29.10.2017, 19:42
Zwanzig...
Feuerbart starrte stumm und unbewegt auf die Liste der Tage, die er mit einem spitzen Stein in die ein paar hundert Meter von ihrem Lagerplatz schroff aus dem Ufersand aufsteigende Felswand geritzt hatte. Zwanzig Tage - wieder loderte der Hass in ihm auf, kalt und hart wie Eis. Wäre Scortias in diesem Augenblick bei ihm gewesen und hätte ihm in die Augen gesehen, er wäre sicherlich vor ihm zurückgewichen - und das mit Recht. Wright, Roberts - mit seinem Herzschlag hämmerten diese beiden Namen in seiner Brust, durch sein ganzes Sein, und riefen die dunkelste und gefährlichste Seite des hünenhaften Mannes an die Oberfläche. Nach einer Weile ließ die Intensität des Haßes nach, auch wenn dieser nicht mehr verschwinden würde solange er keine Rache an den beiden Verrätern geübt hatte, und er wandte sich von der Steilwand ab und trat zum Meer hin, wo nun sein sehnsüchtiger Blick in die Ferne schweifte.
Tatsächlich war ein Teil von ihm gestorben an jenem verhängnisvollen Tag vor etwa einem halben Jahr. Den Tod seiner beiden Vertrauten mitanzusehen hatte einen Teil seines Herzens, seiner Seele, zerrissen wie die Handgranate Finn Murray und Pepe Díaz. Er hatte noch gerufen, wollte sie warnen, doch es war zu spät gewesen. In diesem Moment detonierte die Granate und riss seinen Steuermann und seinen Quartiermeister, die ihn die letzten knapp 14 Jahre seines Lebens begleitet hatten und auf die er immer hatte bauen können, in den Tod. Es folgte eine Zeit, in der er in den grauen Nebelschleiern der Trauer festsaß. Er zog sich immer mehr zurück und ließ sich auf niemanden mehr ein. Einzig Scortias mit seiner kindlichen Art, dem Diensteifer und seiner Fröhlichkeit, gelang es ab und an, ein paar Sonnenstrahlen durch den sonst undurchdringlichen Nebel zu schicken.
Oh ja, vernebelt mußte sein Verstand und sein Gefühl gewesen sein, daß er die schleimige und heuchlerische Vorstellung von Wright und Roberts nicht durchschaut hatte. Bei klarem Verstand hätte ihn seine gute Menschenkenntnis niemals so im Stich gelassen. Doch so kam das zweite Verhängnis an Bord der Onyx. Seine Zurückgezogenheit und die Trübheit seiner Gedanken hatten es den beiden Rädelsführern natürlich auch einfach gemacht, ihre Pläne in die Tat umzusetzen und ihr übles Spiel mit seiner Mannschaft zu treiben. Einzig sein Schiffsjunge, Scortias Bartholomew, war ihm die ganze Zeit über treu geblieben.
Es war eine schwere Zeit, die Zeit der grauen Trauer, und doch war es seit dem Unglück die bessere gewesen. Denn vor dreiundzwanzig Tagen, am Tag der offenen Meuterei auf der Onyx, war die Zeit des schwarzen Hasses angebrochen. Nun hielt ihn einzig und allein sein Rachewunsch am Leben und dementsprechend schlecht war es in seiner Gesellschaft zu sein. Es gab nur noch wenige Momente, in denen das Eis in seinem Herzen Risse bekam, und er Scortias ein gutes Wort oder ein Lob schenkte. Selbst der Junge, zu dem er in solch kurzer Zeit eine große Zuneigung entwickelt hatte, kam nicht mehr an ihn heran. In diesen Momenten tat Scortias ihm leid, daß er seine Gesellschaft aushalten mußte, und das war auch der Grund, weshalb er so viel allein umherwanderte. Er wollte nach Möglichkeit verhindern, daß der unschuldige und so treue Junge Opfer seines Hasses wurde. Und sein Hass wurde in der Zeit hier auf der Insel nur noch größer, da er hilflos mitansehen mußte, wie sich die Onyx immer weiter von ihm entfernte und seine Chancen, sie schnell wiederzufinden, schwanden.
Ein Laut des Unmuts - eine Mischung aus Knurren und Brummen - drang tief aus seiner Kehle. Dann raffte er sich auf und machte sich auf den Rückweg zum Lager. In der Hand hielt er den behelfsmäßigen Speer für die Jagd. Dieser bestand aus einem gerade gewachsenen Stock, an den er mit einer Art dünnen Liane sein Messer gebunden hatte. Als er um eine Biegung kam, stand dort im niedrigen Randgestrüpp des Urwaldes eine Art kleiner Hirsch. Oder war es eine große Rehart dieser tropischen Gefilde? Er wußte es nicht. Die wenigen Augenblicke, die das überraschte Tier brauchte, um den Kopf zu heben und in seine Richtung zu sichern, genügten ihm. Er riß den Speer hoch und warf ihn zielsicher auf die Beute. Er traf den Bock kurz hinter dem Blatt, dieser machte noch einige Sätze in Richtung Wald und verschwand im Schatten der hohen Bäume. Doch Feuerbart wußte, daß er nicht weit gekommen sein konnte. Er nahm die Verfolgung auf, doch stockte sein Schritt, als er den niedrigen Randbewuchs des Waldes passiert hatte und er unter die Bäume treten mußte. Spinnen! Er hatte einmal gehört, daß in solch tropischen Gefilden wie dieser Inseln riesige Spinnen in den Wäldern hausen sollten. Es war eine Furcht, eine Urangst, die er nicht verstand, doch sie war in ihm und er konnte nur wenig dagegen ausrichten. Nein, er wollte nicht Gefahr laufen, solch einem Vieh in diesen Wäldern zu begegnen, und noch mehr wollte er verhindern, daß ihn irgendjemand in dieser Hilflosigkeit gegen seine Spinnenphobie sah. Deswegen hatte er auch Scortias untersagt, die Wälder zu betreten. Doch nun war er allein, also atmete er einmal tief durch und machte einen Schritt nach vorn. Zum Glück fand er seine Beute nur wenige Schritte weiter, zog den Speer heraus und verließ eilig den Wald.
Nun ging er am Strandstreifen auf das Lager zu, seine Beute geschultert. Schon vor der letzten Biegung, die das Lager vor seinem Blick verbarg, rief seine volltönende Baßstimme mit einem kurzen "SCORTI!" den Schiffsjungen herbei.
[am westlichen Strand / zusammen mit Scortias]