Kapitel 9 - Der Ruf der Königin - Weltenwind - 13.04.2022
Ein Hauch von Geheimnis ...
Zuletzt gelang es der jungen Mannschaft der Sphinx doch noch, ein paar Dinge aus dem Rumpf des Handelsschiffes zu bergen, die sich möglicherweise zu Geld machen ließen: Das Hab und Gut der gefangenen und toten Matrosen; in gewachstes Segeltuch eingeschlagene Seidenstoffe, die weder durch Nebel noch durch Wasser Schaden genommen hatten; ein paar recht wertvoll wirkende Gegenstände aus den Kabinen des Kapitäns und seines ersten Offiziers, die noch nicht gänzlich vom Wasser verschluckt worden waren; Seile, Taue, Segeltuch und andere Rohstoffe, die sie für die Instandsetzung der Sphinx benötigen konnten; ja selbst das kleine Arsenal an Waffen, die Rayon und Josiah den übrig gebliebenen Seemännern abgenommen hatten, nahmen die Piraten an sich.
Alles, bis auf eine einzelne Pistole, ein Säckchen Pulver samt Papier und sechs Bleikugeln. Genau eine für jeden Mann, der sich entschied, auf dem Wrack zurückzubleiben und sein Glück lieber mit dem Nebel zu versuchen, als mit einer Bande Gesetzloser. Denn kaum hatte Tarón sich des Unterhändlers angenommen und ihn an Bord der Sphinx gebracht, unterbreitete Lucien den Gefangenen ebendies als Angebot: Mit ihnen bis zum nächsten Hafen zu segeln, oder zu bleiben und auf eine andere Rettung zu hoffen. Fünf von ihnen waren dumm oder wahnsinnig genug, sich zu weigern. Die anderen willigten ein und verbrachten die kommenden zwei Wochen in der Brig der kleinen Draka.
Der shilainische Diplomat, der Ceallagh und Trevor im Inneren der Kapitänskajüte aufzulauern gedachte, entschied sich ebenfalls, auf seinem Schiff zurückzubleiben – wenn auch nicht gänzlich freiwillig. Den beiden Seemännern gelang es, den ohnehin bereits angeschlagenen Leibwächter zu überwältigen und auch den Adligen festzusetzen, ehe Talin am Ort des Geschehens eintraf. Neugierig geworden vom hysterischen Geplapper Vasario de Vegas‘ über dessen unbeschreibliche Bedeutung für die Politik der Ersten Welt brachten sie ihn und seinen Begleiter an Deck und entlockten ihm dort mit ein bisschen Nachdruck weitere Informationen, die schließlich auch erklärten, weshalb der Kapitän des Handelsschiffes die Flucht in den Nebel gewagt hatte, statt sich den Piraten zu ergeben.
Unter anderem erfuhren sie auf diese Weise, wie ernst die Gerüchte um die Unruhen innerhalb der Ersten Welt tatsächlich waren. So sie den Worten des Diplomaten Glauben schenken konnten, stand das Haus Márlyes kurz vor einem Umsturz. „Habt ihr es denn nicht gehört? Die Königin steht allein. Nur die Karean halten zu ihr – wen wundert’s! Und die Tarlenn? Pf, bei dem Gesocks weiß eh nie jemand, auf wessen Seite die sind. Mit ihrem Gewirre um das ehemalige Herzogtum Birlan hat sie das letzte Bisschen Loyalität unter den Herzögen verspielt! Sie hätte diesem Velli nicht so viel Gehör schenken sollen. Das kommt davon, wenn man sich gegen unsere Traditionen stellt. Das Einzige, was sie noch auf ihrem Thron hält, ist dieses lästige Geheimnis um ihr verdammtes Kind. Es sind fast neun Monate vergangen und niemand weiß nun, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist! Aber ich sag euch eins: Ist es ein Mädchen, sind die Tage der Márlyes gezählt! Dann haben wir keinen Thronfolger und die Herzöge warten nur darauf, diesen Platz einzunehmen.“
Nun war der Sturz der Königsfamilie zunächst nichts, was die Mannschaft der Sphinx belasten sollte. Ob unter diesem oder dem nächsten König: Dem Gesetz wären sie damit nicht näher, als sie es im Moment schon waren, und immer noch ruhte auf Schiff und Besatzung ein stetig steigendes Kopfgeld. Dennoch behielten sie die Warnung vor einem drohenden Bürgerkrieg im Hinterkopf – schließlich konnte man nie wissen.
Vasario jedoch, der fälschlicherweise annahm, seine Worte hätten für den nötigen Schock als Ablenkung gesorgt, wagte daraufhin den aussichtslosen Versuch, sich auf Talin zu stürzen, um die junge Frau als Geisel zu nehmen und seine Rettung zu erzwingen*. Er scheiterte allerdings bereits im Ansatz, als Ceallagh* sein Handeln vorausahnte und ihn wieder zu Boden zwang* – womit entschieden war, ihn mit den übrigen Gefangenen zurückzulassen. Sein Leibwächter hingegen wechselte ohne Umschweife die Seiten und schloss sich jenen Männern an, die die Überfahrt zum nächsten Hafen in der Brig ausharrten.
Die Sphinx setzte wieder Kurs nach Norden, in der Hoffnung, das Revier der Epogryphen im Schutz des nicht weniger zerstörerischen Nebels verlassen zu können. Doch als sich die Nebelschwaden lichteten und ihnen wieder freie Sicht auf das umliegende Meer gewährten, hatten sie nur gerade so die nördlichen Ausläufer ihres Jagdgebietes erreicht*. Eines der Tiere – keiner konnte sagen, ob es eines derer war, die sie bereits angegriffen hatte, oder ein gänzlich anderes – entdeckte sie aus einiger Entfernung und griff mit einem grausigen Schrei erneut an.
Dieses Mal war die Mannschaft jedoch vorbereitet. Liam und Rúnar, die bereits Posten im Krähennest bezogen hatten, gelang es, den Vogel mit ihrer selbstgebastelten Lampe abzuwehren*. Kurz bevor die scharfen Krallen sie erwischten, blendeten sie ihn mit dem grellen Lichtstrahl, der auf eines der empfindlichen Augen traf und das Tier zum Abdrehen zwang. Mit einem schmerzerfüllten Kreischen warf er sich herum und zog sich – ohnehin am Rande seines angestammten Reviers – wieder zurück in sichere Gefilde.
