Vom Regen in die Traufe - Enrique de Guzmán - 25.01.2017
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„Leutnant, sie werden die Übernahme der anderen Gefangenen überwachen. Und dieses mal werden sie sich beherrschen! Ich erwarte, dass alles reibungslos verläuft. So etwas wie in Netara wird nicht noch einmal passieren, ist das klar?!?“ Kapitän Harper sah ihn finster an.
„Jawohl Sir!“, erwiderte Enrique. Er hatte also doch niemand anderen für diese Aufgabe ausgewählt, sondern entschieden dass er ihm genug vertraute, dass es diese Mal besser machen würde. Bessern würde das allerdings nichts an dem, was unweigerlich folgte.
„Ich will, dass sich die Gefangenen benehmen, dass Gruppen getrennt werden, zumindest von ihren Anführern, dass es keine Verschwörungen oder neue Bandenbildung gibt. Nicht auf meinem Schiff! Verbrecher, die sich das Gleiche zu Schulden kommen lassen haben könnten sich kennen, am Besten klären sie das vorher. Ich will dass es keine Verluste gibt. Umbringen können sie sich auf Esmacil. Kranke gehen falls möglich in Quarantäne, notfalls wird es eine potentielle Sterbezelle geben. Und keine Fluchtversuche, Angriffe oder Ähnliches! Sorgen sie dafür! Verstanden?!?“
„Aye Sir.“ Enrique verbiss sich den Seufzer. Dass war nicht die erste Übergabe von Gefangene, die er beaufsichtigen sollte und auch nicht dass erste Mal, dass er mit der Morgenwind die finale Strecke von Asanu nach Esmacil zurücklegte. Es war nicht mal das erste Mal, dass er einer Zusammenlegung vorstand. Sie würden von zwei weiteren Schiffen Gefangene übernehmen und sämtliche Schwerverbrecher die sich bereits in der Stadt angesammelt hatten.
Und es war auch nicht das erste Mal, dass der Kapitän andere die Drecksarbeit machen ließ, ihnen eine Predigt hielt, wie was zu laufen hatte, welche Ergebnisse er haben wollte, hinterher den Ruhm, falls es welchen gab, einheimste, bei Verfehlungen anderen die Schuld in die Schuhe schob und stiften ging.
Oder das es 2. Leutnant de Guzmán traf. Oder das er unmöglich zu erfüllende Anweisungen bekam. Enrique hörte ihm nur mit halben Ohr zu.
Eigentlich war es Standard, dass es ihn erwischte. Immerhin hatten er und sein Vorgesetzter so was wie eine gemeinsame „Geschichte“: Der Kapitän erhielt eine Aufgabe, die keiner haben wollte, er hatte sich in dessen Augen etwas zu schulden kommen lassen, und sei es nur, dass er es wagte, eine eigene Meinung zu haben und damit hatte Harper seinen Kandidaten. Alles was ihm blieb war ‚Ja’ und ‚Amen’ zu sagen und dann aus einer vertrackten Situation etwas halbwegs Brauchbares zu machen.
So auch jetzt.
„Gut“, beendete der Alte seine Anweisungen. “Ich habe wichtiges zu erledigen, vor heute Abend werde ich nicht zurück sein. Nummer 1 trifft sich mit Kommodore McLean in der Stadt. Bis dahin haben sie das Kommando.“
„Aye Sir!“ Enrique salutierte und sah seinem Vorgesetzten nach der von dannen zog.
Dieses Mal gab es aber eine Sache, die versprach interessant zu werden. Vor ihm lag die Liste sämtlicher Gefangener, die die Morgenwind nach Esmacil bringen sollte, mit Vermerken, welcher woher kam und warum er einfuhr. Und abgesehen vom Kopfzerbrechen darüber, wen er mit wem in welche Zelle stecken sollte, damit sich die ungewöhnlich vielen Insassen nicht gegenseitig die Kehle aufschlitzten, gab es unter ihnen einen mit einer besonderen Unterschrift dahinter: Die von Konteradmiral Westenra.
Nur warum bestand der Vorgesetzte der Gefangenenflotte darauf, dass ausgerechnet dieser Kleinkriminelle mit all den schweren Jungs verlegt wurde?
***
Kaum 2 Stunden später, die Sonne war hinter den dichten Regenwolken nur schwer zu erahnen und berührte fast noch den Horizont, näherte sich das erste Ruderboot. Der dunkelhäutige Leutnant strengte die Augen an. Irgendwann würde er daran denken, sich ein Fernrohr zu besorgen. Dass er das vom Wachhabenden nicht einforderte lag daran, dass er sein erhöhtes Interesse an wahrscheinlich diesem Verurteilten und die deswegen in ihm vorherrschende Unruhe nicht zeigen wollte. Also stand er an der Reling, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und fluchte innerlich. Die Ruderer trugen keine Uniform, die Wachen die des berüchtigten Eastgate Gefängniss, wie erwartet. Nur ein Delinquent war auszumachen, dunkles Haar, recht jung, schmal, schmutzige Kleidung waren die einzigen Details, derer er sich sicher war. Das Boot machte gut Fahrt, trotzdem würde es eine Weile dauern und dann würde es unter dem Schanzkleid verschwinden, lange bevor er den „Gast“ richtig zu Gesicht bekommen würde.
Enrique riss sich los und sah den Wachhabenden an: „Ich bin in meiner Kajüte. Wenn irgendwas ist geben sie bescheid.“ Zeit ins Trockene zu kommen.
„Aye Sir!“
***
Lucien war ungewöhnlich früh geweckt und aus der Gruppenzelle geholt worden. Die Wachen hatten nicht gesprochen, außer gelegentlichen, kurzen, geknurrten Befehlen, und ihm die Hände gefesselt. Sie schienen über irgendetwas verstimmt und ließen das über eine grobe Behandlung an ihm aus. Erst hatten sie ihn in einen Verhörraum gebracht und allein gelassen, kurz darauf schleppten sie ihn in eine der Kutschen des Gefängnis und spätestens als durch die kleinen vergitterten Fenster und dicken Tropfen die ersten Masten zu sehen waren wurde ihm klar, wohin diese Reise ging. Sie packten ihn, schliffen ihn zu einem Ruderboot an der Kaimauer und stießen ihn hinein.
