Fünf Tage lang hielt die Sphinx auf ihrer Flucht beständig Kurs gen Süden. Kurs auf die Freien Gewässer zwischen Lilanja und Mîlui und das ehemalige Herzogtum Birlan.
Nichts ließ bisher darauf schließen, dass die Anwesenheit der Löwin mit den roten Segeln am Schauplatz des Überfalls auf die Morgenwind gesehen worden war. Geschweige denn, dass man sie verfolgte. Kein Schuss aus schweren Geschützen erklang in jener Nacht und als die Sonne am nächsten Morgen über den Horizont kletterte, hoben sich die Silhouetten der Triumph und der Königswitwe lediglich schwach und winzig gegen den blassblauen Himmel ab. Verharrend am Ort des Geschehens.
Dennoch entschied die junge Piratencrew, ihr Glück nicht weiter heraus zu fordern und zunächst einen Ort zu finden, der ihnen Sicherheit bot. Nicht zuletzt mit einem Blick auf den schlechten Zustand ihrer Neuzugänge. Denn mit Talins Bruder, dessen Befreiung trotz des unglücklichen Endes des Gefangenentransporters doch noch gelungen war, kamen auch die beiden ehemaligen Häftlinge Yaris Scottsdale und Farley Dunbar, sowie die beiden Marineoffiziere Enrique de Guzmán und Kaladar an Bord. Gerade die beiden Soldaten wurden nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen, standen jedoch vorläufig unter dem Schutz der Captains.
Beinahe sofort nahm sich Gregory der Verletzten an und versorgte jeden, der ihn ließ. Zugleich kümmerte sich Rayon, der in weiser Voraussicht eine akzeptable Ausrüstung für die Kombüse besorgt hatte, mit gewohnter Ruhe darum, dass jeder Mann und jede Frau anständiges Essen erhielt, bis selbst bei Yaris und Farley die schlimmsten Anzeichen der Mangelernährung nachzulassen begannen. Lediglich den neuen Captain bekam bis auf Talin, die die Versorgung ihres Bruders selbst übernahm, fast niemand zu sehen.
Doch nicht nur die Besatzung hatte sichtbar unter der Flucht gelitten, sondern auch die Sphinx. Nur einen halben Tag nach dem Untergang der Morgenwind drang durch einige schlecht verteerte Planken Wasser in den Rumpf ein und verdarb einen Teil des Proviants. Greo und Aspen schafften es zwar, die Lecks provisorisch zu verschließen, doch um eine anständige Reparatur würde das Schiff nicht herum kommen. Taue, Seile und Netze, vom Salzwasser zerfressen, rissen bereits, und die Vorräte, um das beschädigte Takelwerk zu ersetzen, gingen zur Neige. Darüber hinaus hatte die einstige Crew nach der Meuterei nur wenig Werkzeug und noch weniger Waffen an Bord zurück gelassen. Ein Missstand, der im Bestreben Talins Bruder zu retten nie behoben worden war.
Dennoch machte die Löwin mit gutem Wind gewohnt zügige Fahrt, als am Morgen des fünften Tages Liam aus dem Krähennest nahes Land meldete. Eine kleine Insel zeichnete sich gegen den hellen Himmel ab – zu klein, um auf den gängigen Karten der Ersten Welt verzeichnet zu sein. Im Norden und Westen erhoben sich Steilwände gegen das offene Meer, immer wieder durchbrochen von kleinen Strandabschnitten. Im Süden und Osten flachte das Eiland zu schmalen Sandstränden ab. Den Rest der Insel bis hinauf auf die Steilwände bedeckte ein tiefgrüner, undurchdringlicher Urwald wie ein dicker, samtener Teppich.
Es ist früher Vormittag des 21. März. Die Sonne wandert langsam einen strahlend blauen Himmel hinauf und lässt das seichte Wasser nahe der Insel türkisfarben leuchten. Die Sphinx liegt inzwischen in einer beinahe kreisrunden Bucht am Strand, fast gänzlich umschlossen von über hundert Schritt hohen Felsklüften, die sie vor manch suchendem Fernrohr sicher verbergen. Der ideale Ort, um einige Tage im Verborgenen abzuwarten, bis sich der Staub gelegt hat.
Angesichts der dürftigen Proviantsituation und der zum Teil erheblichen Schäden am Schiff haben sich diejenigen aus der Crew, die wohlauf waren – oder dies zumindest felsenfest behaupteten – vor etwas mehr als einer Stunde in zwei Gruppen aufgeteilt und die Sphinx verlassen.
Aspen, begleitet vom ehemaligen Leutnant de Guzmán und dem noch immer etwas skeptisch beäugten Dieb Ryan, haben sich bis jetzt etwa eine Meile tief in den Urwald geschlagen, um geeignetes Holz für die Schiffsreparatur zu finden. Das und alles, was ihnen noch brauchbar erschien. Ihre jeweiligen suchenden Wege haben die drei Männer bereits einige Schritte voneinander getrennt, als Ryan auf etwas stößt, das auf den ersten Blick nur ein Stein unter dichtem Moos hätte sein können. Auf einen zweiten jedoch offenbaren sich deutliche Spuren menschlicher Einwirkung. Und unter Gras und Farnen verborgen bilden weitere behauene Steine etwas, das einmal eine Mauer gewesen sein könnte.
Kaladar und Trevor indes durchkämmen unter der Führung Rayons den nahen Wald nach Spuren von Wild und Hinweisen auf alles, was essbar sein und den leeren Laderaum der Sphinx füllen könnte. Trevor erhielt zudem von seinem Cousin, der an Bord zurück blieb, den Auftrag, einige bekannte und leicht erkennbare Heilkräuter mitzubringen, so ihm denn zufällig einige davon begegneten. Da die Anzeichen von Wildbestand jedoch zunächst ausbleiben, beschließt Rayon kurzerhand, seine Gruppe durch den lichten Wald näher zum Strand zu führen und dort nach Krebstieren und Schildkröten Ausschau zu halten. Nicht wissend, das dort noch mehr wartete, als die Früchte des Meeres.