Liam indes, der beim ersten Angriff der Vögel im Lazarett gestürzt und sich die Hände an den zerbrochenen Medizinfläschen aufgeschnitten hatte, schwankte in diesem Moment. Die wilde Mischung verschiedenster Tinkturen – Gifte wie Heilmittel gleichermaßen – die über die Schnittwunden in seinen Blutkreislauf gelangt waren, forderte nun ihren Tribut*. Schwindel überkam ihn – schlimmer als zuvor – und nur den Bruchteil einer Sekunde später verlor er das Bewusstsein.
Mit * markierte Handlungen wurden von der Spielleitung ausgewürfelt.
Die folgenden zwei Wochen verbrachte die Crew damit, sich von ihren Verletzungen zu erholen und die Schäden, die Nebel und Vögel hinterlassen hatten, zu reparieren. Glücklicherweise hatte das frisch gestrichene Holz des Rumpfes nur wenig gelitten. Hier und da blätterte die neue Farbe zwar in großen Flocken wieder ab, doch das Material darunter war unbeschädigt.
Anders verhielt es sich mit den Planken an Deck, der Reling, den Masten und unbehandelten Bordwänden. Hier waren die Oberflächen rau geworden, hatte der Nebel Löcher hinein gefressen, die an Schäden durch Säure erinnerten. Und auch das gesamte stehende Gut, die Wanten und das Segelwerk hatten ähnlich gelitten.
Noch schlimmer hatte es sämtliche Gegenstände aus Eisen erwischt. Ob Spule, Nagel, Degen oder Kanone: Über alles hatte sich eine dichte, rote Rostschicht gelegt, die sich durch die dünnsten Bauteile unlängst hindurchgefressen hatte, sodass einige Nägel und dünnere Platten ausgetauscht werden mussten. Lediglich die schweren Bleikugeln und sämtliche Geräte aus Messing rosteten nicht. Und auch im Inneren des Schiffes hielten sich die Schäden in Grenzen, sodass Werkzeuge und Rohstoffe im Frachtraum intakt blieben. Lediglich die vor den offenen Geschützluken stehenden Kanonen hatten an der Vorderseite etwas Rost abbekommen, sahen jedoch besser aus, als die Sechspfünder an Deck.
Wieder einmal hieß es für Alex also, zum Schleifklotz zu greifen und wie kaum vier Wochen zuvor das Holz der Sphinx in Form zu bringen. Skadi nahm sich derweil der beschädigten Kanonen an und Greo übernahm die Führung beim Erneuern von Segelwerk und stehendem Gut. Sie bekamen dabei jede Hilfe, nach der sie verlangten – ein jeder, sofern nicht durch eigene Aufgaben eingespannt, packte an, wo er nur konnte. Dennoch dauerte die Instandsetzung des Schiffes, samt des halb zerstörten Krähennests, beinahe die vollen zwei Wochen auf See, bevor sie den Hafen von Ritu erreichten.
Soula, James und Isala – letztere trotz des verletzten Arms so weit es ihr möglich war – lernten in dieser Zeit von der Mannschaft alles, was es über das Segeln mit der Sphinx und das Leben an Bord zu wissen gab. Wie man die Segel setzte oder einholte, die beiden Anker bewegte, Knoten knotete, Taue austauschte, alle Arten Fehlstellen reparierte, Kanonen putzte und nicht zuletzt wie man Planken schrubbte. Sie halfen Rayon bei der Versorgung der Crew, lernten, wie man warum den Frachtraum so und nicht anders sortierte, wie man sich um die Nutztiere und ihre Pferche kümmerte, was man generell an Bord tat oder lieber bleiben ließ, wie man kämpfte und was eben passierte, wenn man beispielsweise einen Arm verlor.
Auch Jón und Peregryne wurden wie selbstverständlich in sämtliche Arbeiten eingespannt, bis sich unweigerlich die Entscheidung aufdrängte, bei der Crew zu bleiben oder auf Ritu wieder eigene Wege zu gehen. Jón traf seine Wahl bereits früh, ganz im Gegensatz zu Peregryne, der erst kurz vor dem nächsten Hafen seine Unterschrift auf die Carta setzte.
Nur wenige Tage vorher riefen Talin und Lucien die Piraten zusammen, um die noch offene Frage nach einem Quartiermeister zu klären. Durch die vergangenen Monate zu einer recht eng zusammenstehenden Mannschaft geworden, fiel die Wahl mit großer Mehrheit auf Tarón, der sich als erfahrener Stratege bewiesen hatte.
Am 26. Juni erreichte die Sphinx schließlich das kleine, malerische Hafenstädtchen Ostya an der nordwestlichen Küste Ritus. Und bereits als sie in Sichtweite kamen, wurde unter den Arbeitern vor Ort Getuschel laut. Diese roten Segel... war das das Schiff, nach dem die Marine fahndete? Die Piraten, die den Gefangenentransporter versenkt hatten? Hatten sie vielleicht auch etwas mit dem Verschwinden des shilainischen Diplomaten zu tun, von dem gemunkelt wird?
Die Blicke entgingen der Crew jedenfalls nicht, kaum dass sie an der Kaimauer festgemacht hatten, und sie sorgten bei dem ein oder anderen für ein durchaus mulmiges Gefühl, sodass die Captains den letzten Rest Gold von der Reparatur der Sphinx aufwandten und Greo zur nahegelegenen Werft schickten, um einen neuen Satz Segel in neutralem Weiß zu bestellen. In der Zwischenzeit blieben die roten Segel so straff gerefft, dass ihre Farbe zumindest nicht auf den ersten Blick hervorstach.
Sechs Tage liegt der kleine Dreimaster nun im Hafen Ostyas und noch immer zieht er allzu neugierige Augen auf sich, obgleich niemand es wagt, Fragen zu stellen. Die Crew ist derweil hauptsächlich damit beschäftigt, die gestohlene Fracht des shilainischen Handelsschiffes zu verkaufen, die Vorräte aufzustocken, letzte Schäden am Schiff zu beseitigen und alles für eine schnelle Flucht vorzubereiten – nur für den Fall.
