03.11.2017, 20:09
Rayon glaubte nicht an Wunder. Alles, was auf dieser Welt passierte, ließ sich in irgendeiner Art und Weise rational erklären, und sogenannte Wunder waren meist nichts als Erklärungen simplerer Geister für Dinge, welche die Grenzen ihrer Vorstellungskraft überstiegen. Vielmehr entstanden sie entweder durch puren Zufall oder aber wurden durch zielstrebiges Verhalten regelrecht erzwungen, und das Wunder eines Menschen konnte zugleich auch der schlimmste Albtraum eines anderen sein.
Dass sie alle jedoch die waghalsige Befreiungsaktion ihres zweiten Kapitäns überlebt hatten, grenzte tatsächlich an ein Wunder - zumindest eines mit Umwegen. Rayon war auch nach dem klärenden Gespräch mit Talin immer noch nicht begeistert von den Methoden, mithilfe derer die Piraten ihren Plan erfolgreich zum Abschluss gebracht hatten, konnte ihre Beweggründe nun aber zumindest ein wenig besser verstehen und hatte beschlossen, ihr Verhalten zu akzeptieren. Trotzdem schmerzte seine Brust, wenn er an die Familien der gefallenen Marinesoldaten dachte, von denen viele in ihrem Leben wahrscheinlich noch keiner Menschenseele etwas zu Leide getan hatten. Letztendlich, und ganz egoistisch betrachtet, konnte die Crew der Sphinx sich glücklich schätzen, dass sie nicht nur ihr Ziel erreicht, sondern die ganze Unternehmung auch halbwegs unbeschadet überstanden hatten. Die Verletzungen einiger Beteiligter hatten auf den ersten Blick zwar schlimm ausgesehen, sich aber glücklicherweise als relativ harmlos herausgestellt und selbst ihr ramponiertes Schiff hatte es noch bis zu dieser Insel geschafft, auf der er sich nun gemeinsam mit Trevor und einem ihrer Neuzugänge, der auf den Namen Kaladar hörte, auf der Suche nach Nahrung befand.
Denn genau das war eine weitere Komplikation gewesen: Die Vernichtung beinahe ihres gesamten Proviants. Für Rayon als Smutje war das besonders schmerzhaft, denn Vieles davon würden sich nicht so einfach ersetzen können, allen voran den Zwieback und das gepökelte Fleisch, denn leider hatte es auch den Großteil ihrer Salzvorräte erwischt. Das, was sie hier auf der Insel hoffentlich fangen würden, konnten sie deshalb auch nicht mehr allzu lange gefahrlos lagern und würden deshalb wohl in absehbarer Zeit zwangsläufig einen Hafen ansteuern müssen - oder verhungern. Oder sich ausschließlich von Fisch ernähren, was wiederum dazu führen würde, dass Shanaya verhungerte. Angesichts dieser Umstände war Rayon umso glücklicher, dass er seine Gewürze umsichtigerweise in ausreichender Höhe verstaut und sie so vor dem Wasser gerettet hatte. Viele dieser Kostbarkeiten waren unersetzlich, wenn ihr Weg sie nicht zufällig nach Rhofala führte, und den Gaumen seiner Kameraden die Würze seiner Speisen vorzuenthalten, nachdem sie bereits auf den Geschmack gekommen waren, würde seine Beliebtheit bei der Crew mit Sicherheit schlagartig verringern.
Bisher waren die drei auf ihrer Mission beeindruckend erfolglos geblieben. Lediglich Trevor hatte bereits einige Heilkräuter finden können, die sie für die weiterführende Behandlung ihrer Verletzten gut gebrauchen konnten, aber Wild hatten sie noch keines entdeckt, weshalb Rayon beschlossen hatte, am Strand nach Tieren zu suchen, die etwas weniger schnell auf den Beinen und deshalb hoffentlich leichtere Beute waren. Dass seine Augen bisher noch nichts erspäht hatten, das einem Reh, Wildschwein oder sonstigem essbaren Tier auch nur entfernt ähnlich sah, lag sicherlich auch daran, dass er praktisch permanent auf Trevor achten musste, dessen Gesabbel zwar mittlerweile den lallenden Ton aus der Nacht von Luciens Rettung vermissen ließ, der sich ansonsten aber im Prinzip genauso verhielt wie im volltrunkenen Zustand. Mit anderen Worten: Ohne eine Aufsichtsperson würde er höchstwahrscheinlich keine zwei Minuten überleben. Rayon nahm ihm das nicht übel, nicht in einer Situation wie dieser. Er kannte den ungestümen Mann nicht anders und hatte ihn auf diese Weise lieb gewonnen, und wenn er seiner Umgebung nicht gerade auf die Nerven ging, erhellte er damit die Stimmung jeder noch so hartgesottenen und übellaunigen Piratencrew. Deshalb begnügte er sich damit, ihn ab und an zurechtzuweisen oder zurückzupfeifen, wenn er sich zu weit von ihnen entfernte oder Gefahr lief, seine Gesundheit zu gefährden, und trottete ansonsten mit einem Schmunzeln auf den Lippen hinter ihm her, wobei er darauf achtete, dass immer noch er es war, der die Richtung vorgab - alles andere würde wahrscheinlich in einem Desaster enden.
So wie jetzt. Noch eben hatte Trevor sich redlich darum bemüht, Kaladar eine ausgewachsene Kante ans Bein zu quatschen, als er plötzlich innehielt, lauschte, und dann felsenfest davon überzeugt, etwas gehört zu haben, davonstürmte. Rayons Ohren selbst hatten das ominöse Geräusch nicht wahrgenommen, aber die waren auch damit beschäftigt gewesen, Trevors unendlichen Redeschwall zu verarbeiten. Immerhin: Eine unsichere Spur war besser als gar keine, und wenn sein Orientierungssinn ihn nicht im Stich ließ, lief Trevor immerhin geradewegs auf den Strand zu. Also wandte er sich an Kaladar, zuckte mit den Schultern und rollte scherzhaft mit den Augen.
"Nichts wie hinterher, bevor er seine Zehen auch noch verliert", sagte er und trabte los, um Trevor hinterherzueilen. Immerhin war seine nicht ganz ernst vorgetragene Sorge nicht völlig abwegig.
[ Waldstück an der Westseite der Insel | Rayon und Skadi | momentan mit all seinen Sinnen mit Trevor beschäftigt ]