21. März 1822 24 °C, klarer Himmel, sonnig Vormittag, etwa 4 Stunden nach Sonnenaufgang 72 % Luftfeuchtigkeit, 23 ーC Wassertemperatur
Shortfacts # Schauplatz: Eine verlassene Insel nördlich des ehemaligen Herzogtum Birlans. # Rayon, Skadi und Trevor durchkämmen auf der Suche nach Proviant und Heilkräuter ein Waldstück nahe eines Strandes im Westen der Insel. # Aspen, Enrique und Ryan sind auf der Suche nach brauchbarem Holz tiefer ins Inselinnere vorgestoßen. # Talin, Shanaya, Liam, Yaris, Gregory, Farley, (Greo) und Lucien sind auf dem Schiff zurück geblieben. # Scortias und Cornelis lagern am westlichen Strand der Insel, dem sich die Gruppe um Rayon gerade nähert. # Gregory hat sich um die Verletzungen aller gekümmert, so man ihn gelassen hat. # Shanayas Platzwunde musste genäht werden und heilt nun unter einem Verband gut ab. # Skadis Gesicht ziert noch immer ein blau-bräunlicher Bluterguss. Die zahlreichen Schnittwunden auf ihrem restlichen Körper heilen gut. # Gregory ist bisher der einzige, dem Skadi ihr Geheimnis offenbart hat.
Scortias hatte keine Ahnung, wie lange sie nun schon hier auf der Insel fest saßen. Er zählte die Tage nicht, sondern hoffte jeden Tag aufs Neue, dass jemand ihn und Feuerbart finden würde. Ab und an, aber selten, bereute er es ein wenig, dass er zum Captain gehalten hatte und somit mit auf diese Insel ausgesetzt wurde. Aber Cornelis hatte ihn wahrscheinlich damals das Leben gerettet und deswegen würde er sich niemals gegen den hochgewachsenen Mann stellen. Der Rotbart hatte sich allerdings verändert und war nicht mehr der fröhlich, kumpelhafte Mann, den Scortias damals kennen gelernt hatte. Seit sein Steuermann und sein Quartiermeister tot waren, war auch etwas in Van der Meer gestorben. Diese Herzlichkeit und Unbeschwertheit waren wie ausradiert. Das, was der Schiffsjunge so sehr an ihn geschätzt hatte. Wenn man dem Captain in die Augen sah, bekam man fast schon eine Gänsehaut. Er war enttäuscht, hasserfüllt, auf Rache aus. Der Junge konnte es sogar teilweise verstehen. Die Onyx war sein Ein und Alles, sein ganzer Stolz und nun wurde sie ihm geraubt. Scortias hatte die Meuterer Wright und Roberts von Anfang an nicht leiden können. Sie hatten ihn wie Dreck behandelt und teilweise geschlagen und getreten. Fast jeden Tag hatten sie sich neue Gemeinheiten für den Jungen ausgedacht. An einem Seil wurde er am Schiff hinunter gelassen und musste das Schiff von Außen reinigen. Sogar unter der Wasseroberfläche. Die Seile hatten so sehr an den Beinen geschnitten, dass Scortias lange mit den Wunden an den Leisten zu kämpfen hatte. Und jeden Tag kam ja wieder etwas neues, was sie sich ausdachten. Er war so froh, wenn der Captain ihn dann mal brauchte, damit die beiden ihn in Ruhe ließen. Aber verpetzt hatte er sie nie. Das war eine Angelegenheit zwischen dem neuen Steuermann, dem neuen Quartiermeister und ihm. Am wohlsten hatte sich der Zwölfjährige am Ende aber beim Smutje ‚Rog‘ gefühlt. Er hatte zwar auch eine raue Schale, aber im innerem hatte der stämmige Mann ein gutes Herz und das ließ er den Jungen auch immer wieder spüren.
Und dann kam die Meuterei. Scortias hatte von den Plänen nicht viel mitbekommen. Die Mannschaft wusste, dass der Schiffsjunge dem Captain sehr loyal gegenüber stand, gerade, weil der Rotbart ihm das Leben gerettet hatte. Das Getuschel wurde meistens beendet, sobald sich Scortias zu ihnen aufmachte. Ihm wurden absichtlich Arbeiten auferlegt, die weit weg von den Gesprächen stattgefunden hatten. Und dann war es soweit. Er sollte sich entscheiden, ob er mit Feuerbart auf die Insel ging, oder sich der Mannschaft anschloss. Lange musste Scortias nicht überlegen. Ohne den Captain, hätten sie ihn wohl bei nächster Gelegenheit den Haien zum Fraß vorgeworfen. Und da war er nicht besonders scharf drauf, denn der Schiffsjunge hatte eine Mordsangst vor Haien. Mal davon abgesehen, das jeglicher andere Tod keine Option für den Jungen gewesen wäre.
Seit einigen Wochen war er nun mit Cornelis ‚Feuerbart‘ van der Meer hier auf der Insel. Aber auch das war kein Zuckerschlecken, denn der Mann war sehr isoliert. Er redete nicht viel und gab nur Anweisungen, wenn der Junge etwas erledigen sollte. Naja, wenigstens war das Wetter schön, so dass man sich hin und wieder mal etwas im Wasser aufhalten konnte um zu spielen. Sie hatten sich eine kleine Behausung aus Holz und Blättern gebaut. Dort drinnen nächtigten beide. Davor, mit Meeresblick, war eine Feuerstelle, an der sie ihre Beute grillten. Meisten gab es Fisch, der Scortias schon zu den Ohren heraus hing. Die Palmen ringsherum trugen nahrhafte Früchte wie Kokosnüsse und Bananen. Und mit viel Glück konnten sie mal ein Tier erlegen, das sich aus dem Dschungel heraus gewagt hatte. Doch in den Wald, um zu jagen, durfte Scortias nicht. Feuerbart hatte es ihm verboten. Wieso, das hatte der Mann dem Jungen nicht gesagt, aber der zwölfjährige Floh hörte auf ihn, denn der Captain war so etwas wie sein Vorbild und Mentor, vielleicht sogar so etwas wie ein Vater geworden. Seit Tagen hatten sie immer wieder Holz heran geschafft und auf einen großen Haufen gelegt, damit sie ein Signal senden konnten, sollte sich mal ein Schiff nähern. Aber diese Insel schien von allen Göttern verlassen zu sein. Hätte Scortias einen Bartwuchs, wäre die Gesichtsbehaarung bestimmt schon bis zu den Knien gewachsen. Zumindest kam es dem Jungen so vor, als sei er schon so lange hier.