Die Überfahrt zum Schiff verlief ruhig, zum Einem war es ein Tag mit wenig Wind und zum Anderen hatten die Wachen ob des schlechten Wetters wohl doch die Lust verloren ihn weiter zu drangsalieren. Danach ging es gesichert und mit gefesselten Händen die triefende Bordwand hinauf und nach kurzem Gespräch des Verantwortlichen mit dem Wachhabenden unter Deck.
In einem kleinen abgetrennten Bereich, der scheinbar nicht nur die Kajüte sondern auch der Arbeitsbereich des Offiziers zu sein schien, stand er schließlich Enrique gegenüber. Selbst für ein Kriegsschiff der Marine, dass ohnehin nicht genug Deckenhöhe für jemanden wie Lucien gewährte, damit er aufrecht hätte stehen können, war die Decke auf dem alten Schiff niedrig.
“Lucien Dravean zur Übergabe Sir“, meldete der Matrose, der ihnen den Weg gewiesen hatte und verabschiedete sich nach knappem Nicken de Guzmáns.
“Wo sollen wir den Gefangene hinbringen?", fügte der Mann zu Luciens rechten an.
“Machen sie ihn dort drüben fest, ich kümmere mich darum, sowie ich hiermit fertig bin.“ Der Leutnant deutete zunächst auf den Neunpfünder, dann auf die Papiere vor sich auf der Tischplatte.
Irritiert sahen die Wachen sich an, zuckten dann mit den Schultern, schoben den Schmuggler neben das Geschütz, zwangen ihn unsanft in die Knie und banden ihn fest.
Ein paar knappe Sätze und zwei Unterschriften später ließen seine Begleiter ihn mit dem Dunkelhäutigen allein, der zunächst weiter schrieb bis die Schritte auf der Treppe verklungen waren und dann Lucien ausführlich aber weiterhin schweigend musterte.
RE: Vom Regen in die Traufe - Lucien Dravean - 07.02.2017
Inzwischen war er bis auf die Knochen durchnässt. Noch immer tropfte ihm das Regenwasser aus dem verfilzten Haar und rann über die längst vernarbte Haut in seinem Nacken. Die zerlumpte Kleidung, kaum mehr als zerfetzter Leinenstoff, der ihn notdürftig verhüllte, klebte ihm am Körper und offenbarte seine ausgemergelte Statur. Jede einzelne Rippe zeichnete sich deutlich ab und er fror erbärmlich. Nicht zuletzt, weil er kaum noch genug Fleisch auf den Knochen hatte, um warm zu bleiben. Aber immerhin fühlte sich Lucien seit langem mal wieder so etwas ähnliches wie gewaschen. Er hatte beinahe das Gefühl, nicht mehr bis zum Himmel zu stinken... Aber auch nur beinahe. Wenn ihn jetzt also entweder der Hunger oder eine Lungenentzündung dahin rafften, dann immerhin frisch gewaschen.
Mit trockenem Zynismus ließ Lucien den Tag gedanklich Revue passieren. Im Grunde hatte er keine Ahnung, wie er an diesen Punkt gekommen war, an dem er nun stand. Nämlich in einer Kajüte, die Schlaf- und Arbeitsbereich in einem war, vor irgendeinem Mann in Uniform – darin sah jeder Marinesoldat aus wie der andere, das implizierte ja schon der Begriff 'Uniform' – der allerdings kaum viel älter sein konnte, als er selbst.
Wissend, dass es ihm eigentlich nichts nützte, hob der Dunkelhaarige prüfend die in Eisen liegenden Hände und spürte gleich darauf den Widerstand der Kette, die man an dem schweren Geschütz neben ihm befestigt hatte. Die rohe Behandlung, mit der man ihn im wahrsten Sinne des Wortes in die Knie zwang, hatte Lucien mehr oder weniger widerstandslos über sich ergehen lassen. Nicht nur hier. Auch heute morgen schon, als man ihn aus seiner Zelle holte. Mit eben der Gleichgültigkeit, mit der er in Kauf genommen hatte, dass sein Vater im Kampf gegen die Soldaten fiel und seine eigene ungerührte Kapitulation ihn auf direktem Wege ins Gefängnis führen würde. Wir kämpfen, Junge. Ganz egal, was passiert! Hatte er nicht. Wozu auch? Er war nicht so dämlich, sich für nichts in einen Kampf zu stürzen, den er nicht gewinnen konnte.
Was hätte es dem Dunkelhaarigen also genützt, sich gegen die Männer, die ihn hier her bugsierten, zur Wehr zu setzen? Genau: Nichts. Mit dem Gedanken, die nächsten Jahre auf Esmacil zu verbringen, hatte er sich bereits abgefunden, als er an Bord der Dorrow die Waffen streckte. Und die Genugtuung, zu sehen, wie der Mann, der ihn aufgezogen hatte, seine letzte Schlacht verlor, hatte Luciens Entscheidung besiegelt.
Doch langsam kam ihm seine ganze Situation mehr als absurd vor. Wenn es nur darum ging, ihn in das Hochsicherheitsgefängnis zu überführen, was machte er dann hier in diesem Raum? Die grünen Augen folgten der Szenerie mit einem Anflug von Misstrauen, während die drei Männer ein paar knappe Sätze austauschten und den Papierkram erledigten. Dann traten die zwei, die ihn gebracht hatten, den Rückzug an. Lucien beschlich ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache. Das letzte Mal, als er einem Marineoffizier unter vier Augen seine 'Aufwartung' machen durfte, nahm für den 21-Jährigen kein gutes Ende.
Zunächst beachtete ihn der Mann hinter dem Schreibtisch jedoch nicht und Lucien nutzte die drückende Stille, um sich, soweit die Handfesseln es zu ließen, bequemer hin zu setzen. Schlimm genug, dass es seiner ganzen Konzentration bedurfte, nicht vor Kälte mit den Zähnen zu klappern. Verfluchtes Marinepack.
