27.10.2017, 16:33
Scortias hatte keine Ahnung, wie lange sie nun schon hier auf der Insel fest saßen. Er zählte die Tage nicht, sondern hoffte jeden Tag aufs Neue, dass jemand ihn und Feuerbart finden würde. Ab und an, aber selten, bereute er es ein wenig, dass er zum Captain gehalten hatte und somit mit auf diese Insel ausgesetzt wurde. Aber Cornelis hatte ihn wahrscheinlich damals das Leben gerettet und deswegen würde er sich niemals gegen den hochgewachsenen Mann stellen. Der Rotbart hatte sich allerdings verändert und war nicht mehr der fröhlich, kumpelhafte Mann, den Scortias damals kennen gelernt hatte. Seit sein Steuermann und sein Quartiermeister tot waren, war auch etwas in Van der Meer gestorben. Diese Herzlichkeit und Unbeschwertheit waren wie ausradiert. Das, was der Schiffsjunge so sehr an ihn geschätzt hatte. Wenn man dem Captain in die Augen sah, bekam man fast schon eine Gänsehaut. Er war enttäuscht, hasserfüllt, auf Rache aus. Der Junge konnte es sogar teilweise verstehen. Die Onyx war sein Ein und Alles, sein ganzer Stolz und nun wurde sie ihm geraubt. Scortias hatte die Meuterer Wright und Roberts von Anfang an nicht leiden können. Sie hatten ihn wie Dreck behandelt und teilweise geschlagen und getreten. Fast jeden Tag hatten sie sich neue Gemeinheiten für den Jungen ausgedacht. An einem Seil wurde er am Schiff hinunter gelassen und musste das Schiff von Außen reinigen. Sogar unter der Wasseroberfläche. Die Seile hatten so sehr an den Beinen geschnitten, dass Scortias lange mit den Wunden an den Leisten zu kämpfen hatte. Und jeden Tag kam ja wieder etwas neues, was sie sich ausdachten. Er war so froh, wenn der Captain ihn dann mal brauchte, damit die beiden ihn in Ruhe ließen. Aber verpetzt hatte er sie nie. Das war eine Angelegenheit zwischen dem neuen Steuermann, dem neuen Quartiermeister und ihm. Am wohlsten hatte sich der Zwölfjährige am Ende aber beim Smutje ‚Rog‘ gefühlt. Er hatte zwar auch eine raue Schale, aber im innerem hatte der stämmige Mann ein gutes Herz und das ließ er den Jungen auch immer wieder spüren.
Und dann kam die Meuterei. Scortias hatte von den Plänen nicht viel mitbekommen. Die Mannschaft wusste, dass der Schiffsjunge dem Captain sehr loyal gegenüber stand, gerade, weil der Rotbart ihm das Leben gerettet hatte. Das Getuschel wurde meistens beendet, sobald sich Scortias zu ihnen aufmachte. Ihm wurden absichtlich Arbeiten auferlegt, die weit weg von den Gesprächen stattgefunden hatten. Und dann war es soweit. Er sollte sich entscheiden, ob er mit Feuerbart auf die Insel ging, oder sich der Mannschaft anschloss. Lange musste Scortias nicht überlegen. Ohne den Captain, hätten sie ihn wohl bei nächster Gelegenheit den Haien zum Fraß vorgeworfen. Und da war er nicht besonders scharf drauf, denn der Schiffsjunge hatte eine Mordsangst vor Haien. Mal davon abgesehen, das jeglicher andere Tod keine Option für den Jungen gewesen wäre.