Es war Vormittags. Scortias saß auf einem Palmenstamm, der recht waagerecht, nahe dem Boden gewachsen war. Er hatte eine knielange, weiße Unterhose an, sonst nichts, denn es war heute wieder sehr warm. Eines seiner Beine pendelte vor und zurück, das andere war auf dem Stamm abgesetzt. Einer seiner Ellenbogen lag auf seinem Knie. In der Hand hatte er eine exotische Frucht, deren Namen er nicht kannte. Aber er wusste, dass man sie essen konnte, denn auf dem Markt von Kitar hatte die Obsthändlerin diese Frucht verkauft. Er erinnerte sich gerne an Kitar zurück und vor allem an die Obsthändlerin, mit ihrer dreizehnjährigen, hübschen Tochter. Die Flüssigkeit der Frucht hatte sich über die Wangen des Jungen ausgebreitet, als er herzhaft in das Fruchtfleisch hinein biss. Einiges davon tropfte auch an seinem Kinn hinab, was er mit dem Handrücken wegwischte. Die Sonnenstrahlen legten sich wärmend auf seine Haut, die von dem tagelangen einwirken sehr braun geworden war. Über ihm wiegten sich die Palmenblätter in dem seichten Wind, der ab und an über die Insel wehte. Die Wellen des Meeres, die an den Sandstrand gespült wurden, gehört langsam zum Alltagsgeräusch und wurden nicht mehr wirklich wahr genommen. Am Anfang hatten sie den Jungen immer wieder ins Wasser gelockt. Wenn der Schiffsjunge nicht hier festsitzen würde, hätte er den Ort als wohl einen der schönsten Orte bezeichnet, aber im Moment war es einfach nur ein Gefängnis. Es fühlte sich erdrückend an hier fest zu sitzen. Scortias schmiss die Schale seiner Frucht weg und lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm der Palme. Er nahm seine Flöte in die Hand und hielt sie an den Mund. Dann fing er an ein Lied zu spielen, welches er von seiner Mutter kannte, als sie ihn damit früher in den Schlaf gesungen hatte. Er wusste, dass er noch Holz besorgen musste, aber es war ja noch früh am Tage. Wo der Captain gerade war, das wusste er nicht. Er meldete sich selten bei Scortias ab, wenn er irgendwohin ging. Naja, bis auf den einen Tag, als er die Insel umrunden wollte. Da war er lange weg. Ganze vier Tage war Scortias alleine und hatte sich etwas Sorgen um den Mann gemacht. Der Junge wäre wohl noch zwei Tage geduldig gewesen, bevor er sich dann auf die Suche nach ihm gemacht hätte. Doch Feuerbart tauchte wieder auf. Allerdings ohne etwas brauchbares gefunden zu haben, was ihnen irgendwie aus dieser Lage hätte helfen können. Naja, bis auf ein Wildschwein, das sehr lecker gewesen war.
Oh nein! Sie lebte! Und was noch viel schlimmer war – ihr Plan hatte funktioniert. Was machten diese ganzen Zweifler und Langweiler nun bloß alle? Vielleicht lernten sie ja daraus, dass alles funktionierte, was SIE sich vornahm. Wenn vielleicht auch nicht ganz unbeschadet. Aber diesem Stuhl hatte sie es gegeben. Ihre Wunde, die heute wieder nur halb von dem Verband bedeckt war, heilte gut ab. Und über Folgeschäden musste sie sich keinerlei Gedanken machen – den Schaden hatte sie vorher schon gehabt. Da gab es wohl Nichts, was noch kaputt gehen konnte. Da konnte man ihr noch so viele Stühle an den Kopf werfen. Sie spürte noch ein leichtes Pochen, wenn sie sich zu schnell bewegte. Aber Nichts, was sie aufhalten würde, eben genau dies zu tun. Einen Tag hatte sie sich Ruhe gegönnt, bevor sie schon wieder mit der Arbeit angefangen hatte. Erst die ganzen Kleinigkeiten, zwischendurch um die ganzen Neuen herum schleichen. Und hah! Noch etwas, was sie den anderen vorhalten konnte. Sie hatten nicht nur Talins Bruder befreit – sondern auch noch andere. Mit den beiden Marinetypen war sie nicht wirklich zufrieden, aber irgendwie musste sie sich wohl für den Moment damit arrangieren. Sie war nicht der Typ, der ewig herum jammerte um seinen Willen durch zu setzen, also beäugte sie die beiden einfach skeptisch, achtete darauf, ob sie irgendwelche Schandtaten planten. Aber immerhin hatten sie nun einen Haufen Hände mehr, die dabei helfen konnten, bisher acht. Zwei weitere versteckten sich. Vielleicht hatte er Angst? Hatte er ihre Enttäuschung gesehen? Sie berührte den neuen Captain bestimmt so sehr, dass er ihr nicht gegenüber treten konnte. Ganz klar und kein bisschen dramatisiert.
Ein leises Schnaufen folgte auf diesen Gedanken und Shanaya hörte auf mit dem Stift auf dem Buch herum zu tippen, das aufgeschlagen auf ihrem angewinkelten Bein lag. Das andere baumelte neben dem Fass, auf das sie sich nieder gelassen hatte und zu den Klippen empor blickte. Den Rücken zum Haupteck gedreht saß sie nun schon eine Weile da, betrachtete die Zeichnung der Klippen auf der Seite, auf der sonst nur ein paar scheinbar wirre Zahlen standen. Immer wieder hatte sie Kleinigkeiten ausgebessert, sah jedoch nicht nicht zufrieden aus. Nicht so, wie sie es haben wollte. Der blaue Blick huschte kurz zu dem Eimer, der nur wenige Schritte entfernt von ihr stand. Sie hätte weiter das Deck schrubben können. Aber sie hatte es fast komplett gesäubert, nachdem die Gruppen vom Schiff gegangen waren. Also drehte sie den Kopf noch ein bisschen, schielte soweit hinter sich, wie es ihr möglich war und seufzte dann leise. Sie war einfach noch nicht so einsatzfähig wie sie es gern gewollt hätte. Was blieb ihr also übrig außer hier zu sitzen und weiter die Klippen zu zeichnen? Die Schwarzhaarige hatte überlegt, ob sie eine der Gruppen begleiten sollte. Aber irgendwo in ihr schlummerte wohl doch noch ein winziger Hauch gesunder Menschenverstand – und der hatte ihr ganz klar gesagt, dass sie sich lieber noch Ruhe gönnen sollte. Nur noch ein bisschen. Und so hob die junge Frau das Buch von ihrem Schoß, hielt es gegen die Sonne und über die Klippe, die genau in ihrem Blickfeld lag. Da musste sie noch einiges ausbessern und so lange kümmerte sie sich erst einmal nicht um die Geräusche von Schritten und Stimmen. Wenn irgendjemand etwas von ihr wollte, würde er schon zu ihr kommen.