Dann endlich schien der Mann hinter dem Schreibtisch mit seiner Arbeit fertig zu sein und widmete sich seinem Gegenüber. Die Musterung ließ der Dunkelhaarige schweigend über sich ergehen. Nur seine Augenbraue hob sich ein Stück weit an. Ansonsten blieben seine Züge ausdruckslos.
„Wäre es nicht einfacher für Euch, die beiden hätten mich einfach mitgenommen und in irgendeine Zelle verfrachtet? Dann hättet Ihr Euch die Arbeit gespart.“
In seiner Stimme lag ein Ton, als beträfe ihn die ganze Angelegenheit nicht. Aber er war ehrlich zu sich. Lieber steckte er in irgendeiner Zelle, als hier in diesem Raum.
RE: Vom Regen in die Traufe - Enrique de Guzmán - 08.02.2017
Hier an Bord der Morgenwind war vom Heben und Senken des Schiffes fast nichts zu merken. Das Prasseln des Regens der auf das Oberdeck schlug hingegen erfüllte den kleinen Raum, vermischt mit patschenden Schritten und gedämpften Rufen, der Besatzung, die dort ihrer Arbeit nachging. Die Meisten hätten die Heuer von einem Monat dafür gegeben, wenn sie hier unten im Trockenen hätten sitzen dürfen.
Paradoxer Weise wäre der Dunkelhäutige lieben gerne dort oben gewesen. Oder an Land. Hauptsache an einem Ort, wo er sich bewegen könnte. Er fühlte sich eingeengt, ja gefangen. Weg konnte er hier nicht.
Genauso wenig, wie der Dunkelhaarige vor ihm. An diesem ausgezehrten, triefenden Gefangenen schien wirklich nichts besonderes zu sein. Abgesehen vielleicht von einem Rest Stolz und Skepsis.
Er wehrte sich nicht, aber er versuchte sein Unwohlsein nicht zu zeigen, er nahm alles hin, beobachtete aber. Einer der Fälle, die alle Hoffnung hatten fahren lassen war er also definitiv nicht. Brauchte er allerdings auch nicht.
Falls er vier Jahre auf Esmacil überstand.
Danach sah er dann doch wiederum nicht aus. Abgemagert wie er war erweckte er nicht mal den Eindruck, dass er die nächsten Stunden überstünde.
Als er dann die Wahrheit so treffend von sich gab verzog Enrique, während er kurz auf die Papiere vor sich sah, einen Mundwinkel leicht nach oben. Warum nicht einfach einen nach dem anderen in die Zellen stopfen? Erst je einen, dann rauf auf zwei, drei und letztlich vier? Oder jede Bootsladung in eine und den Rest ausgleichend verteilen, wenn in jeder mindestens einer saß? Denn selbst wenn er sein Bestes gab, es würde nicht ausreichen um den alten Sack zufrieden zu stellen.
Mit einem schweren Seufzen verwarf er die Ideen gleich wieder. Das gäbe Mord und Totschlag, Bandenbildung und was nicht noch alles. Da könnte er sich auch gleich erschießen.
Stattdessen musterte er Lucien noch einmal kurz und entschied, dass er jetzt eh nichts mehr runter bekommen würde, griff das Stück frischen Brotes vom Tisch und warf es hinüber, ehe er sich zurücklehnte.
“Weil das zwar einfacher gewesen wäre aber nicht dem entspräche, was ich erreichen will. Und in ihrem Punkt sogar muss.“ Wieder heftete sich der Blick des Leutnants an Lucien und verweilte. Er wollte bei seinen nächsten Worten jede Reaktion des Schmugglers aufs Genaueste mitbekommen.
“Wenn Konteradmiral Westenra sie hier persönlich her schickt, dann muss ich davon ausgehen, dass er erhöhten Wert darauf legt, dass sie auch auf Esmacil ankommen. Es heißt, er kann sehr unangenehm werden, wenn man seinen Bitten nicht genau entspricht.“
RE: Vom Regen in die Traufe - Lucien Dravean - 10.02.2017
Immerhin hatte sein neuer bester Kumpel ein Fünkchen Humor. Das war mehr, als Lucien von den Soldaten behaupten konnte, die auf Linara regelmäßig an seiner Zelle vorbei spaziert waren, um ihm beispielsweise eine Schüssel des mehr als dürftigen Gefängnisfraßes vorbei zu bringen. Von denen hatte sich jedenfalls nie jemand auch nur zu einem winzigen Schmunzeln hinreißen lassen. Was an seinen Worten nun aber so witzig gewesen sein sollte, wusste der Dunkelhaarige auch nicht und ehrlich gesagt... war ihm das auch Einerlei. Das gesunde Misstrauen, dass er jedem Uniformierten inzwischen entgegen brachte, schmälerte es jedenfalls nicht.
Wachsam behielt er den Mann im Blick, der plötzlich nach einem Stück Brot griff, das neben ihm auf einem Teller lag. Lucien biss unwillkürlich die Zähne aufeinander und gab sich die größte Mühe, neben der Kälte in seinen Knochen nicht auch noch auf das Gefühl eines leeren Magens zu achten. Sagen wir, es hätte den 21-Jährigen nicht im geringsten überrascht, wenn der Leutnant sich nun genüsslich sein Frühstück in den Mund geschoben hätte, während vor ihm am Boden ein halb verhungerter Häftling saß. Schon vorsorglich loderte in dem Dunkelhaarigen ein Anflug bitteren Zorns hoch, der jedoch prompt im Keim erstickt wurde.
Obgleich er inzwischen über ein Jahr im Gefängnis hockte und eine großzügige Geste seitens eines Marineoffiziers so ziemlich das letzte war, womit der junge Gefangene rechnete, reagierten er instinktiv schnell genug. Das jahrelange Training mit dem Degen hatte seine Reflexe geschult und auch wenn sie ein wenig eingerostet wirkten, leisteten sie ihm nach wie vor gute Dienste.
