mit den Kastanienhaaren.
„Wunderbar. Nun ich würde vorschlagen ihr zeigt es uns - und ich zeige euch dafür vielleicht noch ein paar von denen.“
Er ließ die Tylps auffällig doch kurz genug in seiner Hand aufblitzen, ehe sie in den Tiefen seiner Manteltaschen verschwanden.
Wenn sie sich klug anstellten, würde er tatsächlich großzügig sein. Großzügiger, als er sein musste – doch die Jahre hatten wohl weich werden lassen. Diese armen Dinger taten ihm in erster Linie leid und wenn sie ihnen einen Dienst – welcher Art auch immer – erwiesen…nun…er konnte dieses Silber – vielleicht sogar etwas Gold - aktuell entbehren und sie konnten von dem was er ihnen anbot eine Weile überleben.
„Also?“
Und so gingen sie mit ihnen. Und trotz dessen, dass es klein und ärmlich war, fügte sich das Häuschen, das sich die drei teilten, doch in die Fassade des schönen Ostyas ein. Sie hatten tatsächlich nicht viel. Tarón erfuhr in den nächsten Stunden, dass die Brünette und die schwarzhaarige Schwestern waren und weitere Details ihres weitgehend verkorksten Lebens. Wie er geahnt hatte, gab es keine Familie, die ihnen helfen konnte, keinen Mann, der sie ehelichen wollte und auch keine Fähigkeiten mit denen sie ein nennenswertes Einkommen erzielen konnten – abgesehen von denen, die sie bereits feilboten. Doch die Dunkelhaarige konnte zumindest gut genug nähen, um Rúnars Hemd zusammen zu flicken, während sie sich um diesen im Nebenzimmer „kümmerte“ und die Hände der Dunkelhäutigen waren fest und zart zugleich, als sie Taróns Rücken massierte. Dabei bleib es auch – zumindest was ihn anging. Ein wenig reden, eine kleine Wohltat für seinen Rücken, der Schwur ihrerseits zu behaupten sie seien die halbe Nacht hier gewesen und hätten es wie die Irren mit ihnen getrieben. Und das Gefühl von allen Seiten – Rúnar vielleicht ausgenommen – diese Nacht einen guten Deal gemacht zu haben, als ein Achter am Ende schimmernd in die dunkle Hand des ältesten Mädchens fiel.
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