Wie viele Schutzengel sie da wohl gehabt hatten, die dafür gesorgt hatten, dass ihr Plan tatsächlich funktionierte? Zwischendrin hatte er sich ja wirklich damit abgefunden gehabt, dass sie aufgeflogen waren, die Wendung allerdings hatte er nicht vorhergesehen. Im Endeffekt hatten sie wieder mehr Glück als Verstand besessen, aber Liam war niemand, der das bedauerte. Wenn man es so wollte, beherrschte ohnehin das Glück sein Leben, wenn man bedachte, wie kopflos er in manche Situationen hineinschlitterte. Trotz seiner Abenteuerlust allerdings war er ganz froh um die Ruhe, die nun um sie herum herrschte. Sie wurden nicht verfolgt und konnten sich ganz bequem darum kümmern, das Schiff wieder auf Vordermann zu bringen. Er bereute es nicht, sich diesen Verrückten angeschlossen zu haben, selbst wenn er sich noch immer nicht als Teil von ihnen sah. Er half ihnen, so wie er es Talin versprochen hatte. Als Gegenleistung hatte er eine günstige Mitfahrgelegenheit. Auch, wenn er sein Versprechen mittlerweile eingehalten hatte – Talins Bruder war immerhin frei – stand bisher noch außen vor, dass er wieder von Board ging. Im nächsten, belebten Hafen vielleicht. Vielleicht auch erst im Übernächsten. Im Augenblick jedenfalls konnte die Crew der Sphinx noch genügend Hilfe gebrauchen. Seine Kopfschmerzen waren recht schnell verschwunden, kaum dass man ihn mit den übrigen aus dem Wasser gefischt hatte. Die Schusswunde an seiner Hüfte hingegen hatte wieder zu ziehen begonnen und war durch das Salzwasser gereizt und wund gewesen. Auch jetzt noch spürte er sie, wenn er sich falsch bewegte oder etwas dran kam – alles in allem aber hatte er es bei weitem nicht so schlimm getroffen wie einige der anderen. Um sich nützlich zu machen, hatte er Rayon in der Küche geholfen. Er war froh, nicht mehr allein kochen zu müssen. Jetzt konnte er vor allem die Verantwortung abgeben und musste nur noch Handlangertätigkeiten vollbringen. Wenn es nicht schmeckte, war der Dunkelhäutige schuld. Aber meistens machten sie es doch jedem recht.
An diesem Tag hatte er sich dafür entschieden, auf dem Schiff zu bleiben, während der Rest sich auf die Suche begab. Liam hingegen hatte sich vorgenommen, die Stellen, die geflickt werden mussten, zu notieren und vorzubereiten. Er hatte bereits einen ganzen Haufen rissiger Taue zusammengetragen, die ersetzt werden mussten. Etliche hatte er zudem notiert, da sie im Augenblick noch ihre Aufgabe erfüllten. Wenn die anderen mit genügend Materialien zurückkamen, würde man auch diese ersetzen können. Andererseits würde man sie eben im Auge behalten müssen, um sie – rechtzeitig, wenn möglich – auszutauschen, bevor es zu spät war.
Seinen Haufen Taue und Netze hatte er neben der Treppe zum Achterdeck platziert und ging nun noch einmal seine Liste durch. Wollte man jedenfalls meinen. In Wahrheit nämlich hatte er längst wieder begonnen, auf dem Papier herumzukitzeln. Eine kleine Mumien-Shanaya prangte in einer Ecke, während die andere Ecke von einer Sineca im Tauhaufen eingenommen wurde. Die kleine Ginsterkatze genoss den Stapel nämlich als keinen, abwechslungsreichen Spielplatz.
{ sammelt kaputte Seile | Hauptdeck an der Treppe zum Achterdeck }
Er musste das Gesicht abwenden.
Zum ersten Mal seit fast zwei Jahren spürte er die Sonne auf der Haut, stach die unerwartete Helligkeit in den tiefgrünen Augen, die bis jetzt nur schummriges Dämmerlicht gewohnt waren. Er hob die Hand über den Kopf, blinzelte einige Male in dem Schatten, den sein Arm nun warf und doch dauerte es, bis sein überreizter Sehnerv überhaupt etwas wahrnahm, außer gleißendes Weißgelb. Zunächst nur die Planken rechts neben der Tür zum Inneren des Achteraufbaus und dann, als er es wagte, den Kopf wieder zurück zu drehen, eine Treppe, ein Deck, Masten, feuerrote Segel und dahinter steile Felsen und einen strahlend blauen Himmel. Ein schwacher Wind fuhr ihm durch die beinahe schwarzen Haare, die er mit einem scharfen Messer wieder auf erträgliche Länge gekürzt hatte. Nur nicht lang genug, um die Narbe in seinem Nacken zu verdecken, doch damit würde er in Zukunft leben müssen. Damit und mit so einigem mehr, das in den vergangenen drei Jahren seine Spuren an ihm hinterlassen hatte.
Langsam ließ Lucien den Arm wieder sinken, holte tief Luft und ein flüchtiges Schmunzeln umspielte seine Lippen. Das Gefühl, das ihn durchströmte, war schwer zu beschreiben. Noch viel schwerer zu greifen. In seinem Leben hatte neben seiner Schwester nie etwas anderes eine Rolle gespielt als der Gedanke an seine Freiheit. Seine Freiheit und das Meer. Das eine hatte er bekommen, zumindest ein wenig davon. Das andere blieb ihm 21 Jahre lang verwehrt. Und von einem Tag auf den nächsten... sollte er beides kriegen? Das war verdammt schwer zu verarbeiten.