Ohne wirklich zu wissen, was er tat, fing Lucien das Stück Brot mit der Linken auf, das ihm zu geworfen wurde. So zielsicher, dass es nicht mehr als einer kleinen Bewegung seinerseits bedurfte. Viel mehr wäre ihm angesichts der Kette, die ihn an das Geschütz fesselte, ohnehin nicht möglich gewesen. Im ersten Moment war er jedoch zu überrascht, um mehr zu tun, als auf das Essen in seiner Hand hinab zu starren. Selbst, als der Mann hinter dem Schreibtisch zu sprechen begann, sah der Dunkelhaarige nicht sofort auf. Hören tat er trotzdem recht gut und wieder flammte das Misstrauen in ihm auf. Erst recht mit Blick auf die unerwartet freundliche Geste. In diesem Leben gab es schließlich nichts umsonst. Am allerwenigsten von einem Mann der Marine. Was bezweckte er also damit? Wenn er glaubte, sich damit Luciens Wohlwollen zu erschleichen – wofür auch immer – dann war der Kerl dümmer, als er aussah. Erstens hatte der junge Häftling absolut nichts zu bieten, das von Wert gewesen wäre. Zweitens ließ er sich nicht anfüttern, wie ein Köter. Und wenn der Leutnant, wie er sagte, nur wollte, dass der Dunkelhaarige die Überfahrt tatsächlich überlebte, dann musste Lucien sich ernsthaft fragen, wozu. Welches Interesse sollte irgendjemand, erst recht irgendein hochtrabender Marineadmiral, an einem Jungen von Kelekuna haben?
So sehr ihm jeder andere für gewöhnlich am Arsch vorbei ging, umso mehr kümmerte es ihn, wenn es ihn selbst betraf. Er beschloss also, ein wenig nach zu haken.
„Ich kenne keinen Konteradmiral Westenra.“,
gab er kühl zurück und brach ein kleineres Stück von dem Brot in seiner Hand ab. Als gäbe es gerade nichts weltbewegenderes, als zu Kaffee und Kuchen mit einem Marineoffizier geladen worden zu sein, schob er sich den Bissen in den Mund und richtet die grünen Augen wieder auf seinen Gegenüber.
„Konteradmiral Westenra hat nicht zufällig erwähnt, was er von mir will?“
RE: Vom Regen in die Traufe - Enrique de Guzmán - 16.02.2017
Sieh an, es steckte noch Leben in ihm. Bis jetzt hatte er nicht alles verloren. Kraft und Fleisch ja, aber diese Reflexe nicht... Auch wenn diese kleine Vorführung sein Interesse weckte, so ließ er sich das nicht anmerken. Und auch nicht was er dachte.
Das Stück Brot hatte einen seiner Dienste nämlich schon erwiesen und den Anderen würde es auf ganz natürlichem Wege auch erfüllen:
Erstens war Lucien zu perplex um sich von dessen Anblick loszureißen. Da er deswegen nicht, oder besser erst im Nachhinein auf den Namen des Konteradmiral reagierte war Enrique sich sicher, dass Dravean keine Ahnung hatte wer Westenrah war und was hier gerade lief.
Und zweitens würde es ihn nähren. Es war nicht viel aber immerhin etwas. Mal sehen, ob ich einen Grund finde ihm den Rest meines Essens auch noch zukommen zu lassen.
Wieder musste Enrique schmunzeln. So misstrauisch wie der Schmuggler ihn ansah rechnete er bestimmt damit, dass der Leutnant ihn jetzt dafür bestrafen würde, weil er sich erdreistet habe, ihm das Brot zu stehlen. Ganz egal, dass das schlechterdings unmöglich gewesen war.
Wie sehr mussten sich die Wärter, Aufseher, Soldaten und Offiziere ihm gegenüber daneben benommen haben? Und wie unangenehm war ihm wohl diese Situation?
Ging er nach dem, was er über Festnahmen, die Gefängnise und den Aufenthalt darin wusste war es völlig egal, wie er sich verhielte, die Bilder von Marine, Heer und Stadtwache würde er in hundert Jahren nicht verbessern können.
Gut dass das gar nicht meine Absicht ist.
Seine Gedanken rasten im Hinterkopf weiter, wanderten von einem Thema zum nächsten. Vordergründig wurde er wieder ernst und konzentrierte sich darauf Lucien zu beobachten.
"Erwähnt?" Enrique überlegte einen Augenblick, sein Gegenüber nicht aus den Augen lassend. "Er hat seine Taten sprechen lassen, indem er sich die Mühe gemacht hat, explizit dafür zu sorgen, dass sie nicht in das normale Verlegungsraster fallen, sondern außer der Reihe hierher auf die Morgenwind verfrachtet werden. Das heißt für mich, dass er wesentlich mehr Zutrauen in Kapitän Harper hat, sie lebendig nach Esmacil zu bringen, als in Kapitän Bonapar oder Kapitän Machadize, die mit der Triumph und der Königswitwe das Gro der Gefangenen aus dem Eastgate übernommen haben. Und da der Kapitän mir ihre Unterbringung anvertraut hat muss ich jetzt dafür sorgen, dass dieses Vertrauen auch gerechtfertigt ist." Er brauchte einen Moment, um sich seine nächsten Worte zurecht zu legen. "Sie würden also mir und sich einen großen Gefallen tun, wenn sie mir wahrheitsgemäß mitteilen, wen sie sich im Eastgate zum Feind gemacht haben, da wir nicht nur sie nach Esmacil verlegen und damit ich sie nicht versehentlich mit denen zusammen in eine Zelle stecke, wie es wahrscheinlich passieren würde, wenn ich ihren durchaus verlockenden Vorschlag annehmen sollte."
RE: Vom Regen in die Traufe - Lucien Dravean - 03.03.2017
Einzig die Tatsache, dass er sich nur einen mundgerechten Happen abgebrochen hatte, bewahrte Lucien nun davor, sich unkontrolliert auch den gesamten Rest des Brots in den Mund zu stopfen und damit die Illusion, dass ihn das alles hier nicht interessiere, völlig zu zerstören. Der Geschmack von Getreide und Hefe explodierte auf seiner Zunge, raubte ihm völlig die Konzentration für das eigentliche Gespräch und die Frage, auf die noch eine Antwort des Offiziers aus stand.
