08.11.2017, 20:15
Er hatte sich kaum an die Helligkeit des Tages gewöhnt, als seine Anwesenheit auf dem Hauptdeck bemerkt wurde. Eine Stimme zu seiner Linken lenkte seine Aufmerksamkeit von dem beeindruckenden Panorama aus zerklüfteten Felsen, türkisfarbenem Meer und hellblauem Himmel auf denjenigen, der gesprochen hatte. Wieder musste Lucien gegen das ungewohnte Licht blinzeln, bis er eine schlanke Gestalt samt dunkel gelocktem Hinterkopf ausmachen konnte, die mit zackigen Bewegungen etwas auf einen Zettel kritzelte. Was genau das war, konnte der 21-Jährige nicht erkennen, denn der Rücken des Unbekannten versperrte ihm einen deutlichen Blick darauf. Nichts desto trotz ließen dessen Worte und das Knäuel alter Seile auf den Planken unmittelbar neben ihm darauf schließen, dass es etwas mit dem Schiff zu tun hatte. Talins Schiff... nein, Moment – ihrer beider Schiff.
Lucien schüttelte innerlich den Kopf, um nicht zu riskieren, sich von seinen eigenen Gedanken ablenken zu lassen und lächelte dann eine Spur belustigt.
„Noch nicht. Aber ich kann mich gern darum kümmern.“
Dass die Worte seines Gegenübers eigentlich nicht für ihn bestimmt waren, war ja offensichtlich. Doch da der Lockenkopf sich erst jetzt umdrehte und feststellte, wen er vor sich hatte, konnte sich Lucien diesen Spruch nicht verkneifen. Außerdem gefiel ihm der Gedanke, wieder Kisten zu stapeln, Taue zu spannen, Segel zu setzen. Früher war das Arbeit gewesen, die notwendig war und deshalb einfach gemacht werden musste. Doch jetzt? Jetzt kam es ihm wie die schönste Tätigkeit der Welt vor. Oder die zweitschönste. Auch wenn er sich nicht sicher war, wie nützlich er der Crew in seiner momentanen Verfassung tatsächlich sein konnte.
Noch immer schmunzelnd verschränkte Lucien die Arme vor der ausgemergelten Brust und maß den Mann, der ihm gegenüber stand, mit einem raschen Blick. Ein schlankes Gesicht, dunkle Augen, nicht viel älter als er selbst. Außerdem kam er ihm wage bekannt vor. Kurz durchforstete der Dunkelhaarige seine Erinnerungen und kam schließlich zu dem Schluss, einen der Männer – und Frauen – vor sich zu haben, die Talin auf die Morgenwind gefolgt waren, um ihn aus der Gefangenschaft zu befreien. Gänzlich sicher war er sich allerdings nicht, denn die Bilder aus jener Nacht, die er auf Anhieb abrufen konnte, waren nicht mehr als schwammig und bruchstückhaft.
„Ich bin selbst überrascht.“, antwortete er schließlich mit einem flüchtigen Schulterzucken auf jene Worte, die nun tatsächlich ihm galten. Von den Toten wieder auferstanden. Das stimmte witzigerweise auf so viele verschiedene Arten. „Und du bist einer von diesen Verrückten, die Talin gefolgt sind, um einen ihnen völlig Fremden von einem Gefangenentransporter der Marine zu retten?“
„Verrückter“ klang dabei weniger nach einem Schimpfwort, als nach einer unverhohlenen Respektsbekundung. Wenn sich ihm auch das 'Warum' nicht ganz erschloss. Bei keinem von denen, die Talin bei ihrer Aufgabe geholfen hatten.
Bevor sein Gegenüber jedoch Gelegenheit zur Antwort erhielt, ertönte eine weitere Stimme, die quer über das Deck nach jemandem rief und Luciens Aufmerksamkeit auf eine junge Frau lenkte, die an ein Fass gelehnt auf den Planken saß. Sie zu erkennen fiel ihm lange nicht so schwer, wie bei dem Lockenkopf. An die einzige Frau, die neben Talin auf der Morgenwind gewesen war, erinnerte er sich. Immerhin war sie so nett gewesen, ihm die Zelle aufzuschließen.
„Ah, und da ist auch Talins kleine Freundin.“
Die Schwarzhaarige schien jedoch mehr Interesse an einem kleinen, braunschwarzen Wesen zu haben, das mit den morschen Seilen kämpfte, als an dem Gespräch der beiden Männer, sodass die grünen Augen wieder zu dem Älteren zurück kehrten.