Nicht zuletzt deshalb hatte er die letzten Tage in der Kajüte verbracht. Er wusste nicht genau, wie viele insgesamt, denn sein Gefühl dafür war schon seit langem völlig hinüber. Den Großteil der Zeit hatte er ohnehin geschlafen, sich ausgeruht und neue Kraft gesammelt. Unter dem hellen Leinenhemd, das er trug – zurück gelassen von der ehemaligen Crew der Sphinx – zeichneten sich noch immer seine Knochen unter der Haut ab. Seine Handgelenke waren ordentlich in Verbände gehüllt. Darunter heilten die Schürfwunden, die die Eisenketten hinterlassen hatten. Doch er bildete sich zumindest ein, wieder ein wenig sicherer zu stehen und ein paar Gramm mehr auf den Rippen zu haben. Es würde noch etwas dauern, bis er wieder ganz der Alte war – aber wenn es weiter so verdammt gutes Essen gab, war er auf bestem Wege.
Mit einem hörbaren Knarzen zog er die Tür hinter sich zu, an deren Griff er sich noch hatte festhalten müssen nachdem die ungewohnte Helligkeit ihn etwas aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Jetzt ließ er sie los, trat einen Schritt weiter auf das Deck hinaus und ließ den Blick kurz schweifen. Von Talin zumindest gab es hier oben weit und breit keine Spur. Der nächste Gedanke wäre, kehrt zu machen und unter Deck nach ihr zu suchen – dort fand sich vielleicht auch noch etwas zu essen – doch die Verlockung von Himmel, Sonne und Meer war in diesem Augenblick stärker. Vielleicht steckte in ihm doch noch so etwas wie ein Romantiker. Das... oder vielleicht machte ihn seine plötzliche Freiheit aber auch einfach nur ein bisschen weich.
[Vor der Tür des Achteraufbaus | nur ein paar Schritte entfernt von Liam | nimmt aber weder Liam noch Shanaya bewusst wahr]
Feuerbart starrte stumm und unbewegt auf die Liste der Tage, die er mit einem spitzen Stein in die ein paar hundert Meter von ihrem Lagerplatz schroff aus dem Ufersand aufsteigende Felswand geritzt hatte. Zwanzig Tage - wieder loderte der Hass in ihm auf, kalt und hart wie Eis. Wäre Scortias in diesem Augenblick bei ihm gewesen und hätte ihm in die Augen gesehen, er wäre sicherlich vor ihm zurückgewichen - und das mit Recht. Wright, Roberts - mit seinem Herzschlag hämmerten diese beiden Namen in seiner Brust, durch sein ganzes Sein, und riefen die dunkelste und gefährlichste Seite des hünenhaften Mannes an die Oberfläche. Nach einer Weile ließ die Intensität des Haßes nach, auch wenn dieser nicht mehr verschwinden würde solange er keine Rache an den beiden Verrätern geübt hatte, und er wandte sich von der Steilwand ab und trat zum Meer hin, wo nun sein sehnsüchtiger Blick in die Ferne schweifte.
Tatsächlich war ein Teil von ihm gestorben an jenem verhängnisvollen Tag vor etwa einem halben Jahr. Den Tod seiner beiden Vertrauten mitanzusehen hatte einen Teil seines Herzens, seiner Seele, zerrissen wie die Handgranate Finn Murray und Pepe Díaz. Er hatte noch gerufen, wollte sie warnen, doch es war zu spät gewesen. In diesem Moment detonierte die Granate und riss seinen Steuermann und seinen Quartiermeister, die ihn die letzten knapp 14 Jahre seines Lebens begleitet hatten und auf die er immer hatte bauen können, in den Tod. Es folgte eine Zeit, in der er in den grauen Nebelschleiern der Trauer festsaß. Er zog sich immer mehr zurück und ließ sich auf niemanden mehr ein. Einzig Scortias mit seiner kindlichen Art, dem Diensteifer und seiner Fröhlichkeit, gelang es ab und an, ein paar Sonnenstrahlen durch den sonst undurchdringlichen Nebel zu schicken.
Oh ja, vernebelt mußte sein Verstand und sein Gefühl gewesen sein, daß er die schleimige und heuchlerische Vorstellung von Wright und Roberts nicht durchschaut hatte. Bei klarem Verstand hätte ihn seine gute Menschenkenntnis niemals so im Stich gelassen. Doch so kam das zweite Verhängnis an Bord der Onyx. Seine Zurückgezogenheit und die Trübheit seiner Gedanken hatten es den beiden Rädelsführern natürlich auch einfach gemacht, ihre Pläne in die Tat umzusetzen und ihr übles Spiel mit seiner Mannschaft zu treiben. Einzig sein Schiffsjunge, Scortias Bartholomew, war ihm die ganze Zeit über treu geblieben.
Es war eine schwere Zeit, die Zeit der grauen Trauer, und doch war es seit dem Unglück die bessere gewesen. Denn vor dreiundzwanzig Tagen, am Tag der offenen Meuterei auf der Onyx, war die Zeit des schwarzen Hasses angebrochen. Nun hielt ihn einzig und allein sein Rachewunsch am Leben und dementsprechend schlecht war es in seiner Gesellschaft zu sein. Es gab nur noch wenige Momente, in denen das Eis in seinem Herzen Risse bekam, und er Scortias ein gutes Wort oder ein Lob schenkte. Selbst der Junge, zu dem er in solch kurzer Zeit eine große Zuneigung entwickelt hatte, kam nicht mehr an ihn heran. In diesen Momenten tat Scortias ihm leid, daß er seine Gesellschaft aushalten mußte, und das war auch der Grund, weshalb er so viel allein umherwanderte. Er wollte nach Möglichkeit verhindern, daß der unschuldige und so treue Junge Opfer seines Hasses wurde. Und sein Hass wurde in der Zeit hier auf der Insel nur noch größer, da er hilflos mitansehen mußte, wie sich die Onyx immer weiter von ihm entfernte und seine Chancen, sie schnell wiederzufinden, schwanden.