Für Müßiggang ist deshalb nur selten Zeit. Dennoch bietet sich Greo, Liam und Rayon zwischen etlichen Besorgungen an diesem Tag doch die Gelegenheit für eine kleine Pause in einem der bescheideneren Wirtshäuser im südwestlichen Handwerkerviertel unweit des Friedhofs. Während Liam und Greo sich schon mal des noch etwas gestrandet wirkenden Peregrynes annehmen und der Gruppe einen Vierertisch zu sichern, verspricht Rayon, etwas später hinzuzustoßen.
Um auf dem bald schließenden Wochenmarkt noch ein paar Feierabendschnäppchen zu ergattern, hatte er sich vor einer knappen Stunde allein zum naheliegenden Marktplatz aufgemacht und befindet sich inzwischen auf dem Weg zurück zum Wirtshaus, um sich den dreien anzuschließen. Seine Route führt ihn dabei über die große Hauptstraße, die beide Orte auf kürzester Strecke verband und trotz der fortgeschrittenen Tageszeit vor Leben nur so strotzt. Breite Wagen rattern über das Kopfsteinpflaster, drängen den Hünen dabei immer wieder dazu, bis zu den Gebäuden auszuweichen. Einheimische gehen ihrem Tagewerk nach, stehen in kleinen Grüppchen beisammen und plaudern oder hasten von einer Erledigung zur nächsten, ohne den hier und da am Rand der Straße kauernden Bettlern Beachtung zu schenken, die das Bild der Stadt tagsüber nun einmal prägen. Vor allem in der Nähe der Marktplätze.
Rayon fällt in diesem Moment vor allem eine dieser Gestalten ins Auge: Eine alte Frau, die unmittelbar an der Ecke zu der Seitengasse hockt, in der der Eingang zum Wirtshaus liegt. Sie kniet auf dem Boden, den Blick ins Leere gerichtet und brabbelt unhörbare Worte vor sich hin. Dabei schwankt sie leicht vor und zurück, als wäre sie in tiefe Grübelei versunken und bemerke nichts von dem, was um sie herum geschah. Unmittelbar vor ihr steht eine kleine, hölzerne Schale mit einigen Münzen darin, doch kaum ein Passant bleibt stehen, um etwas hineinzulegen.
Shanaya und Talin, die auf der Suche nach brauchbarem Krempel durch das angrenzende Händlerviertel schlendern, beschleicht derweil ein seltsam mulmiges Gefühl. Ein Kribbeln im Nacken lässt beide Frauen öfter über die Schulter sehen und hin und wieder erhascht eine von ihnen einen Blick auf eine vermummte Gestalt, die wie ein Schatten zwischen den Häusern verschwindet, bevor man sie richtig erkennen kann. Doch wann immer sie zu der Stelle zurückkehren, wo ihr Verfolger gerade noch gewesen sein muss, gähnt vor ihnen nur eine verlassene Gasse.
Sie beschließen, in einem der Läden abzutauchen, die hier in beinahe jedem Gebäude untergebracht sind. Einerseits, um ihr Ziel, Nützliches für die Weiterreise aufzustöbern, nicht gänzlich aus den Augen zu verlieren. Andererseits mit der Absicht, ihren Verfolger vielleicht durch einen Hinterausgang abschütteln zu können.
Bei dem Laden, den sie schließlich wählen, handelt es sich um ein kleines, aber auf den ersten Blick hin hervorragend bestücktes Kartengeschäft, das vor allem das Herz der jungen Navigatorin höher schlagen lässt. Schon nach ein paar Minuten Stöbern wird ihr klar, dass die meisten Schriftrollen hier von guter bis hervorragender Qualität sind und ihren Fundus bestmöglich ergänzen können. Die perfekte Gelegenheit also, um sich für ihre bevorstehenden Etappenziele auszurüsten. Doch als sie sich Talin zuwendet, um mit ihr zu besprechen, welche das sein würden, fällt ihr Blick auf die gläsernen Vitrinen hinter dem Kassentresen. Dort, auf einem erhöhten Podest, ruht eine entfaltete Karte mit höchst ungewöhnlichem Bild. Etwas, das wie das Innere eines riesigen Gebäudes wirkt. Größer noch als ein Schloss und weit verzweigt. Zugleich wirkt das Pergament selbst auf einige Entfernung unsagbar alt, das golddurchwirkte Samtband, das als Verschluss dient, ungeheuer wertvoll. Worum mochte es sich dabei handeln?
Lucien und Ceallagh hatten sich in den vergangenen Tagen überwiegend darum gekümmert, die gestohlenen Stoffe an den Mann zu bringen, die ob der momentanen Marktlage erstaunlich gute Preise erzielten. Ceallagh reaktivierte dafür ein paar alte Kontakte zu Hehlern, die ihm wohlgesonnen waren und zudem keine Fragen stellten. Einer davon verwies sie an eine Größe der örtlichen Unterwelt: Claude Riegan. Ein Mann, der die richtigen Leute für so gut wie alles kannte und mit dem man es sich ganz gewiss auch nicht verscherzen sollte. Doch wollte man in Brancion und Shilain geschmuggelte Waren verkaufen oder suchte entsprechende Aufträge, die für gutes Geld gehandelt wurden, dann kam man an Claude Riegan nicht vorbei. Er war als Sammler ausgewählter und höchst seltener Artefakte bekannt – und für seine Schwäche für hübsche Frauen und Glücksspiel.
Lucien entschied sich deshalb, auch Soula mit ins Boot zu holen, deren Talent er nur wenige Tage zuvor mit eigenen Augen hatte sehen können und das ihnen in diesem Unterfangen durchaus nützlich sein konnte. Ceallaghs Kontaktmann ermöglichte der Dreiergruppe indes ein Treffen mit Riegan, zu dem sie nun auf dem Weg waren.
Ihr Ziel ist die düstere Kneipe am Rande des Hafenviertels, die gemeinhin als Spielhöhle bekannt ist. Im Erdgeschoss – so erzählte man den dreien – treffen sich allerlei schäbige Gestalten und verspielen regelmäßig Haus und Hof, nur um am Ende tot in irgendeiner Nebengasse gefunden zu werden, weil sie ihre Schulden nicht bezahlen können. Im oberen Stockwerk hingegen residiert Claude Riegan mit einer ausgewählten Gästeschar, die unter seinen wohlwollenden Augen ihrem Spiel frönen und um die wirklich hohen Summen wetteifern. Dass dorthin nicht jeder Zutritt hat, versteht sich von selbst. Man braucht Riegans Interesse, um sein Wohlwollen zu erlangen und Zugang zu seinem Netzwerk aus hoch dekorierten Hehlern, Schmugglern und Dieben zu bekommen.