Sein Blick huschte unwillkürlich zurück zu dem Essen in seiner Hand. Bei allen acht Welten, hatte simples Brot schon immer so geschmeckt? So frisch und süß? Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Zwar würde wahrscheinlich auch ein zwei Wochen alter trockener Kanten für den 21-Jährigen in diesem Augenblick wie das frischeste und süßeste Brot überhaupt schmecken, aber das war ihm gerade tatsächlich völlig egal. Er hatte schon zu lange nichts Vergleichbares mehr zwischen die Zähne bekommen.
Dennoch, sein Misstrauen blieb ungebrochen und das half ihm, sich halbwegs in den Griff zu kriegen, bevor er sich wie ein kleines Kind mit Heißhunger zum Deppen machte. Schon allein, weil ihn die Frage nach dem 'Warum' beschäftigte. Warum dieser Offizier ihm einfach sein Essen zu warf. Vergiftet? Das hielt Lucien für ebenso unwahrscheinlich wie eine einfache, nette Geste. Was also dann? Eine Gelegenheit für eine Strafmaßnahme, wie weit hergeholt auch immer, um seine sadistische Ader auszuleben? Der Dunkelhäutige sah nicht wirklich nach einem dieser Sorte aus, doch das hatte der junge Gefangene schließlich auch von dem letzten Leutnant gedacht, dem er begegnet war. Allein bei dem Gedanken daran hob Lucien die Rechte, um sich über den Nacken zu fahren, wurde jedoch mitten in der Bewegung von der Kette aufgehalten, die ihn an das Geschütz fesselte. Seine Hand schloss sich zur Faust, dann ließ er sie sinken und richtete die grünen Augen wieder auf den Mann hinter dem Schreibtisch, der bereits ausführlich auf seine Frage antwortete.
Der Dunkelhaarige runzelte flüchtig die Stirn, schwieg jedoch und brach sich kurzerhand noch ein weiteres Stück von seinem Brot ab. Damit verschaffte er sich einen Augenblick Zeit zum Nachdenken, bevor er gezwungen war, zu antworten. Man hatte ihn also nicht einfach nur auf ein Schiff gesetzt, um ihn nach Esmacil zu schippern, damit er seine Strafe absitzen konnte. Jemand – ein hochrangiger Marineangehöriger – hatte dafür gesorgt, dass er ganz genau auf diesem Schiff landete. Jetzt und hier. Und er sollte diese Überfahrt lebend überstehen. Warum?
Da er jedoch ernsthaft bezweifelte, dass ihm der Leutnant eine Antwort auf diese Frage liefern konnte, behielt er seine Gedanken für sich und verlegte sich darauf, abzuwarten, wohin dieses Gespräch noch führen würde.
„Nichts lieber als das.“, antwortete er mit einem Hauch Sarkasmus in der Stimme. „In meiner Nachbarzelle saß so ein Typ. Ziemlich groß, massig, Glatze... und dumm wie ein Sack Mehl. Keine Ahnung, wie der hieß, aber der hat ein paar von den Dingen, die ich gesagt habe, nicht ganz so gut aufgenommen. Seine 'Freunde' vermutlich auch nicht.“
Einen kurzen Moment lang dachte Lucien an den sympathischen Schwarzen, mit dem er sich fast so etwas wie angefreundet hatte. Doch der war schon Tage vor ihm aus seiner Zelle geholt worden, also bezweifelte der Dunkelhaarige, dass er ihn auf der Morgenwind wieder treffen würde. Geschweige denn im Gefängnis von Esmacil. Bei dem Mehlsack sah das allerdings anders aus und tatsächlich lag es auch in seinem Interesse diese Überfahrt zu überleben. Aus welchem Grund auch immer.
RE: Vom Regen in die Traufe - Enrique de Guzmán - 11.03.2017
Faszinierend, wie glücklich ein einfaches Stück Brot doch machen kann. Luciens Freude sorgte dafür, dass sich ein wohliges Gefühl in ihm ausbreitete. Denn Enrique war das nicht unbekannt. Flaute, schlechte Winde, ein unfähiger Navigator, schon einige Male hatten Umstände die Fahrten in die Länge gezogen, und auch wenn es vielleicht nicht Brot gewesen war, immer hatte es etwas gegeben, dass er sehr vermisst hatte und es dann zu genießen war wie eine Offenbarung gewesen.
Nicht zu lächeln viel ihm schwer und er beschloss, dass es seinem Ziel nicht schaden würde es zu tun. Er hatte nun mal überraschend gute Laune und sein Gegenüber war kein Untergebener, warum sie nicht mal zeigen?
Beiläufig schob er ein paar Papiere zurecht und lauschte den Geräuschen um sie herum. Beruhigend prasselte kontinuierlich Regen auf das Schiff, vermischt mit den Geräuschen des Verladen von Fracht. Erst wanderte sie außen hoch, dann wurde der Kran über das Deck geschwenkt und dann durch die geöffneten Ladeluken in den Frachtraum abgesenkt. Matrosen liefen hin und her, der Bootsmann brüllte Befehle, von nebenan drang das Schnarchen der Seemänner in ihren Hängematten. Nicht mehr lange und auch der letzte Schläfer würde geweckt werden. Unter ihnen versuchten Gefangene sich mit den Wachen und den Verladeteams anzulegen und das Scharren und Rumpeln aus dem Frachtraum ganz unten kündete davon, dass schwere Kisten oder Fässer verstaut wurden.
Dann verstimmte dem Schmuggler irgendwas und er versuchte sich in den Nacken zu greifen. Angestrengt versuchte der Leutnant zu erkennen, ob dort Spuren zu sehen waren. Überhaupt lenkte diese Bewegung die Aufmerksamkeit des Offiziers darauf, dass er den Jüngling eingehend musterte, nach Hinweisen suchte und versuchte herauszufinden, was sie ihm über das jüngere Schicksal des Grünäugigen verrieten.
Wobei er sich das Meiste durchaus vorstellen konnte. Wie lange machte er das hier schon mit? Zwei Jahre? Länger. Mehr als genug Zeit, um mitzukommen wie die Aufseher und die Gefangenen mit und untereinander umsprangen, ob er wollte oder nicht.