Ein Laut des Unmuts - eine Mischung aus Knurren und Brummen - drang tief aus seiner Kehle. Dann raffte er sich auf und machte sich auf den Rückweg zum Lager. In der Hand hielt er den behelfsmäßigen Speer für die Jagd. Dieser bestand aus einem gerade gewachsenen Stock, an den er mit einer Art dünnen Liane sein Messer gebunden hatte. Als er um eine Biegung kam, stand dort im niedrigen Randgestrüpp des Urwaldes eine Art kleiner Hirsch. Oder war es eine große Rehart dieser tropischen Gefilde? Er wußte es nicht. Die wenigen Augenblicke, die das überraschte Tier brauchte, um den Kopf zu heben und in seine Richtung zu sichern, genügten ihm. Er riß den Speer hoch und warf ihn zielsicher auf die Beute. Er traf den Bock kurz hinter dem Blatt, dieser machte noch einige Sätze in Richtung Wald und verschwand im Schatten der hohen Bäume. Doch Feuerbart wußte, daß er nicht weit gekommen sein konnte. Er nahm die Verfolgung auf, doch stockte sein Schritt, als er den niedrigen Randbewuchs des Waldes passiert hatte und er unter die Bäume treten mußte. Spinnen! Er hatte einmal gehört, daß in solch tropischen Gefilden wie dieser Inseln riesige Spinnen in den Wäldern hausen sollten. Es war eine Furcht, eine Urangst, die er nicht verstand, doch sie war in ihm und er konnte nur wenig dagegen ausrichten. Nein, er wollte nicht Gefahr laufen, solch einem Vieh in diesen Wäldern zu begegnen, und noch mehr wollte er verhindern, daß ihn irgendjemand in dieser Hilflosigkeit gegen seine Spinnenphobie sah. Deswegen hatte er auch Scortias untersagt, die Wälder zu betreten. Doch nun war er allein, also atmete er einmal tief durch und machte einen Schritt nach vorn. Zum Glück fand er seine Beute nur wenige Schritte weiter, zog den Speer heraus und verließ eilig den Wald.
Nun ging er am Strandstreifen auf das Lager zu, seine Beute geschultert. Schon vor der letzten Biegung, die das Lager vor seinem Blick verbarg, rief seine volltönende Baßstimme mit einem kurzen "SCORTI!" den Schiffsjungen herbei.
Leise vor sich hin summend stieg Talin mit leichten Schritten die Treppe zum Kanonendeck hinab, bevor sie die Sachen auf ihren Armen mit einem leisen „Hepp“ wieder richtete, damit die Klamotten nicht herab fallen konnten. Als sie zufrieden war, setzte sie ihren Weg, immer noch summend und mit einem Lächeln auf den Lippen, fort. Es war schon eklig, wie ihre Laune in den letzten Tagen immer weiter gestiegen war. Die Anspannungen, die Ängste und Zweifel waren mit jeder Seemeile, die sie zurückgelegt hatten, kleiner geworden und schließlich ganz verschwunden. Und stattdessen machten sich Erleichterung, Entspannung und Freude in ihr breit, was sie durch Musik und so ein dummes Strahlemann-Lächeln zeigen musste. Je mehr sie darüber nachdachte, desto bescheuerte klang es in ihren eigenen Ohren, aber es war nun einmal wahr. Für den Moment konnte sie sich entspannen und ihre Sorgen vorläufig vergessen.
Sie hatten es wirklich geschafft. Sie hatten Lucien gerettet, hatten ihn aus der Gefangenschaft befreien können und er befand sich sogar auf dem Weg der Besserung. Wenn das für Talin kein Grund war, glücklich zu sein, dann wusste sie auch nicht.
Vor einem mit Stoffbahnen abgesperrtem Bereich blieb sie stehen und versuchte die Klamotten auf ihren Armen mit nur einem halten zu können, um durch einen Schlitz in den Tüchern hindurch schlüpfen zu können. Nach ein paar Augenblicken stand sie schließlich auf der anderen Seite des Bereiches in dem sich nun Gregorys Reich befand. Nachdem sie so viele Verwundete an Bord aufgenommen hatten und der Braunhaarige zwangsweise Arzt geworden war, hatte sie ihm auf dem Kanonendeck einen gewisse Fläche zum Arbeiten zur Verfügung gestellt. Wenn sie erst einmal die Sphinx wieder auf Vordermann gebracht hätten, dann würden sie diesen Bereich auch weiter ausbauen und nicht nur notdürftig mit Tüchern abhängen. Allerdings würde das vermutlich erst im nächsten Hafen passieren. Im Moment mussten sie in kleinen Schritten denken und das wichtigste war erst einmal die Reparatur des Schiffes und die Verpflegung der Mannschaft.
Die Blonde konzentrierte sich wieder auf das Hier und Jetzt, als sie die Sachen auf eine freie Fläche ablegte und sich gleich danach ein paar Strähnen aus dem Gesicht wischte, die sich aus dem Knoten in ihrem Nacken gelöst hatten. Danach wandte sie sich an den großen Mann, der sich in seinem Behandlungszimmer befand.
„Hey Gregory. Ich hab noch einmal ein paar meiner Sachen durchgesehen. Ich dachte mir, wir könnten sie zu Verbandszeug verarbeiten. Könnte zumindest nützlich sein.“
Sie dachte daran, dass Trevor bei der Jagdgruppe dabei war und er sich, bei seinem Glück und Verstand, an einem Dorn stechen würde oder – noch besser – an dem Messer, mit dem er die Pflanze abschnitt. Bei dem Gedanken an den jungen Mann, erinnerte sie sich an seine Aktion bei der Rettungsmission, als er über Bord ging. In ihre Augen schlich sich ein boshaftes Glitzern und ihre Lippen zuckten belustigt in die Höhe.