Kaum wieder an Land führte Zairyms erster – oder vielleicht auch erst der dritte – Weg den Söldner zur örtlichen Söldnergilde, um sich neben der spärlichen Prise, die der Überfall auf das Händlerschiff abwarf, noch ein paar Münzen nebenher zu verdienen. Die Aufträge waren simpel, dauerten nie wirklich lange und verlangten auch nicht mehr als eine Person.
Nicht jedoch der, den er an diesem Tag angenommen hatte: Begleitschutz für eine kleine Wagenkolonne, die ein paar Güter eines reichen Adligen aus Ostya auf dessen Landsitz etwas außerhalb der Stadt transportieren soll. Aus drei doppelspännigen Wagen sollte die Kolonne bestehen und zudem zu wertvolle Fracht geladen haben, um sie allein zu verteidigen. Also spannte Rym auch Josiah, Alex und Trevor mit dem Versprechen auf ein bisschen Abenteuer, Abwechslung und die Bezahlung durch vier in das Unternehmen mit ein.
Inzwischen hat der kleine Konvoi die Stadtgrenze hinter sich gelassen und rollt auf der mit Kopfstein gepflasterten Allee in Richtung Süden dahin. Links und rechts der Straße erstrecken sich Lavendelfelder in voller Blüte, die ihren Duft verströmen, und nur in ein paar hundert Metern Entfernung markiert eine kleine Baumgruppe eine Kreuzung. Die Häuser, die sie passieren, werden spärlicher, bis nur noch vereinzelt ein Gebäude zwischen den blauvioletten Sträuchern zu erkennen ist.
Die vier Piraten haben sich auf die drei Wagen aufgeteilt und es sich halbwegs gemütlich gemacht oder behalten die Umgebung wachsam im Blick. Doch bisher rührt sich nichts, außer die fernen Baumkronen im Wind.
Skadi, die sich in den vergangenen Tagen intensiv um das Arsenal der Sphinx gekümmert und dafür bereits den Posten des Mastergunners angenommen hatte, hat es auch heute wieder auf den örtlichen Marktplatz verschlagen, um die Waffenkammer weiter aufzustocken. Ein paar besondere Kugeln für die Sechspfünder hatte sie neulich schon entdeckt – unter anderem Kettenkugeln und Schrotkugeln, die ihnen im Kampf gegen die Vögel sicher von Anfang an gute Dienste geleistet hätten – und so hofft die Jägerin auch dieses Mal auf einen ähnlich außergewöhnlichen Fund, der ihnen weiterhelfen könnte.
Jón hatte sich ihr als Begleitung und Träger angeboten, um die Gelegenheit zu nutzen und die alte Bekanntschaft wieder aufzufrischen. Beide zieht es – nach einem kurzen Plausch mit Rayon, dem sie unterwegs begegnet waren – nun gemütlich von Stand zu Stand, bis Skadi das ungute Gefühl beschleicht, beobachtet zu werden. Doch jedes Mal, wenn sie sich vorsichtig umsieht, fällt ihr in der Masse der Marktbesucher nichts Ungewöhnliches auf. Und selbst Jón wird langsam mulmig zu Mute. Sei es, weil er Skadis Unruhe spürt, oder selbst das Gefühl bekommt, dass man es auf sie abgesehen hat.
Tarón, Isala und Rúnar indes haben den Großteil ihrer Besorgungen bereits erledigt und befinden sich voll bepackt mit allerlei Krempel – Plüschtieren, einer Laterne, Kartenspielen, zwei Säcken Kaffee und einem Spielzeug für die Echse – auf dem Rückweg zum Schiff, um Elian und Gregory von der Wache abzulösen und den beiden Ärzten ebenfalls einen Ausflug in die Stadt zu ermöglichen. Darüber hinaus hatte der frisch gewählte Quartiermeister mit Liam noch am Vormittag verabredet, eine von dem Lockenkopf erworbene Destille in Empfang zu nehmen, die zu Sonnenuntergang geliefert werden soll. Es drängt ihn also, rechtzeitig wieder am Hafen zu sein.
Calwah, der bis dahin erstaunlich gehorsam auf Rúnars Schulter gesessen hatte, verfolgt jedoch in diesem Moment ganz andere Ziele. Diesen Anschein hat es zumindest, als sich das Schuppentier ohne Vorwarnung und unsanft mit den Krallen über das Schlüsselbein seines Reittiers kratzend von Rúnars Schulter abstieß, mit ausgebreiteten Flügeln zwei Meter weit voraus segelte und wie angestochen die Gasse hinabsauste, um hinter der nächsten Biegung zu verschwinden.
Doch nicht alle Piraten hielt es auf der Sphinx. James war die Begegnung mit den Epogryphen augenscheinlich zu viel geworden. Das, oder die Tatsache, dass ausgerechnet Tarón zum Quartiermeister gewählt worden war. Die Crew würde es wohl nie erfahren. Denn Scheiß auf Wettschulden, Scheiß auf Piraten – der junge Adlige sah zu, dass er Land gewann, kaum hatte der Dreimaster am Hafen angelegt. Er würde einfach ein Jahr in Ostya verbringen, sich irgendwie durchschnorren und seinen Leuten Zuhause hinterher ein paar dramatische Geschichten erzählen, die ihm irgendjemand anderes aufgetischt hatte. Zumindest die eine – die, in der das Schiff der Piraten von einem riesigen Echsenvogel beinahe versenkt worden war – stimmte immerhin.
Und auch zwei alteingesessene Mannschaftsmitglieder entschieden sich, die Crew auf Ritu zu verlassen. Farley packte nach einem sehr lauten und sehr heftigen Streit mit seinem Kindheitsfreund Elian seine Sachen zusammen, verabschiedete sich von den anderen und ging seiner eigenen Wege, ohne dem jüngeren Montrose auch nur einen letzten Blick zu schenken.
