03.01.2024, 18:27
Pferde? Auf einem Friedhof? Das war neu. Rayons Blick traf den von Per, dann den von Cassy - beide wirkten ebenso alarmiert wie er selbst. Natürlich war es durchaus möglich, dass die Tiere überhaupt nichts mit den Entführern des Mädchens zu tun hatten, doch in Anbetracht der Tatsache, dass der Friedhof seit ihrer Ankunft wie ausgestorben gewirkt hatte, war das unwahrscheinlich. Und in dem Fall hießen Pferde, dass es sich bei den Entführern vermutlich nicht um Halbstarke handelte, wie der Junge in ihrer Begleitung hoch und heilig geschworen hatte.
Der Schiffskoch warf dem Jungen einen skeptischen, fast bohrenden Blick zu, den dieser in seinem aufgelösten Zustand nicht bemerkte. Eine weitere Befragung erübrigte sich jedoch, weil just in diesem Moment eine Stimme an ihr Ohr drang, die ein wenig zu laut zu sprechen schien. Liam.
Das bedeutete, dass ihr Kamerad in Gefahr war.
Und das wiederum bedeutete, dass sie es mit den Entführern aufnehmen mussten, ganz egal, wie alt sie waren. Ob der Junge die Wahrheit gesagt hatte, spielte ab jetzt keine Rolle mehr.
Gemeinsam schlichen sie in Richtung der Stimmen, darum bemüht, keine Geräusche zu verursachen, um den Vorteil nicht zu verspielen, den sie durch Liams Warnung gewonnen hatten. Es dauerte nicht lange, bis sie erblickten, was Rayon schon vermutet hatte und ihm nichtsdestotrotz einen stummen Fluch entlockte. Drei erwachsene Männer. Zwei Kinder. Vermutlich waren die beiden ein Teil der Bande, die der Junge erwähnt hatte. Und da war auch ein Mädchen - vermutlich seine Schwester. Zumindest in diesem Punkt hatte er also nicht gelogen.
Liam stand neben einer Kutsche, ein Messer in der Hand. Lose Zügel baumelten neben ihm in der Luft. Rayon musste angesichts der Kreativität des Künstlers unweigerlich grinsen. Das war zumindest eine sehr effektive Weise, die Entführer an der Flucht zu hindern, auch wenn er sich dabei selbst in Gefahr gebracht hatte. Jetzt war es an ihnen, die Situation zu retten.
Glücklicherweise kümmerte Cassy sich um den Jungen und teilte ihnen dann ihren Plan mit, der bestenfalls gewagt, schlimmstenfalls selbstmörderisch war.
"Einverstanden", stimme er zu - und wurde genauso von Cassys entschlossenem Handeln überrascht wie Per. Er unterdrückte ein Stöhnen und nickte Per als Zeichen zu, dass er mit seinem Plan einverstanden war. Er griff an seinen Gürtel, öffnete die Tasche mit seinen Wurfäxten und griff sich zwei der Waffen, wartete dann darauf, dass Per sich in Position begeben hatte. Für einen kurzen Moment schien es, als würde dessen Plan gewaltig nach hinten losgehen, denn die Kinder schienen ihn entdeckt zu haben und schickten sich an, die Männer zu alarmieren, mit denen sie augenscheinlich gemeinsame Sache machten. Der Pirat jedoch handelte geistesgegenwärtig, schaltete einen der Männer aus und richtete seine Pistole auf den anderen. Damit blieb nur noch derjenige übrig, der Liam gegenüberstand - und dem Künstler damit gefährlich werden konnte, wenn er gedankenschnell reagierte.
Dazu wollte Rayon es jedoch nicht kommen lassen. Er trat aus seinem Versteck, holte aus, und warf eine der Wurfäxte in hohem Boden in Richtung des Entführers. Die Waffe traf, allerdings nicht so präzise, wie der Schiffskoch es gerne gehabt hätte - anstatt ihm den Schädel zu spalten, streifte sie seine linke Schulter und prallte von ihr ab. Nicht genug, um ihn auszuschalten, aber mehr als genug, um ihm einen Schmerzensschrei zu entlocken und ihn abzulenken.
"LIAM! JETZT!", bellte Rayon und verließ sich darauf, dass sein Freund wusste, was zu tun war, um von der Ablenkung zu profitieren.
Gleichzeitig setzte sein Herz einen Schlag aus, als er bemerkte, dass die beiden Jungen nicht untätig geblieben waren. Ganz im Gegenteil - sie hatten sich das Mädchen gegriffen und versuchten, sich davonzuschleichen - genau im Rücken von Per.
"Per, halt die Kinder auf!", rief er, während er im Sprint die Distanz zu den Männern überbrückte. Die Hand des Mannes, der Per gegenüberstand, bewegte sich in Richtung seiner Pistole, und Rayon begriff, dass sie mindestens einen der Männer leben lassen mussten, um mehr Informationen zu erhalten. Per hatte einen von ihnen ausgeschaltet - ob er nur ohnmächtig oder tot war, konnte der Schiffskoch nicht beurteilen. Liam musste sein Gegenüber möglicherweise töten, um selbst zu überleben. Das bedeutete, dass der Mann vor ihm nicht sterben durfte, egal ob durch seine oder Pers Hand.
In einer flüssigen Bewegung warf er die zweite Wurfaxt von der linken in die rechten Hand, holte aus und warf. Die Axt sauste durch die Luft, und diesmal hatte er genau genug gezielt. Die Waffe durchschnitt den Gürtel des Mannes genau dort, wo die Pistole befestigt war, und die Hand griff ins Leere, als das Kleidungsstück zu Boden glitt. Momente später war Rayon bei ihm angelangt und stieß ihm im Vollsprint die Schulter in den Magen. Der Mann ging mit einem Aufschrei zu Boden und Rayon stürzte auf ihn, griff sich eines der Messer an seinem Gürtel und hielt es seinem Gegner an die Kehle.
"Erfreut, deine Bekanntschaft zu machen", sagte er grimmig zwischen zwei schweren Atemzügen.
[ Auf dem Friedhof | bei Per, Liam, Cassy, dem Straßenjungen und den Entführern ]