Seine gute Laune hatte einen Dämpfer abbekommen, nicht genug um sie gänzlich zu vertreiben, nur soweit, dass er, mit neutralem Gesicht, entspannt da saß, als Lucien wieder zu ihm hoch sah.
Enrique hielt seine Antwort stichpunkthaft auf einem Blatt Papier fest, wusste aber sofort, dass ihm diese Beschreibung wenig nützen würde. Also griff er zur Liste und schaute ob dort etwas vermerkt war:
Oft geistesabwesend und gleichgültig
Was das wohl bedeuten mochte? Der Mann sah eindeutig nicht nach jemanden aus, der Opium rauchte oder andere Drogen konsumierte.
Widersetzt sich den Anweisungen
Hah! Was ein Wunder. Der Junge hatte bis jetzt nicht aufgegeben, hatte einen wachen Verstand und wahrscheinlich auch sonst eine eigene Vorstellung davon, wie er behandelt werden wollte.
sonst keine Auffälligkeiten.
Also nicht gewalttätig. Hmm...
Der Dunkelhäutige überlegte eine Weile. Schließlich musste er sich aber eingestehen, dass er sich aus verschiedenen Gründen längst entschieden hatte. Einer davon war, dass der Schmuggler einen halbwegs anständigen Eindruck machte, ein anderer dessen ruhige Art. Aber es gab durchaus noch den einen oder anderen mehr ihn als Gesellschaft für den Richter zu wählen...
Enrique lächelte kurz und trug den Namen in seinem Belegungsplan ein.
Als er damit fertig war wandte er sich wieder an Lucien:
"Sind das alle? Und gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?"
RE: Vom Regen in die Traufe - Lucien Dravean - 28.04.2017
So unbegreiflich es ihm auch erschien, irgendetwas musste an dieser abenteuerlichen Geschichte wohl doch dran sein. Denn kaum hatte Lucien zu Ende gesprochen, begann der Leutnant, sich eifrig ein paar Notizen dazu zu machen und seine Papiere zu studieren.
Es war nicht so, dass der junge Häftling das Gerede über den ominösen Admiral Westenra nicht glaubte. Wozu sollte eine Lüge an der Stelle auch gut sein? Es wollte ihm wohl einfach nicht gänzlich in den dicken Schädel gehen. Mal abgesehen davon passte dann der dunkelhäutige Leutnant nicht unbedingt in sein Bild eines stumpf und brav seinen Befehlen gehorchenden Marinesoldaten. Auf den ersten Blick hin fiel es nicht weiter auf. Immerhin schien dem Mann nichts mehr am Herzen zu liegen, als die Erfüllung seiner Pflicht – nämlich Lucien lebend nach Esmacil zu schaffen und damit seinen Kapitän gut dastehen zu lassen. Wenn da nicht dieses leise Interesse in den dunklen Augen wäre, kaum dass diese auf den 21-Jährigen fielen. Darauf wetten würde Lucien jedoch nicht. Seine Menschenkenntnis war nie besonders gut gewesen.
Trotzdem war es nun an ihm, seinen Gegenüber eingehender zu mustern, während dieser ein Schriftstück überflog, das vor ihm lag. Er hatte sich ehrlich gesagt nie die Mühe gemacht, seine Wärter oder die anderen Spinner von der Marine zu beobachten, während er seine Zeit in verschiedenen Zellen absaß. Dann hätte er nun vielleicht ein besseres Bild davon, wie sich ein braver Soldat verhielt. Allerdings hatte er das untrügliche Gefühl, dieser hier interessierte sich ein kleines bisschen zu viel für die Hintergründe.
Der Dunkelhäutige kritzelte etwas auf ein weiteres Stück Papier – Lucien ging davon aus, dass es dabei immer noch um ihn ging – und hob endlich wieder den Blick. In gerade dem Moment, in dem der Dunkelhaarige herzhaft in den Brotlaib biss und so sein nachdenkliches Starren überspielte. Ob der Offizier es dennoch mitbekommen hatte, spielte keine große Rolle. Immerhin interessierten sie sich wahrscheinlich beide – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – für die mehr als merkwürdigen Umstände um seine Person.
Über das Gebäck hinweg lagen die grünen Augen betont gleichgültig auf dem Mann hinter dem Schreibtisch. Doch als dieser das Wort ergriff und das Schweigen der letzten Sekunden wieder brach, hob Lucien eine Augenbraue. Er senkte die Hand mit dem Brot, kaute jedoch genüsslich auf, bevor er antwortete – wieder, um ein klein wenig Zeit zu schinden, in der er darüber nachdenken konnte. Dann schüttelte er leicht den Kopf, schluckte und ein spöttisches Schmunzeln zuckte flüchtig um seine Mundwinkel.
„Nicht, soweit ich mich erinnere. Ich gehörte nicht unbedingt zu den geselligen Leuten.“
Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, war aber auch nicht wirklich gelogen. Natürlich hätte er es dem Dunkelhäutigen auch schwer machen und ihm hier einen vom Pferd erzählen können. Doch letzten Endes würde er sich damit nur selbst schaden, wenn dieser Mann, ganz wie es den Anschein hatte, für die Verteilung der Insassen zuständig war.
Außerdem ging es ihm im Augenblick um etwas ganz anderes. Der Dunkelhaarige verlagerte ein wenig das Gewicht, neigte den Oberkörper leicht nach vorn und musterte den Offizier nun unverholen neugierig.
„Und welche Rolle nehmt Ihr in dieser ganzen Geschichte um mich ein? Den braven Soldaten, der sich den Arsch aufreißt, damit sein Kapitän am Ende schön den Ruhm einheimst? Ich wette, Westenra wird sich nicht bei Euch bedanken...“
RE: Vom Regen in die Traufe - Enrique de Guzmán - 30.04.2017
Selbst wenn er nicht gelegentlich aus dem Augenwinkel zu Lucien hinübergespäht hätte wäre ihm anhand des leichten Kribbeln im Nacken klar gewesen, dass er beobachtet wurde. Irgendwann hatte er irgendwie dafür ein Gespür entwickelt und lag damit meistens richtig. Kein Wunder bei diesem Umfeld.
So aber bekam er den Blick des Gefangenen mit und dachte sich seinen Teil.