Enrique verschwand dagegen sehr viel leiser und womöglich nicht für immer. Letzteres war jedoch etwas, das er nur Lucien in einem letzten Gespräch anvertraute. Es gab zu viel, das seines Eingreifens bedurfte, erklärte er seinem Captain. Zu viele offene Rechnungen, die auszuufern drohten. Er war gezwungen, zu handeln. Nur für ein paar Monate, bestenfalls, würde er die Sphinx verlassen und sich um alles kümmern, um am Ende, so er nicht starb oder im Gefängnis landete, zurückkehren. Das Schiff und die Crew würde er schon finden. Sie waren auffällig genug. Also ließ Lucien ihn seiner Wege ziehen – wenn auch alles andere als glücklich damit.
# Gruppe A:Liam, Greo und Peregryne haben sich einen Vierertisch in einem bescheidenen Wirtshaus im Hafenviertel gesichert und warten in geselliger Runde darauf, dass auch Rayon zu ihnen stößt. Rayon befindet sich auf der Hauptstraße nur wenige Meter vor der Seitenstraße, in der sich der Eingang zum Wirtshaus befindet.
# Gruppe B:Talin und Shanaya befinden sich im Kartenladen des Händlerviertels.
# Gruppe C:Ceallagh, Soula und Lucien befinden sich zwei Querstraßen von der Kneipe entfernt im billigsten Teil des Hafenviertels. Sie werden von Claude Riegan bereits erwartet.
# Gruppe D:Zairym, Josiah, Alex und Trevor haben sich bereiterklärt, einer kleinen Wagenkolonne Begleitschutz zu geben. Sie haben sich auf die Wagen verteilt und es sich gemütlich gemacht. Die Umgebung ist ruhig.
# Gruppe E:Skadi und Jón schlendern auf dem großen Marktplatz von Stand zu Stand und suchen nach weiteren Waffen für das Arsenal der Sphinx. Allerdings beschleicht beide immer wieder das Gefühl, verfolgt zu werden.
# Gruppe F:Tarón, Isala und Rúnar sind auf dem Weg zurück zum Schiff, um eine Lieferung entgegenzunehmen und Gregory und Elian von ihrer Wache abzulösen. Doch noch etliche Querstraßen vom Hafengelände entfernt haut Calwah ohne Vorwarnung um die nächste Ecke ab.
# Gregory & Elian sind nicht anspielbar.
02. Juli 1822 28 °C, überwiegend sonnig mit wenig Wolken später Nachmittag 81 % Luftfeuchtigkeit, 28 °C Wassertemperatur
Shortfacts # Schauplatz: Die an der nordwestlichen Küste der Insel Ritu gelegene Hafenstadt Ostya # Am Vormittag des 21. Junis fand die Wahl des Quartiermeisters statt, bei der sich die Crew für Tarón entschied. # Am 26. Juni legte die Sphinx im Hafen von Ostya an. # Am Abend des 30. Juni bieten Lucien und Talin Skadi den Posten des Master Gunner an. Am 01. Juli wird die Mannschaft davon in Kenntnis gesetzt.
# Shanayas Arm ist wieder gänzlich verheilt, sodass sie sich wieder uneingeschränkt bewegen kann. # Isalas Wunden sind fast verheilt. Die Schorfschicht über den Kratzern spannt nur bei ungünstigen Bewegungen etwas. # Liam hat die Auswirkungen der Gifte inzwischen überwunden und fühlt sich nur nach längerer körperlicher Aktivität noch etwas schneller schlapp als vorher. # Lucien und Tarón haben hin und wieder einen leichten Hustenreiz, der sich nicht gänzlich lindern lässt. # Gregory & Elian sind nicht anspielbar.
RE: Kapitel 9 - Der Ruf der Königin - Shanaya Árashi - 14.04.2022
Seit dem Moment, in dem Shanaya den Kartenladen betreten hatte, tanzten unzählige Gedanken durch ihren Kopf und stritten sich um die Vorherrschaft. Bis eben noch hatte sich die junge Frau darüber Gedanken gemacht, wer sie verfolgte. Von unzähligen Möglichkeiten, die in Frage kamen, herrschte eine im Bewusstsein der Schwarzhaarigen vor. Die Begegnungen, sowohl mit Mardoc als auch mit Bláyron, waren eine ganze Weile her. Und trotzdem, oder vielleicht auch deshalb, machte sie diese vermummte Gestalt nervös. Sie hatte sich davon nicht hetzen lassen, zeigte nicht viel von diesem Gefühl nach außen. Aber sie hatte Talin von ihrem Bruder und dem Schläger ihres Vaters erzählt, es war für die Blonde also nicht schwierig, Schlüsse aus der Unruhe ihres Gegenübers zu ziehen.
Das Gefühl, verfolgt zu werden, ebbte zwar etwas ab, als sie den besagten Laden betraten, war jedoch nicht vollkommen vergessen. Vielleicht auch nur etwas unterdrückt, von dem Anblick, der sich den beiden Frauen bot. Diese Ablenkung lag jedenfalls auch in den blauen Augen Shanayas, ein Leuchten, mit dem sie sich zu Talin herum wandte, ein breites Grinsen auf den Lippen. Kurz hatte sie überlegt, in die Tasche zu greifen, um der Blonden ihren Geldbeutel zu reichen. Mit dem Anblick des Ladens änderte sie jedoch ihre Meinung – hier würde sie garantiert einiges an Geld lassen. Schon mit den ersten Schritten, den ersten Blicken in die Regale, war Shanaya klar, dass sie hier sicher nicht nur fünf Minuten verbringen würde.
„Sollte ich in den nächsten Tagen spurlos verschwinden… du weißt, wo ihr mich findet. Wenn nicht, wurde ich von wem auch immer entführt.“
Ein glückliches Lachen galt Talin, mit den letzten Worten huschte ihr heller Blick jedoch noch einmal auf die Straße. Außer ein paar Passanten, die nicht wirklich vermummt waren, weil es viel zu warm war, spielte sich draußen jedoch nichts ungewöhnliches ab.
