07.02.2017, 17:25
Inzwischen war er bis auf die Knochen durchnässt. Noch immer tropfte ihm das Regenwasser aus dem verfilzten Haar und rann über die längst vernarbte Haut in seinem Nacken. Die zerlumpte Kleidung, kaum mehr als zerfetzter Leinenstoff, der ihn notdürftig verhüllte, klebte ihm am Körper und offenbarte seine ausgemergelte Statur. Jede einzelne Rippe zeichnete sich deutlich ab und er fror erbärmlich. Nicht zuletzt, weil er kaum noch genug Fleisch auf den Knochen hatte, um warm zu bleiben. Aber immerhin fühlte sich Lucien seit langem mal wieder so etwas ähnliches wie gewaschen. Er hatte beinahe das Gefühl, nicht mehr bis zum Himmel zu stinken... Aber auch nur beinahe. Wenn ihn jetzt also entweder der Hunger oder eine Lungenentzündung dahin rafften, dann immerhin frisch gewaschen.
Mit trockenem Zynismus ließ Lucien den Tag gedanklich Revue passieren. Im Grunde hatte er keine Ahnung, wie er an diesen Punkt gekommen war, an dem er nun stand. Nämlich in einer Kajüte, die Schlaf- und Arbeitsbereich in einem war, vor irgendeinem Mann in Uniform – darin sah jeder Marinesoldat aus wie der andere, das implizierte ja schon der Begriff 'Uniform' – der allerdings kaum viel älter sein konnte, als er selbst.
Wissend, dass es ihm eigentlich nichts nützte, hob der Dunkelhaarige prüfend die in Eisen liegenden Hände und spürte gleich darauf den Widerstand der Kette, die man an dem schweren Geschütz neben ihm befestigt hatte. Die rohe Behandlung, mit der man ihn im wahrsten Sinne des Wortes in die Knie zwang, hatte Lucien mehr oder weniger widerstandslos über sich ergehen lassen. Nicht nur hier. Auch heute morgen schon, als man ihn aus seiner Zelle holte. Mit eben der Gleichgültigkeit, mit der er in Kauf genommen hatte, dass sein Vater im Kampf gegen die Soldaten fiel und seine eigene ungerührte Kapitulation ihn auf direktem Wege ins Gefängnis führen würde. Wir kämpfen, Junge. Ganz egal, was passiert! Hatte er nicht. Wozu auch? Er war nicht so dämlich, sich für nichts in einen Kampf zu stürzen, den er nicht gewinnen konnte.
Was hätte es dem Dunkelhaarigen also genützt, sich gegen die Männer, die ihn hier her bugsierten, zur Wehr zu setzen? Genau: Nichts. Mit dem Gedanken, die nächsten Jahre auf Esmacil zu verbringen, hatte er sich bereits abgefunden, als er an Bord der Dorrow die Waffen streckte. Und die Genugtuung, zu sehen, wie der Mann, der ihn aufgezogen hatte, seine letzte Schlacht verlor, hatte Luciens Entscheidung besiegelt.
Doch langsam kam ihm seine ganze Situation mehr als absurd vor. Wenn es nur darum ging, ihn in das Hochsicherheitsgefängnis zu überführen, was machte er dann hier in diesem Raum? Die grünen Augen folgten der Szenerie mit einem Anflug von Misstrauen, während die drei Männer ein paar knappe Sätze austauschten und den Papierkram erledigten. Dann traten die zwei, die ihn gebracht hatten, den Rückzug an. Lucien beschlich ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache. Das letzte Mal, als er einem Marineoffizier unter vier Augen seine 'Aufwartung' machen durfte, nahm für den 21-Jährigen kein gutes Ende.
Zunächst beachtete ihn der Mann hinter dem Schreibtisch jedoch nicht und Lucien nutzte die drückende Stille, um sich, soweit die Handfesseln es zu ließen, bequemer hin zu setzen. Schlimm genug, dass es seiner ganzen Konzentration bedurfte, nicht vor Kälte mit den Zähnen zu klappern. Verfluchtes Marinepack.
Dann endlich schien der Mann hinter dem Schreibtisch mit seiner Arbeit fertig zu sein und widmete sich seinem Gegenüber. Die Musterung ließ der Dunkelhaarige schweigend über sich ergehen. Nur seine Augenbraue hob sich ein Stück weit an. Ansonsten blieben seine Züge ausdruckslos.
„Wäre es nicht einfacher für Euch, die beiden hätten mich einfach mitgenommen und in irgendeine Zelle verfrachtet? Dann hättet Ihr Euch die Arbeit gespart.“
In seiner Stimme lag ein Ton, als beträfe ihn die ganze Angelegenheit nicht. Aber er war ehrlich zu sich. Lieber steckte er in irgendeiner Zelle, als hier in diesem Raum.