„Für Trevor wäre es sicher hilfreich. Du hast ihn doch losgeschickt, um Pflanzen für dich zu sammeln, oder? Meinst du er findet welche und verletzt sich auch nicht dabei?“
Der Wind, der die Palmenblätter hin und her schaukelte, strich auch kitzelnd über die Haut des Schiffsjungen, als dieser auf dem Palmenstamm saß und auf seiner Panflöte spielte. Der salzige Geruch des Meeres stieg ihm in die Nase. Wenn er die Augen schloss, konnte er sich vorstellen, dass er sich wieder auf einem Schiff befand. Für die Melodie, die er spielte brauchte er seine Augen nicht. Scortias konnte sie bereits auswendig. Erst ein Flügelschlag über seinem Kopf ließ ihn die Augen wieder öffnen. Ein seltsam aussehender Vogel mit buntem Gefieder hatte sich auf einem Ast im Nebenbaum gesetzt. Sein Schnabel war recht groß und ähnelte einer kleinen Banane. Der Junge grinste, während er das Lied weiter spielte. Vermutlich hatte er den Vogel mit den Tönen angelockt, die er seiner Flöte entnahm. Der Zwölfjährige setzte das Instrument von seinen Lippen und verdrehte seinen Hals etwas, um zu dem Vogel sehen zu können. Dabei kniff er eines seiner Augen zu, da die Sonne ihn blendete.
„Hey, hörst Du gerne Musik?“ fragte er den Vogel grinsend, mit dem Bewusstsein, dass dieser ihm sicher nicht antworten würde.
Aber nach so vielen Tagen war es dennoch schön, wenn man sich mit jemand unterhalten konnte. Mit dem Captain war es nicht so einfach und auch nicht mehr so schön, Worte zu wechseln. Oft bekam Scortias nicht mal eine Antwort, wenn er Fragen stellte, oder nur ein abwesendes Brummen. Allerdings wusste der Junge nicht, ob Cornelis ihn absichtlich ignorierte, oder ob er einfach nur in seinen Gedanken versunken war und ihn nicht gehört hatte. Aber eines war sicher, Van der Meer war alles andere als eine Plaudertasche, seit des harten Gefechts und der Mann dabei seine besten Freunde verloren hatte. Aber es war nicht so, als hätte Scortias diesen Verlust einfach so weggesteckt. Er kannte die beiden zwar nicht so gut wie der Captain, dennoch waren ihm Murray und Díaz in der kurzen Zeit ans Herz gewachsen. Sie hatten ihm einiges beigebracht und Geduld mit ihm bewiesen, da ja nicht immer alles gut funktioniert hatte. Die Schlacht war brutal gewesen. Die Onyx hatte ordentlich etwas abbekommen und die Splitter von dem zerberstenden Holzes hatten Scortias ein paar Schnittwunden zugefügt. An den Oberschenkeln, den Unterarmen und auch auf der Wage war der Junge von dem Kampf gezeichnet gewesen. Zum Glück heilten seine Wunden sehr schnell und hatten auch keine Narben hinterlassen. Er wusste aber auch, dass er damit recht glimpflich davon gekommen war. Auch ihn hätte es zerreißen können, wäre da nicht Rog, der Smutje, gewesen, der den Jungen noch rechtzeitig zur Seite gegen den Mast geschleudert hatte. Aber das alles war nun Vergangenheit. Ändern konnte man daran nichts mehr, genau so wenig, wie Scortias es nicht ändern konnte, dass seine Eltern ermordet wurden. Der Captain und er saßen jetzt auf dieser Insel fest, von der es nun galt zu entkommen.
“SCORTI!“
Scortias setzte sich aufrecht auf den Palmenstamm, als er seinen Namen hörte, der von der tiefen Stimme des Captains gerufen wurde. Der Vogel stieß sich von dem Baum ab und flog davon. Diese Abkürzung seines Namens hatte der Rotbart sich schon nach kurzer Zeit angewöhnt. Aber der Zwölfjährige hatte nichts dagegen. Sein Vater hatte ihn damals auch so genannt. Er mochte es sogar, wenn Van der Meer ihn so nannte.
„ICH KOMME!“ rief der Junge zurück und sprang von dem Stamm.
Die nackten Füße landeten im heißen Sand und bahnten sich schnell laufend den Weg zu Cornelis, der irgendwo hinter der nächsten Biegung sein musste. Scortias sprang spielerisch über einen Stein, der in seinem Weg lag und lief weiter, bis er Feuerbart erreichte. Er sah das Wild auf den Schultern des Mannes und lächelte. Endlich gab es mal keinen Fisch. Erst wenige Schritte vor Cornelis wurde der Schiffsjunge langsamer und blieb schließlich stehen. Er sah den hochgewachsenen Mann freudig und mit leuchtenden Augen an.
„WOW, … Irre!“ stieß er begeistert aus.
Der Zwölfjährige wusste nicht, ob er dem Mann irgendwie helfen konnte und würde einfach dessen Befehl abwarten, würde denn einer kommen. Aber aus irgendeinem Grund hatte er ihn ja gerufen, oder wollte er ihm nur seine Beute zeigen?
Sein eigentliches Vorhaben war längst in den Hintergrund gerutscht. Eigentlich wäre es jetzt an der Zeit gewesen, die Kisten und Fässer im Lager auf Schäden zu überprüfen, immerhin war er mit den Tauen und Netzen soweit durch. Stattdessen aber kritzelte und zeichnete er lieber auf ein Fass gelehnt auf seiner Liste herum. Wenigstens sah er dabei mächtig beschäftigt aus, denn sein kleines Tageswerk bäumte sich immerhin untermalend in seinem Rücken auf. Die Tür hinter ihm fiel zu und Liam zuckte unweigerlich an seine eigentliche Aufgabe erinnert zusammen. Im Übersprung kritzelte er hastig über die zuletzt gemachte Skizze, als würde man dann nicht mehr erkennen können, dass er gar abgelenkt gewesen war.
„Hast du mal nach den Kisten und Fässern geguckt?“, rief er unterdessen über seine Schulter hinweg, ohne nachzusehen, wer sich da an Deck begeben hatte.
Das spielte ja auch keine Rolle, immerhin hatte er niemanden darauf angesetzt, sich im Lager umzusehen. Wusste aber ja der nicht, den diese Frage nun traf. Liam faltete den Zettel kurzerhand zusammen und steckte ihn in eine seiner Hosentaschen, während er sich umwandte und – ziemlich erstaunt – ihren neu angekommenen Captain erkannte. Über diese Überraschung hinweg war auch seine Finte vergessen.
„Oh. Von den Toten auferstanden, mh?“, lächelte er dem von Sonnenlicht geplagten Mann zu.