Seit einigen Wochen war er nun mit Cornelis ‚Feuerbart‘ van der Meer hier auf der Insel. Aber auch das war kein Zuckerschlecken, denn der Mann war sehr isoliert. Er redete nicht viel und gab nur Anweisungen, wenn der Junge etwas erledigen sollte. Naja, wenigstens war das Wetter schön, so dass man sich hin und wieder mal etwas im Wasser aufhalten konnte um zu spielen. Sie hatten sich eine kleine Behausung aus Holz und Blättern gebaut. Dort drinnen nächtigten beide. Davor, mit Meeresblick, war eine Feuerstelle, an der sie ihre Beute grillten. Meisten gab es Fisch, der Scortias schon zu den Ohren heraus hing. Die Palmen ringsherum trugen nahrhafte Früchte wie Kokosnüsse und Bananen. Und mit viel Glück konnten sie mal ein Tier erlegen, das sich aus dem Dschungel heraus gewagt hatte. Doch in den Wald, um zu jagen, durfte Scortias nicht. Feuerbart hatte es ihm verboten. Wieso, das hatte der Mann dem Jungen nicht gesagt, aber der zwölfjährige Floh hörte auf ihn, denn der Captain war so etwas wie sein Vorbild und Mentor, vielleicht sogar so etwas wie ein Vater geworden. Seit Tagen hatten sie immer wieder Holz heran geschafft und auf einen großen Haufen gelegt, damit sie ein Signal senden konnten, sollte sich mal ein Schiff nähern. Aber diese Insel schien von allen Göttern verlassen zu sein. Hätte Scortias einen Bartwuchs, wäre die Gesichtsbehaarung bestimmt schon bis zu den Knien gewachsen. Zumindest kam es dem Jungen so vor, als sei er schon so lange hier.
Es war Vormittags. Scortias saß auf einem Palmenstamm, der recht waagerecht, nahe dem Boden gewachsen war. Er hatte eine knielange, weiße Unterhose an, sonst nichts, denn es war heute wieder sehr warm. Eines seiner Beine pendelte vor und zurück, das andere war auf dem Stamm abgesetzt. Einer seiner Ellenbogen lag auf seinem Knie. In der Hand hatte er eine exotische Frucht, deren Namen er nicht kannte. Aber er wusste, dass man sie essen konnte, denn auf dem Markt von Kitar hatte die Obsthändlerin diese Frucht verkauft. Er erinnerte sich gerne an Kitar zurück und vor allem an die Obsthändlerin, mit ihrer dreizehnjährigen, hübschen Tochter. Die Flüssigkeit der Frucht hatte sich über die Wangen des Jungen ausgebreitet, als er herzhaft in das Fruchtfleisch hinein biss. Einiges davon tropfte auch an seinem Kinn hinab, was er mit dem Handrücken wegwischte. Die Sonnenstrahlen legten sich wärmend auf seine Haut, die von dem tagelangen einwirken sehr braun geworden war. Über ihm wiegten sich die Palmenblätter in dem seichten Wind, der ab und an über die Insel wehte. Die Wellen des Meeres, die an den Sandstrand gespült wurden, gehört langsam zum Alltagsgeräusch und wurden nicht mehr wirklich wahr genommen. Am Anfang hatten sie den Jungen immer wieder ins Wasser gelockt. Wenn der Schiffsjunge nicht hier festsitzen würde, hätte er den Ort als wohl einen der schönsten Orte bezeichnet, aber im Moment war es einfach nur ein Gefängnis. Es fühlte sich erdrückend an hier fest zu sitzen. Scortias schmiss die Schale seiner Frucht weg und lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm der Palme. Er nahm seine Flöte in die Hand und hielt sie an den Mund. Dann fing er an ein Lied zu spielen, welches er von seiner Mutter kannte, als sie ihn damit früher in den Schlaf gesungen hatte. Er wusste, dass er noch Holz besorgen musste, aber es war ja noch früh am Tage. Wo der Captain gerade war, das wusste er nicht. Er meldete sich selten bei Scortias ab, wenn er irgendwohin ging. Naja, bis auf den einen Tag, als er die Insel umrunden wollte. Da war er lange weg. Ganze vier Tage war Scortias alleine und hatte sich etwas Sorgen um den Mann gemacht. Der Junge wäre wohl noch zwei Tage geduldig gewesen, bevor er sich dann auf die Suche nach ihm gemacht hätte. Doch Feuerbart tauchte wieder auf. Allerdings ohne etwas brauchbares gefunden zu haben, was ihnen irgendwie aus dieser Lage hätte helfen können. Naja, bis auf ein Wildschwein, das sehr lecker gewesen war.
[Am westlichen Strand | mit Cornelis]