Mit den unzähligen Regalen, die sich in dem verwinkelten Laden erstreckten, die Schwarzhaarige lockten, nicht wissend, wohin sie zuerst gehen sollte, konnte sie jedoch auch das kleine Chaos in ihrem Kopf verdrängen. Das, was sie seit einer ganzen Weile tat. Es brauchte nur einen Laden voller bezeichnetem Papier, um ihren Verstand ein wenig auszutricksen. Jetzt musste sich Shanaya viel mehr darauf konzentrieren, nicht alles zur Kasse zu schleppen, was sie in die Finger bekam. Immer Mal wieder führte sie ihr Weg zurück zu Talin, in heller Aufregung erzählend, was sie noch alles gefunden hatte.
Bei einem dieser kurzen Besuche, sie wusste nicht, wie lange sie nun schon durch die Gänge und Regale stöberte, fiel der Schwarzhaarigen die Vitrine auf, die in diesem Moment ihre volle Aufmerksamkeit gewann. Beim Betreten des Ladens hatte sie noch einmal über die Schulter zurück geschaut, die Vitrine deshalb wohl nicht bemerkt. Sie wusste gut genug, was Ware in solch einer Vitrine bedeutete, die unter Beobachtung der Besitzerin stand. Ein glühender Blick galt ihrer blonden Begleitung, der Talin schon alles verraten würde.
Mit ruhigen Schritten trat Shanaya näher heran, warf der Verkäuferin einen munteren Blick zu, ehe ihre Augen jede der Karten genau untersuchte.
„Wer hat die Karten gezeichnet?“
Ihre Stimme klang ruhig, die Aufregung ließ sich jedoch nicht heraus streichen. Jedenfalls war es jemand gewesen, der sein Handwerk verstand. Fast so gut, wie ihre eigenen Karten. Noch einmal huschte ihr Blick zu der Frau am Tresen, sie wartete jedoch nicht auf eine Antwort, trat stattdessen noch näher an die Vitrine und inspizierte jede Karte ganz genau.
[Kartenladen | Talin]
RE: Kapitel 9 - Der Ruf der Königin - Liam Casey - 19.04.2022
Leichtfüßig wie eh und je balancierten die kleinen Pfoten auf den Schultern des Lockenkopfs, der sich nach einem kurzen Plaudern mit der Wirtin mit drei gefüllten Krügen voll Bier von der Theke löste. Bislang hatten sie soweit alles besorgt und erledigt bekommen, was sie sich für den Tag vorgenommen hatten und nicht nur das – auch das ein oder andere Schnäppchen hatten sie erobern und für die Sphinx sichern können. So beispielsweise auch eine Destille, die Gregory und Elian mit Sicherheit eine große Hilfe leisten würde. Und damit zwangsläufig auch ihnen, wenn sie ungebremst ins nächste Unheil schlitterten. Die Annahme der Destille hatte er wohlweislich Tarón überlassen. Nicht nur, weil er sich als Quartiermeister irgendwie dafür prädestinierte, sondern auch, weil sich der Lockenkopf kaum damit auskannte, wie eine einsatzbereite Destille überhaupt auszusehen hatte. Stattdessen hatte er sich gemeinsam mit Rayon, Greo und Per um weitere Einkäufe gekümmert und dabei die Gelegenheit genutzt, ein paar der gemalten Kinderbücher an den Mann zu bringen, die er in den vergangenen Wochen auf See gezeichnet und beendet hatte. Seit Milúi fühlte er sich mit dem Genre ausgesprochen wohl. Auch, wenn der Grund definitiv kein angenehmer war.
Mit einem Lächeln stellte er die Krüge auf dem kleinen Tisch ab, den Greo und Per sich ausgesucht hatten. Auch für Rayon war noch genügend Platz, sobald er auftauchen würde – das Schicksal eines schalen, abgestandenen Biers wendete er allerdings von seinem Freund ab. Mit etwas Glück würde er passend zur nächsten Runde auftauchen, sodass sie sich einen Gang zum Tresen sogar sparen konnten. Während sich Liam am Tisch niederließ, warf er einen weiteren Blick durch den Raum. Sie waren nicht die einzigen Gäste, doch die Gespräche waren gedämpft. Selbst Liam wurde das Gefühl nicht los, dass man sie hinter vorgehaltenen Händen beäugte. Es drängte sich förmlich der Gedanke auf, dass man einen von ihnen erkannt hatte – doch der Lockenkopf war gut darin, Dinge zu verdrängen. Sineca, die inzwischen von seiner Schulter auf den hölzernen Tisch gesprungen war, hatte er die Tage in Ostya dennoch nicht auf dem Schiff zurückgelassen. So optimistisch er auch war – ihn hätte es leider auch nicht überrascht, hätte man ihnen die Sphinx unter dem Hintern angezündet, um sie auf dieser Insel festzusetzen und sich nach und nach das Kopfgeld eines jeden einzuverleiben.
„Na, jedenfalls…“, nahm er das Thema wieder auf, das sie bei Betreten der Taverne fallengelassen hatten. „wissen wir alle nicht so genau, was Elian noch bei uns hält. Er hat uns den Tod seines Bruders nie wirklich verziehen. Sich nie wirklich verziehen. Davor war er aufgeschlossener. Es ist nichts persönliches.“
Davon ging Liam jedenfalls stark aus, selbst wenn Per alles andere als besorgt darüber wirkte, dass Elian ihm so feindselig gegenüber war. Doch auch, wenn ihr Neuankömmling damit nur wenige Probleme hatte und das Thema viel mehr aus Interesse auf Elian gefallen war, war es dem Lockenkopf ein Bedürfnis, den verbliebenen Montrose ein bisschen vor sich selbst zu schützen. Außerdem war das Thema Elian weitaus besser als das, was ihm derzeit durch den Kopf spukte.