Auch über die Antwort: Nicht der gesellige Typ, hm? Wie kommt es dann, dass so viele Leute ein gesteigertes Interesse an deinem Verbleib haben?
Gesellig wirkte der Schmuggler wirklich nicht. Und dennoch wäre er wohl jemand, zu dem man sich gesellte, wenn man nicht zu den üblichen begriffsstutzigen Schlägern oder apathischen Jammerlappen gehörte. Und eine falsche Schlange schien er auch nicht zu sein.
Also gehörte er in die Kategorie der Leute, um die sich diejenigen sammelten, die intelligent genug waren über die Zeit an Bord eines Schiffes oder im Gefängnis hinauszudenken und nicht selber Handlanger um sich scharten.
Dann traf seine Frage.
Dem Grünäugigen war sicher nicht klar, wie tief und zielsicher er ins Wespennest stach. Die Stimmung des Leutnant kippte. Wütend fixierte er den Gunport. Ja. Genau das war die ihm zugedachte Rolle. Aber am Ende würde er wohl eher der Sündenbock sein, der, auf den Harper die Schuld schob, weil es niemanden interessierte, dass es unmöglich war, so viele Gefangene auf so wenig Raum zu verstauen, ohne dass sich nicht mindestens zwei an die Gurgel gehen würden. Am allerwenigsten den Kapitän selber, alles was er seinem Leutnant durchgehen lassen würde wäre ein perfektes Ergebnis, sonst würde er ihn bestrafen. Und so lange der Leutnant nicht ein wahres Wunder mit der Verteilung vollbrachte oder es ihm gelang alle Gefangenen die komplette Reise über mit Opium zu versorgen würde er Versagen.
Die Frage war also nur, wie schlimm die Strafe ausfallen würde, und bei dem, was bereits auf seinem Schuldenkonto stand machte das, was möglicherweise passieren würde kaum einen Unterschied.
So viel zu seinen Zukunftsaussichten und der Person, die ihm eigentlich den Rücken stärken sollte, in dem sie zu seinen Gunsten aussagte oder wenigstens die Verantwortung trüge.
Enrique hätte seine Pflichten nicht ansatzweise als so lästig empfunden, wenn er auch den dazugehörigen Rang bekleiden würde und seine Aussagen das entsprechende Gewicht hätten. Aber er war nicht der Kapitän, nicht einmal jemand, dem selbiger Gehör schenkte. Also waren sein Angaben nicht einen Pfifferling wert.
Blieb der Konteradmiral. Westenrah würde sich garantiert nicht bedanken. Ihn darauf anzusprechen würde wohl eher einem weiteren Todesurteil für seine Karriere gleichkommen. Allein, dass Enrique ahnte welchem Zwecke sein eingreifen diente machte ihn für den Befehlshaber der Gefängnisflotte gefährlich. Wüsste jener davon würde er wahrscheinlich etwas dagegen unternehmen. Auch da hieße es also bloß nichts durchblicken lassen.
Hätte Enrique nicht seine eigenen Ziele verfolgt, er hätte keinen Nutzen davon, sich nie soviel Mühe gegeben.
Kurz sah er mit neutralerem Blick zum Dunkelhaarigen hinüber, ehe er wieder auf die Außenwand des Schiffes starrte. Eben noch hatte er versucht damit Löcher ins Holz zu brennen, danach schienen seine Haltung ein wenig in sich zusammenzusinken und seine Augen schlossen sich. Wie weit sollte er mit offenen Karten spielen und ihn einweihen? Was wenn es nicht passierte? Oder schief ging? Nein, das Risiko wäre zu hoch. Jetzt, nachdem der Zorn verraucht war, fühlte er sich erschöpft. Wie oft war er dieser Gedankenkette in letzter Zeit gefolgt? War es wirklich erst seit Netara so schlimm? Es kam ihm länger vor.
Solche und weitere Fragen jagten sich in seinem Kopf.
Dieses Mal dehnte sich das Schweigen eine ganze Weile. Dann straffte der Dunkelhäutige die Schultern und fixierte Lucien. Weder aus seinem Blick noch aus seiner Stimme konnte er seinen Unmut gänzlich heraushalten.
"Das ist zumindest die Rolle, die von mir erwartet wird. Dankbarkeit wird man mir nicht zuteil werden lassen, das weiß ich.
"Ich komme trotzdem meiner Pflicht nach, so gut ich kann. Das bin ich mir schuldig.
"Was sie und Westenrah betrifft hoffe ich mit meinem Handeln ein paar Probleme zu lösen. Dinge, die sich sonst meines Einflusses entziehen würden, weil man mir die Erlaubnis verwehrt mich darum zu kümmern, die ich aber klären muss."
Abwehrend hob der Offizier die Hand.
"Keine Sorge, sie müssen nichts tun. Ich bin das jemand anderem Schuldig.
"Und was sie und mich betrifft", er erhob sich, griff den Teller mit Weintrauben, Rührei, Bohnen und Schinken und umrundete die Back, "spiele ich wo—"
Enrique brach ab, denn kurz war vor der Kajüte Fußgetrappel zu hören, danach einzelne Schritte, die verhielten. Bei allen guten Geistern der See, wieso ausgerechnet jetzt? Auch wenn er dem kleinen Fuchs grollte, dass er diese Gedanken hochgebracht hatte musste er sich jetzt entscheiden und es widerstrebte ihm eine Gelegenheit verstreichen zu lassen. Vielleicht würde sein Gegenüber nie darauf eingehen oder die Hilfe zwar nutzen, dann aber auf nimmer wiedersehen verschwinden oder er nicht mehr am Leben sein wenn es soweit war aber falls doch...
In normalem Ton meinte er daraufhin:
"Wie ich mir dachte, ein kleiner, lausiger Schmuggler. Wird Zeit, dass ich dich in eine Zelle stecke!"
