28.04.2017, 12:46
So unbegreiflich es ihm auch erschien, irgendetwas musste an dieser abenteuerlichen Geschichte wohl doch dran sein. Denn kaum hatte Lucien zu Ende gesprochen, begann der Leutnant, sich eifrig ein paar Notizen dazu zu machen und seine Papiere zu studieren.
Es war nicht so, dass der junge Häftling das Gerede über den ominösen Admiral Westenra nicht glaubte. Wozu sollte eine Lüge an der Stelle auch gut sein? Es wollte ihm wohl einfach nicht gänzlich in den dicken Schädel gehen. Mal abgesehen davon passte dann der dunkelhäutige Leutnant nicht unbedingt in sein Bild eines stumpf und brav seinen Befehlen gehorchenden Marinesoldaten. Auf den ersten Blick hin fiel es nicht weiter auf. Immerhin schien dem Mann nichts mehr am Herzen zu liegen, als die Erfüllung seiner Pflicht – nämlich Lucien lebend nach Esmacil zu schaffen und damit seinen Kapitän gut dastehen zu lassen. Wenn da nicht dieses leise Interesse in den dunklen Augen wäre, kaum dass diese auf den 21-Jährigen fielen. Darauf wetten würde Lucien jedoch nicht. Seine Menschenkenntnis war nie besonders gut gewesen.
Trotzdem war es nun an ihm, seinen Gegenüber eingehender zu mustern, während dieser ein Schriftstück überflog, das vor ihm lag. Er hatte sich ehrlich gesagt nie die Mühe gemacht, seine Wärter oder die anderen Spinner von der Marine zu beobachten, während er seine Zeit in verschiedenen Zellen absaß. Dann hätte er nun vielleicht ein besseres Bild davon, wie sich ein braver Soldat verhielt. Allerdings hatte er das untrügliche Gefühl, dieser hier interessierte sich ein kleines bisschen zu viel für die Hintergründe.
Der Dunkelhäutige kritzelte etwas auf ein weiteres Stück Papier – Lucien ging davon aus, dass es dabei immer noch um ihn ging – und hob endlich wieder den Blick. In gerade dem Moment, in dem der Dunkelhaarige herzhaft in den Brotlaib biss und so sein nachdenkliches Starren überspielte. Ob der Offizier es dennoch mitbekommen hatte, spielte keine große Rolle. Immerhin interessierten sie sich wahrscheinlich beide – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – für die mehr als merkwürdigen Umstände um seine Person.
Über das Gebäck hinweg lagen die grünen Augen betont gleichgültig auf dem Mann hinter dem Schreibtisch. Doch als dieser das Wort ergriff und das Schweigen der letzten Sekunden wieder brach, hob Lucien eine Augenbraue. Er senkte die Hand mit dem Brot, kaute jedoch genüsslich auf, bevor er antwortete – wieder, um ein klein wenig Zeit zu schinden, in der er darüber nachdenken konnte. Dann schüttelte er leicht den Kopf, schluckte und ein spöttisches Schmunzeln zuckte flüchtig um seine Mundwinkel.
„Nicht, soweit ich mich erinnere. Ich gehörte nicht unbedingt zu den geselligen Leuten.“
Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, war aber auch nicht wirklich gelogen. Natürlich hätte er es dem Dunkelhäutigen auch schwer machen und ihm hier einen vom Pferd erzählen können. Doch letzten Endes würde er sich damit nur selbst schaden, wenn dieser Mann, ganz wie es den Anschein hatte, für die Verteilung der Insassen zuständig war.
Außerdem ging es ihm im Augenblick um etwas ganz anderes. Der Dunkelhaarige verlagerte ein wenig das Gewicht, neigte den Oberkörper leicht nach vorn und musterte den Offizier nun unverholen neugierig.
„Und welche Rolle nehmt Ihr in dieser ganzen Geschichte um mich ein? Den braven Soldaten, der sich den Arsch aufreißt, damit sein Kapitän am Ende schön den Ruhm einheimst? Ich wette, Westenra wird sich nicht bei Euch bedanken...“