{ Greo & Per | Wirtshaus in der Nähe des Hafens }
RE: Kapitel 9 - Der Ruf der Königin - Alex Mason - 19.04.2022
Zugegeben: Vermutlich hätte er die ganze Chose auch ohne Gold gemacht. Der Abwechslung wegen, des Abenteuers wegen, bei dem sie nicht hilflos auf einer Nussschale über den Ozean schipperten. Zairyms Erfahrung mit derlei Dingen hatte ihm die Frage nach der Bezahlung allerdings erspart. Er hatte ihnen von vornherein ihren Anteil zugesprochen und Alex somit im vornherein davor bewahrt, aus Untätigkeit heraus eine selbstlose Tat zu begehen. Gut aus Sicht seines eigenen Rufs. Ebenso gut, weil der Typ, dem diese Waren hier gehörten, genug Gold haben musste, dass ihm vermutlich auch nicht aufgefallen wäre, wenn sie ihn noch um ein bisschen mehr erleichtert hätten. Zairyms Wahl seiner Mitstreiter hingegen fand er nicht mal ansatzweise so professionell wie sein Umgang mit der Beute. Josiah verstand er. Er war ein talentierter Mann, redete nicht allzu viel, schien aber zu wissen, was er und wie man es am besten tat. … Trevor hingegen hielt Alex für einen geschmacklosen Scherz, der ihnen den Auftrag nur unnötig schwer machen würde. Weil er vom Wagen fiel und sie damit aufhielt; weil er die Sabbel nicht hielt und sie mögliche Fallen so überhören konnten; oder weil ihm irgendetwas anderes in den Sinn kam, was er als zu großgeratener 6-Jähriger unheimlich lustig fand.
Die Obhut ihres ‚Schützlings‘ jedenfalls überließ er nur zu gerne einem der anderen beiden Männer. Er war hier, um einer Wagenkolonne Geleitschutz zu geben und nicht, um auf ein Kindergartenkind aufzupassen. Alex hatte sich mit einer der Gewehre der Sphinx auf dem vorderen Wagen positioniert. Sein eigenes Gewehr hatte er bei seinem Hab und Gut zurückgelassen. So egoistisch und unbekümmert er auch immer auftrat – sein eigenes Gewehr war für die Jagd. Und – anders als Rym – jagte er keine Menschen.
Sie waren noch nicht allzu lange unterwegs, ließen Ostya aber allmählich hinter sich. Hier draußen sah man noch vereinzelte Höfe und Häuser, doch das Stadtbild war von weiten Feldern voller purpurner Blüten abgelöst worden. Fast schon romantisch in der tiefstehenden Sonne, hätte man einen Blick dafür gehabt, doch Alex ließ dieser Gedanke lediglich genervt seufzen, ehe er in eine etwas bequemere Position rutschte und die Arme hinter dem Kopf verschränkte. Der Kutscher neben ihm war bislang nicht sonderlich gesprächig gewesen, doch Alex hatte sich nicht groß daran gestört.
RE: Kapitel 9 - Der Ruf der Königin - Isala Reginn - 20.04.2022
Es war heiß und vereinzelt klebte winzige Schweißperlen an Isalas Schläfe… hätte sie sich mehr wie eine Lady benommen, hätte sie den Männern die ganze Tragerei überlassen, doch Isa wollte ihnen keine Schwäche zeigen, obgleich sie sich bei den beiden Männern wohl fühlte. Ganz hatte sie noch nicht verkraftet, dass sie mit ihrem lädierten Arm nichts hatte beitragen können. Die Wunde an ihrem Oberarm war zwar noch zu sehen, doch bis auf ein nerviges Jucken und ein Spannungsgefühl, war sie beinahe komplett verheilt.
Ihre Haare hatte sie zu einem schnellen Zopf zusammen geknotet und ihre leichte Bluse ließ etwas tiefer blicken, als normal, doch Isa tat alles, damit etwas frische Luft an ihren Körper drang. Sie war froh, dass sie alles erledigt hatten, was sie sich vorgenommen hatten und wieder auf den Weg zum Schiff waren. Obwohl sie sich eingestehen musste, dass der Tag mit Tarón und Rúnar bisher überaus angenehm gewesen war. Die letzten Tagen waren ohnehin – trotz Verwundung – sehr interessant und lehrreich. Die Frau hatte viel über Schiffe und Segeln allgemein gelernt, ganz besonders aber hatte sie die Navigation interessiert und sie hatte viel Zeit darauf investiert, Shanny Löcher in den Bauch zu fragen.
Jetzt allerdings brannte ihr nur eine Frage wirklich auf der Seele. Was um Himmels Willen hatte Rúnar so malträtiert? Wären nicht die eindeutigen Flecken am Hals gewesen, hätte man denken können, dass er überfallen wurde. Aber das sah eher nach einer Liebesnacht aus, die ein bisschen eskaliert war. Vielleicht gefiel es dem Jungen aber auch. Isala hatte viele seltsame Vorlieben gesehen, in ihrer Zeit beim Bordell. Während sie den Drachenzähmer nun so beobachtete, zog sie eine Augenbraue hoch und haderte mit sich, ob sie es ansprechen sollte…. Zuckte dann aber innerlich mit den Schultern und durchbrach die Stille.
„Was ist eigentlich mit dir passiert Rúnar? Hattest du eine nette Bekanntschaft?“, fragte sie sehr direkt und deutete mit einer Hand auf ihren Hals um zu verdeutlichen was genau sie meinte.
Doch in diesem Augenblick machte Calwah einen Satz nach vorn und verschwand hinter der nächsten Ecke. Etwas überrumpelt stand sie einen Augenblick nur da und starrte dem Tier hinterher … ehe sie nach vorne setzte „Wo will er denn jetzt schon wieder hin?! Wie hältst du die Echse denn nur im Zaum, Tarón?!“
RE: Kapitel 9 - Der Ruf der Königin - Tarón Valur - 20.04.2022
Er kam sich ja schon etwas wie ein Packesel vor, so beladen mit zwei Säcken Kaffee und allerlei anderem Krempel, den Isala, Rúnar und er auf dem Markt des Örtchens ergattert hatten, das ihnen in den letzten Tagen bereits beinahe vertraut geworden war. Doch Tarón beschwerte sich nicht, vor allem weil er weder Isala noch Rúnar mehr aufbürden wollte, als nötig war.
Für beides hatte er seine Gründe – gute, wie er fand - wenn sie auch nach Person verschieden waren.
Der Falke verlagerte also nur das Gewicht des Sackes etwas auf der Schulter und schob damit Harald etwas weiter von seinem Gesicht weg. Der Sonnensittich ließ sich jedoch nicht beirren und nach wenigen Schritten rieb sich Rúnars Vogel bereits wieder mit leisen Vogelgeräuschen, unterbrochen von geflüsterten Worten, die der Falke für den Moment lieber vorsätzlich ignorierte, an Taróns stoppeliger Wange.
