26.11.2017, 14:05
Zum Glück kannte Liam keine Angst. Zumindest keine Angst vor Personen, ganz gleich, welche Rolle sie spielten oder zu spielen glaubten. Er hatte nicht sonderlich viel für dieses Rollen- und Schichtsystem übrig, in dem die Gesellschaft gefangen war, denn er war stets irgendwie außen vor gewesen, während er mit seinem Vater die Welt bereist hatte. Als Händler war es unwichtig, wo man stand, denn arm und reich begehrten Waren, die man verkaufte. Man segelte sozusagen zwischen den Schichten, ohne wirklich zu einer zu gehören. In dieser Zeit hatte der damals noch junge Bursche gelernt, dass es nicht auf den Stand ankam, sondern darauf, wie man mit seinem Gegenüber umging. Respekt machte einen Charakter aus, kein Geld und auch kein scheinhaftes Auftreten, weil man sich auf irgendeinen Titel oder Rang etwas einbildete. Seither ging er stets gleich auf die Menschen zu, ungeachtet dessen, wer sie waren oder was sie taten. So hatte er keine Probleme damit, einem armen Mädchen etwas zu schenken – gleichzeitig aber auch nicht damit, einen üblen Ganoven um seine wertvolle Ware zu bringen. Sineca war der beste Beweis dafür. Deshalb auch ließ ihn Yaris' Verhalten kein bisschen zurückschrecken. Seine Stimme schüchterte ihn nicht ein – ganz im Gegenteil, denn eigentlich wäre es ein Grund gewesen, mit den Augen zu rollen. So, wie bei Enrique, der sich in der Nacht vor ein paar Tagen noch etwas auf seinen Marinerang eingebildet hatte, nun aber mit ihnen im selben Boot saß. Respekt bekam, wer sie verdiente, nicht, wer sie verlangte.
Er ließ ihn stehen, um Lucien an den Ort zu führen, den er sich ausgeguckt hatte, ohne auch noch einen Blick zurückzuwerfen. Lucien bat ihn noch um ein wenig Verzögerung. Man merkte dem jungen Captain an, dass er sein eigenes Schiff offenbar lange Zeit nicht mehr gesehen hatte. Liam konnte sich bildlich ausmalen, wie manch anderer Captain mit dem harschen Auftreten des Geretteten umgegangen wäre. Im Augenblick war Yaris noch Geduldeter. Liam an seiner Stelle hätte einiges daran gelegen, sich einzufinden, als dankbar für die Rettung zu sein und sich ein wenig erkenntlich dafür zu zeigen, vorerst mitsegeln zu dürfen.
Als Lucien aufgeholt hatte, blickte Liam ihm kurz über die Schultern entgegen. Er verzog die Lippen ein wenig, fand ein weiteres Kommentar allerdings unpassend und unnötig. Als sie den Bugaufbau erreicht hatten, lehnte er sich vorne über die Brüstung, als versuchte er, ein bestimmtes Teil im Rumpf des Schiffes von dort aus zu sehen. Dann aber winkte er ab und wendete sich mit einem leichten Lächeln an den wiedergefundenen Captain, der die Finte vielleicht noch nicht als solche erkannt hatte.
„Aspen weiß, welche Bereiche des Schiffes ganz oben auf der Reparaturliste stehen.“, versicherte er, ehe ihm der Gedanke kam, dass Lucien mit dem Namen vielleicht gar nicht so viel anfangen konnte. Immerhin hatte er die letzten Tage in seiner Kajüte verbracht. „Ehm. Der Blondschopf.“, fügte er an Ermangelung eines besseren Vergleiches an und immitierte die Frisur ihres Schreiners mit einer Geste an seinem eigenen Lockenschopf. Dann aber fiel ihm doch noch die ultimative Beschreibung ein. „Unser Prinz Eisenherz.“
Erneut warf er einen kurzen Blick den Rumpf entlang, ehe sich seine Aufmerksamkeit im Grün der Insel verlor. Vielleicht würde er sich später nochmal etwas umsehen. Später, wenn die Arbeit getan war.
„Im Grunde haben wir alles im Griff. Ich dachte mir bloß, dass es dir auch gegönnt sein sollte, die Freiheit ein wenig zu genießen, bevor dich der erste direkt wieder überfällt. Ankommen wird ja noch erlaubt sein. Auch, wenn es natürlich sehr wichtig sein muss.“
Man hörte die Skepsis aus seiner Stimme, allerdings hatte Liam auch keinen Grund dazu, sie zu verbergen. Da er den Blick recht schnell wieder abwendete, erweckte er auch nicht den Anschein, wirkliches Interesse an dem Gespräch zu haben, was dank ihm nun etwas warten musste. Aber mal ehrlich – was konnte so wichtig sein, dass es nicht ein wenig warten konnte. Hier, auf einer einsamen Insel irgendwo im Meer, wo sie sich unmöglich ewig aus dem Weg gehen konnten.