29.03.2018, 08:36
Der Dunkelhaarige lächelte in sich hinein.
Ganz offensichtlich hatte sein kleines Ablenkungsmanöver ihr für einen Augenblick im wahrsten Sinne des Wortes den Atem geraubt. Er hatte ihre Anspannung gespürt, als ihre Lippen sich für einen halben Lidschlag berührten und noch deutlicher wurde ihm die, als er sich zu ihrem Ohr vorbeugte. Die kühle Schale von gerade eben wurde zu dem ausgewachsenen Wunsch, ihm und seiner unmittelbaren Nähe zu entkommen.
Allerdings schien er die Schwarzhaarige nicht so weit aus dem Konzept gebracht zu haben, damit sie ihm den kleinen Sieg kampflos überließ. Oder aber er hatte sie tatsächlich zu sehr aus der Bahn geworfen, denn anders war ihre Reaktion kaum zu erklären. Trotz ihrer deutlichen Abneigung gegen seine Nähe war dieses Mal sie es, die näher kam. Um dem Zwieback zu folgen.
Reflexartig wich Lucien noch weiter zurück, konnte dabei ein belustigtes Lachen nicht unterdrücken. Trotzdem war er nicht schnell genug, um Shanaya zu entwischen, sodass sich gleich darauf ihre Finger um sein Handgelenk schlossen. Die Haut dort war noch immer empfindlich und verschorft, doch der 21-Jährige überging das kurze Gefühl des Unwohlseins. Immerhin war auch er nicht bereit, das erbeutete Zwieback einfch so wieder her zu geben. Er wechselte also die Taktik, drehte den Spieß wieder um...
Den Schwung ihres Näherkommens nutzend, riss Lucien den Arm mit dem Gebäck in die Höhe, um es vor ihr in Sicherheit zu bringen, bevor ihr Griff ihn davon abhalten konnte. Unvermittelt fühlte er sich an die hunderten Male erinnert, in denen er seiner kleinen Schwester etwas stibitzt hatte und auch bei ihr hatte er seine Größe ausgenutzt. Allerdings war es im Gegensatz zu diesem Moment etwas ganz anderes, wenn eine Zehnjährige an einem hoch hüpfte und dabei bitterböse schimpfte... Er ersparte ihnen beiden diese Peinlichkeit, indem er aus der gleichen Bewegung heraus den freien Arm um ihre Taille legte und sie kurzerhand an sich zog.
In den schlangengrünen Augen blitzte erneut herausfordernd der Schalk auf, als er wieder ihren Blick auffing.
"Stimmt. Die Gesellschaft hier ist tausend mal besser als im Gefängnis.."
Der leise Unterton in seiner Stimme machte deutlich, dass er genau wusste, worauf Shanaya anspielte. Nicht, dass seine Zellennachbarn nicht allesamt sympathischen Leute gewesen wären, aber die Sache mit dem Frauenmangel konnte einem schon zu schaffen machen. Mit Männern hatte er es eben einfach nicht so. Doch bevor sich die Gedanken an die letzten beiden Jahre deutlicher manifestieren konnten, verdrängte Lucien sie gewaltsam aus seinem Verstand. Er blieb im Hier und Jetzt, widmete sich umso intensiver seiner schwarzhaarigen Gesellschaft, um nicht tatsächlich dorthin abzurutschen, wohin ihn seine Erinnerungen für einen Herzschlag hatten führen wollen. Doch für diesen kurzen Moment war der gutgelaunte Ausdruck aus seinen Augen verschwunden, kehrte erst jetzt wieder zurück.
"Was genau habe ich denn deiner Meinung nach in meiner Zelle verlernt, Shanaya? Wie ich eine Frau dazu bringe, sich für mich zu interessieren? Klappt doch eigentlich ganz gut – du kannst dich ja kaum von mir losreißen."
Da er sie gerade fest hielt, war ihm die Ironie dieser Worte sichtlich bewusst. Er musste erneut ein Lachen unterdrücken, grinste aber amüsiert.