Er sah besser aus als vor fünf Tagen, als sie ihn und seine Anhänger aus der Gefangenschaft befreit hatten. Sie sahen alle besser aus, aber wie das nun mal so war, fiel es einem kaum auf, wenn man die Leute jeden Tag mehrmals sah. Bei Lucien war es anders, denn der traute sich erst jetzt heraus, wo ein Großteil der Crew unterwegs war.
{ bei Lucien | Hauptdeck an der Treppe zum Achterdeck | Sineca im Tauhaufen }
„Ich glaub, der ist irgendwo ins Wasser gefallen, bei unserer Rettungsaktion. Ich hatte ihn nämlich an, und dann bin ich ins Wasser gefallen, also ist er wahrscheinlich mit reingefallen, das wär logisch, oder? Ich find das logisch. Und dann ist er halt untergegluckert – aber ohne mich, ich kann nämlich ziemlich gut schwimmen, weißt du! – Hey, das heißt, es liegt jetzt auf dem Meeresgrund! Wie ein geheimer Schatz!“
Trevor hielt abrupt an und glitschte dabei fast von dem umgekippten Baum, auf dem er mit weit ausgestreckten Armen balancierte. Im letzten Moment fing sich mit einer halben Pirouette und strahlte Kaladar an.
„Mein Schuh! Ein Schatz! Obwohl, na ja, da liegt ja jetzt bestimmt auch ein ganzer Haufen Soldaten und die hatten auch alle solche Schuhe, also ist meiner nicht der einzige … er ist ein Teil eines Schatzes!“
Überglücklich ob dieser Erkenntnis setzte er seinen Weg rückwärts fort. Er wusste schon gar nicht mehr, wie er eigentlich auf das Schuh-Thema gekommen war, aber es erschien ihm angebracht, schließlich steckte Kaladar ja buchstäblich mitten drin.
„Jetzt hab ich jedenfalls diese Schuhe hier“, er hob einen Fuß, so dass Kaladar den Stiefel begutachten konnte, in dem er steckte. „Greg sagt, ich soll nicht barfuß in den Wald gehen, wegen der ganzen kleinen Stöckchen auf dem Boden und den spitzen Steinen und den Dornen und diesen kleinen Tierchen, die sich irgendwo verstecken und dann hervorgeschossen kommen und deine Zehen abbeißen! Hast du noch alle deine Zehen? Ich kannte mal einen, der hatte am linken Fuß drei Zehen und am rechten sechs! Echt jetzt! Er hat gesagt, die am linken Fuß wurden ihm abgebissen und dann hat er das Viech erledigt und seinen Zeh wiedergeholt, aber es war gar nicht seiner, sondern der von einem anderen, seine waren nämlich schon verdaut, und der Zeh jetzt war von einem rechten Fuß, und dann musste er ihn auf der Seite wieder annäh– huch!“
Der Baumstamm endete jäh, Trevor fuchtelte noch einen Moment mit den Armen, aber da kippte er bereits und landete dumpf in dem Loch, dass der entwurzelte Baum im Erdreich hinterlassen hatte. Keinen Herzschlag später sprang er schon wieder auf die Füße.
„Nix passiert!“
Er klopfte sich fröhlich den Dreck von Hemd und Hose – mehr der theatralischen Geste wegen als aus wirklichem Wunsch nach Sauberkeit – und versicherte sich, dass der Beutel, den Gregory ihm gegeben hatte, noch an seinem Gürtel hing und nicht schon wieder in irgendeinem Geäst in zwei Metern Höhe.
„Wann sind wir eigentlich da?“
Er drehte sich ein paar Mal um sich selbst, sah aber in allen Richtungen nichts als Bäume und Wald und Bäume. Sie hatten eigentlich zum Meer gewollt, nachdem sich ihnen hier nichts gezeigt hatte, das nach Tier aussah. Seltsamerweise. Dabei hatte er sich wirklich Mühe gegeben, leise zu sein. Hin und wieder hatte er sogar an den anderen beiden schon mal das Anpirschen geübt. Aber Rayon war davon nicht sonderlich begeistert gewesen, obwohl Trevor ihm hoch und heilig versichert hatte, er wolle ja nur vorbereitet sein, sobald sie denn etwas fanden. Und bei Kaladar wollte es irgendwie gar nicht erst funktionieren. Also hatte er es nach einer Weile sein gelassen und war still und leise durchs Unterholz gekraxelt, hatte alles, was irgendwie nach Essbarem, Heilpfanze und Dekorationsblümchen für Shannys Kopfverband aussah, in den Beutel gestopft und höchstens mal fröhlich vor sich hin gepfiffen. Aber jetzt wollten sie ja doch Schildkröte und nicht Affe zum Mittag, also hatte er wieder mit dem Plappern angefangen.
„Wisst ihr, ich hab ja echt nichts gegen Schildkröten, aber um die Zehenfresser tut es mir schon leid, davon hätte ich wirklich gerne einen gefangen. Ich hätte ihn Greg mitbringen können, er freut sich immer, wenn ich Tiere mitbringe, wisst ihr, vielleicht dürfte ich ihn dann behalten! Also, den Zehenfresser. Greg darf ich auch so behalten. Oder er mich.“
Er kletterte geschickt aus dem Loch und beeilte sich, wieder zu den anderen beiden aufzuschließen. Doch auf halben Weg überlegte er sich scheinbar anders, drehte schräg ab, hüpfte über einen zweiten abgeknickten Baum und durch ein kleines Farnbeet. Gerade wollte er das Gewächs abrupfen, das er entdeckt hatte und das mit seinen haarigen Blättern nicht ganz, aber immerhin ungefähr so aussah, wie Gregory ihm eines seiner Kräuter beschrieben hatte. Mitten in der Bewegung hielt er inne.
„Hey, habt ihr das gehört?“, rief er halblaut über die Schulter.
Er legte den Kopf schief. Er war nicht sonderlich gut darin, Geräusche im Wald zu erkennen, aber er wusste, das er hier war, seine Freunde irgendwo rechts hinter ihm und sein Bruder auf der Sphinx. Damit war das vor ihm potenziell essbar.
„Da ist ja doch was!“, flüsterte er strahlend und im nächsten Moment war er schon auf dem Weg dorthin.
[Waldstück an der Westseite der Insel | erst bei Rayon und Skadi, biegt dann aber hinter ihnen nach links ab | hört vielleicht, vielleicht auch nicht Cornelis mit seinem Hirsch]