01.05.2017, 11:24
Na sieh mal einer an. Mit seinen geradezu provozierend ins Blaue geschossenen Worten hatte der Dunkelhaarige offenbar einen mehr als wunden Punkt getroffen. Wut flammte im Blick des Offiziers auf, ehe er den Kopf etwas abwandte und an Lucien vorbei zu der Luke in der Schiffswand starrte, als wäre die an allem Schuld. Aber besser die, dachte sich der junge Häftling, als wenn der Mann hinter dem Schreibtisch ihn so anschauen würde. Denn er wusste sehr genau, dass ein Marinesoldat keinen Grund brauchte, um seine Wut an einem Häftling auszulassen und die wenigsten dachten darüber nach, ob nun die Wahrheit das war, was ihnen so übel aufstieß, oder der, der sie nur ausgesprochen hatte. Immerhin das hatten ihn die letzten zwei Jahre gelehrt.
Doch die Stille zog sich in die Länge, ohne, dass etwas dergleichen geschah. Lucien unterbrach sie nicht. Er hätte nur zu gern gewusst, was in diesem Augenblick hinter der Stirn seines Gegenübers vor sich ging. Dass ihn seine eigene Situation und die Geringschätzung, die er hier offenbar erfuhr, gehörig gegen den Strich gingen, war unübersehbar. Hätte der 21-Jährige es nicht besser gewusst, würde er sogar annehmen, dass es ihn weit mehr störte, als unter dem Soldatendurchschnitt üblich. Stellte sich nur die Frage, was den Offizier dann zur Marine getrieben hatte. Denn dass es sich bei diesen Menschen um einen Haufen Vetternwirtschaft betreibender, gieriger Krimineller handelte, war ja allgemein bekannt – oder zumindest eine ganz übliche Sichtweise unter den einfachen Leuten, mit denen Lucien bis vor zwei Jahren noch regelmäßig Umgang hatte.
Schließlich wandte sich der Dunkelhäutige wieder an den Häftling und brach das lange Schweigen. Die Erklärung selbst empfand letzterer als eher dürftig. Er mimte also doch den braven Soldaten und tat, was von ihm erwartet wurde. Nur eine Kleinigkeit zerstörte diesen Eindruck. Nämlich die Tatsache, dass er die Einmischung eines Konteradmirals für seine eigenen Zwecke zu nutzen gedachte – wie auch immer er das anzustellen gedachte.
“Keine Sorge, sie müssen nichts tun.“ Der junge Häftling stieß prompt ein spöttisches Schnauben aus. Als ob er für diesen Mann überhaupt irgendetwas getan hätte. Selbst, wenn er ihn nett darum bat. Doch der Spott verging ihm, als der Offizier sich plötzlich erhob und den Schreibtisch umrundete. Lucien spannte sich unwillkürlich. In den grünen Augen erschien arroganter Trotz. Noch immer rechnete er damit, dass sich die Wut, die er herauf beschworen hatte, nun gegen ihn entlud. Aber es kam anders.
Vor der Tür zur Kajüte ertönten eilige Schritte, die seine Aufmerksamkeit für einen kurzen Moment dorthin lenkten. Dann zerschnitt erneut die Stimme des Offiziers das Schweigen – dieses Mal in einem Ton, der nicht so recht zu dem bisherigen Gespräch zu passen schien. Mal abgesehen von den völlig ohne Zusammenhang dastehenden Worten. Es dauerte trotzdem mehrere schnelle Herzschläge, bevor der Dunkelhaarige begriff, dass es sich wohl um ein Täuschungsmanöver handelte, um den, dessen Schritte erklungen waren, auf eine falsche Fährte zu lenken.
Ehe der 21-Jährige sich versah, hatte der Leutnant die kurze Entfernung zwischen ihnen überwunden und begab sich auf eine Höhe mit dem Gefangenen. Der Duft des Essens stieg ihm in die Nase – noch besser als das Brot, das er noch immer nicht ganz aufgegessen hatte – doch dieses Mal lagen die grünen Augen direkt auf seinem Gegenüber. Der sprach so leise, dass er ihn über den Regen und die Betriebsamkeit auf dem Schiff beinahe nicht verstanden hätte, doch der eindringliche Ton entging ihm nicht. Ganz egal, was er von diesem Mann halten mochte, er erkannte die Möglichkeiten, die er ihm damit bot. Möglichkeiten, die er nutzen konnte, um das zu überleben, was vor ihm lag. Dennoch überschlugen sich seine Gedanken. Er lauschte, aufmerksam, sog die Informationen auf, während über all dem die bohrende Frage nach dem Warum stand. Das Misstrauen war allgegenwärtig.
Und als der Leutnant dazu ansetzte, sich zu erheben, den Teller neben Lucien stehen ließ, konnte er die Fragen nicht zurück halten. In den grünen Augen brannte die Skepsis unverhohlen, doch er senkte die Stimme weit genug, um von draußen nicht gehört zu werden.
„Warum helft Ihr mir? Wenn ich diese Überfahrt überlebe, wenn ich Esmacil überlebe, was erwartet Ihr für Eure Hilfe?“
Es gab in dieser Welt nichts geschenkt. Und auch wenn Lucien seine Schulden beglich – er wusste gern vorher, was es ihn kostete.