Unruhig bewegte sich die Gestalt vor der Tür und verriet dem Offizier, worum es gehen würde. Er ging neben Lucien in die Knie, stellte den Rest seines Frühstücks in Reichweite des Schmugglers, beugte sich zu ihm und flüsterte eindringlich über den Regen:
"Man wird uns gleich stören, deswegen hör mir jetzt gut zu! Wenn du auf Esmacil bist, frag nach Iguana, er kann dir besorgen, was du brauchst. Sag ihm Asier schickt dich. Und wenn du draußen bist höre dich nach Ara'baracutey um. Fähige Leute kann er immer gebrauchen und ist auch bereit jemanden, der ihn überzeugt, wieder auf die Beine zu helfen.
"Ich werde mich jetzt um diese Angelegenheit kümmern." Sein Blick deutete Richtung Tür. "Wenn ich wieder komme, bin ich wahrscheinlich nicht allein, ich will den Teller dann nicht sehen also schiebe ihn unter die Lafette!"
Mit den letzten Worten schickte de Guzmán sich an, sich zu erheben und nur eine schnelle Reaktion Luciens könnte ihn stoppen.
RE: Vom Regen in die Traufe - Lucien Dravean - 01.05.2017
Na sieh mal einer an. Mit seinen geradezu provozierend ins Blaue geschossenen Worten hatte der Dunkelhaarige offenbar einen mehr als wunden Punkt getroffen. Wut flammte im Blick des Offiziers auf, ehe er den Kopf etwas abwandte und an Lucien vorbei zu der Luke in der Schiffswand starrte, als wäre die an allem Schuld. Aber besser die, dachte sich der junge Häftling, als wenn der Mann hinter dem Schreibtisch ihn so anschauen würde. Denn er wusste sehr genau, dass ein Marinesoldat keinen Grund brauchte, um seine Wut an einem Häftling auszulassen und die wenigsten dachten darüber nach, ob nun die Wahrheit das war, was ihnen so übel aufstieß, oder der, der sie nur ausgesprochen hatte. Immerhin das hatten ihn die letzten zwei Jahre gelehrt.
Doch die Stille zog sich in die Länge, ohne, dass etwas dergleichen geschah. Lucien unterbrach sie nicht. Er hätte nur zu gern gewusst, was in diesem Augenblick hinter der Stirn seines Gegenübers vor sich ging. Dass ihn seine eigene Situation und die Geringschätzung, die er hier offenbar erfuhr, gehörig gegen den Strich gingen, war unübersehbar. Hätte der 21-Jährige es nicht besser gewusst, würde er sogar annehmen, dass es ihn weit mehr störte, als unter dem Soldatendurchschnitt üblich. Stellte sich nur die Frage, was den Offizier dann zur Marine getrieben hatte. Denn dass es sich bei diesen Menschen um einen Haufen Vetternwirtschaft betreibender, gieriger Krimineller handelte, war ja allgemein bekannt – oder zumindest eine ganz übliche Sichtweise unter den einfachen Leuten, mit denen Lucien bis vor zwei Jahren noch regelmäßig Umgang hatte.
Schließlich wandte sich der Dunkelhäutige wieder an den Häftling und brach das lange Schweigen. Die Erklärung selbst empfand letzterer als eher dürftig. Er mimte also doch den braven Soldaten und tat, was von ihm erwartet wurde. Nur eine Kleinigkeit zerstörte diesen Eindruck. Nämlich die Tatsache, dass er die Einmischung eines Konteradmirals für seine eigenen Zwecke zu nutzen gedachte – wie auch immer er das anzustellen gedachte.
“Keine Sorge, sie müssen nichts tun.“ Der junge Häftling stieß prompt ein spöttisches Schnauben aus. Als ob er für diesen Mann überhaupt irgendetwas getan hätte. Selbst, wenn er ihn nett darum bat. Doch der Spott verging ihm, als der Offizier sich plötzlich erhob und den Schreibtisch umrundete. Lucien spannte sich unwillkürlich. In den grünen Augen erschien arroganter Trotz. Noch immer rechnete er damit, dass sich die Wut, die er herauf beschworen hatte, nun gegen ihn entlud. Aber es kam anders.
Vor der Tür zur Kajüte ertönten eilige Schritte, die seine Aufmerksamkeit für einen kurzen Moment dorthin lenkten. Dann zerschnitt erneut die Stimme des Offiziers das Schweigen – dieses Mal in einem Ton, der nicht so recht zu dem bisherigen Gespräch zu passen schien. Mal abgesehen von den völlig ohne Zusammenhang dastehenden Worten. Es dauerte trotzdem mehrere schnelle Herzschläge, bevor der Dunkelhaarige begriff, dass es sich wohl um ein Täuschungsmanöver handelte, um den, dessen Schritte erklungen waren, auf eine falsche Fährte zu lenken.
Ehe der 21-Jährige sich versah, hatte der Leutnant die kurze Entfernung zwischen ihnen überwunden und begab sich auf eine Höhe mit dem Gefangenen. Der Duft des Essens stieg ihm in die Nase – noch besser als das Brot, das er noch immer nicht ganz aufgegessen hatte – doch dieses Mal lagen die grünen Augen direkt auf seinem Gegenüber. Der sprach so leise, dass er ihn über den Regen und die Betriebsamkeit auf dem Schiff beinahe nicht verstanden hätte, doch der eindringliche Ton entging ihm nicht. Ganz egal, was er von diesem Mann halten mochte, er erkannte die Möglichkeiten, die er ihm damit bot. Möglichkeiten, die er nutzen konnte, um das zu überleben, was vor ihm lag. Dennoch überschlugen sich seine Gedanken. Er lauschte, aufmerksam, sog die Informationen auf, während über all dem die bohrende Frage nach dem Warum stand. Das Misstrauen war allgegenwärtig.
Und als der Leutnant dazu ansetzte, sich zu erheben, den Teller neben Lucien stehen ließ, konnte er die Fragen nicht zurück halten. In den grünen Augen brannte die Skepsis unverhohlen, doch er senkte die Stimme weit genug, um von draußen nicht gehört zu werden.
„Warum helft Ihr mir? Wenn ich diese Überfahrt überlebe, wenn ich Esmacil überlebe, was erwartet Ihr für Eure Hilfe?“
Es gab in dieser Welt nichts geschenkt. Und auch wenn Lucien seine Schulden beglich – er wusste gern vorher, was es ihn kostete.
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