Dass Harald und nicht etwa wie gewohnt Calwah auf Taróns Schulter (oder eher auf dem Sack über seiner Schulter) thronte hatte zwei Gründe: zum einen wäre Calwah einfach im Weg gewesen und Tarón konnte gut und gerne darauf verzichten auch noch die fette Echse neben den Säcken und Taschen zu tragen. Zum anderen stellte sich heraus, dass Calwah offenbar auf dümmliche Spielzeuge stand – anders als der Sonnensittich für den Rúnar das in seiner Hand eigentlich gekauft hatte. Nun, so war es jedenfalls gekommen, dass Calwah beschlossen hatte es sich auf Rúnars statt auf Taróns Schulter bequem zu machen und an seiner Stelle diesen mit der fragwürdigen Ehre seiner krallenbewehrten Anwesenheit zu adeln. Das hieß aber auch, dass Harald an einem anderen Ort Asyl suchen musste, wenn er nicht den Magen der Echse genauer erkunden wollte – und offenbar war Harald eher an Männern interessiert, denn Isala schied bei seiner Wahl offenbar von vorne herein aus.
Den Gedanken, der sich Tarón bei dieser Beobachtung nahezu aufzwang schob der Falke energisch beiseite und schluckte jede Anspielung auf ihn herunter – auch wenn ihm das angesichts seines sonstigen Humors ziemlich schwerfiel. Es half etwas sich hinter der Einsilbigkeit einer durchzechten Nacht verstecken zu können – so blieb auch zu hoffen, dass es Isala nicht zu sehr auffallen würde.
Eins stand jedenfalls fest: Der Vogel hatte offenbar einen Narren an ihm gefressen, denn neben seinen bezirzenden (und bisweilen fast verstörenden) Worten hatte Harald ihm an diesem Tag auch bereits sanft am Ohrläppchen gekaut. Und Tarón war sich nicht wirklich sicher ob ihm das gefiel, obwohl Harald an sich – das musste er zugeben – schon wirklich putzig war. Das lag vielleicht auch daran, dass Harald – der auch noch den albernen „Nachnamen“ „Schönhaar“ trug – ausgerechnet Rúnars Vogel war. Und zu diesem wagte er am heutigen Tag kaum hinzusehen.
Die Linien, die der Fels in die Haut des Blonden geschrammt hatte ließen sich noch verdecken. Doch die verräterischen dunklen Flecken an seinem Hals mussten zwangsläufig jedem ins Gesicht springen, der ihn ansah.
Nun, sie hatten ihre Geschichte, nicht wahr? Eine gute Erklärung sowohl für Rúnars Zustand als auch den Taróns – denn der Falke hatte seinen Kater nur dadurch bekämpfen können, dass er am späten Vormittag zwei Bier hinter dem Rum der letzten Nacht her sandte. Das half zumindest vorerst gegen die Kopfschmerzen und auch genügend gegen die Brummeligkeit, die diese ansonsten mit sich gebracht hätten. Und auch Isas Begleitung trug dazu bei seine Laune aufzubessern und diese Besorgungsrunde sogar ein wenig zu genießen. Was jedoch Rúnar anging…
Dessen Gegenwart machte ihn nervös – und das war vorsichtig ausgedrückt. Doch Tarón verstand sich aufs Schauspielern und so gelang es ihm wohl ganz gut so zu tun, als sei alles in bester Ordnung – sah man davon ab, dass er eben recht schweigsam war.
Und davon wie die Muskeln in seinem Gesicht zuckten, als Isala schließlich die Frage stellte, die ihr mit Sicherheit schon seit dem Vormittag auf der Seele gebrannt hatte und die Tarón früher oder später erwartet hatte.
Die Meeraugen des Falken flackerten zu Rúnars grauen herüber und in seinem Blick lag eine deutliche Warnung.
°Sag-nichts-falsches! Bleib bei der Geschichte!°
„Komm aufn Kutter Hier gibt’s nur Männer dafür aber reichlich Butter….“
Er war grade nur froh, dass er nicht auch noch Haralds Atem an seinem Ohr spürte – die fast gewispert wirkenden Worte in diesem vogeltypischen Singsang waren alleine schon schlimm genug! Dass der Vogel ausgerechnet jetzt mit so etwas kommen musste machte wirklich rein garnichts besser. Hatte Rúnar dem Vieh das beigebracht?!
Nein…bevor das Ganze nun völlig entglitt würde er selbst einschreiten müssen.
Tarón zwang ein breites Grinsen auf sein Gesicht, ließ den Sack auf seiner Schulter wackeln, zwang Harald unter einem protestierenden und fast beleidig klingenden Pfeifen von seinem Ohr weg und hob die Brauen süffisant – was ihm angesichts von Harald Gebrabbel fast auch schon zu schmutzig vorkam aber Opfer mussten gebracht werden.
„Oh ich glaube das kann man sagen, was, Rúnar? Ich meine vielleicht nicht vergleichbar mit dem was man in den Einrichtungen der Tarlenn geboten bekommt, aber nach dem zu schließen was ich gestern Nacht mithören durfte…“
Doch er kam nicht dazu ausufernd davon zu berichten was er denn angeblich so aus dem Zimmer gehört hatte, das Rúnar sich mit dem armen Mädchen geteilt hatte für dessen Dienste er selbst bezahlt hatte.
Einmal mehr war es Calwah – dieses verdammte Mistvieh – der wieder alles durcheinander brachte. Einerseits wäre Tarón darüber fast froh gewesen, immerhin unterbrach das vorerst das alberne Spiel, das er hier spielen musste – andererseits hatte er Liam zugesagt passend bei der Sphinx zu sein um seine Lieferung anzunehmen…und er kannte diese verdammte Handtasche: wenn Calwah sich so von dannen machte, konnte es länger dauern das störrische Tier wieder einzufangen.
Wie er ihn im Zaum hielt?
„Offenbar garnicht…“ Knurrte er Isala zu (und langsam nahm er Calwahs Eskapaden persönlich),bereits dabei dem Vieh mit großen Schritten hinterher zu eilen.
Der Mini-Drache brauchte ein Geschirr! Wirklich! Das hatte er damals schon mit Ceallagh besprochen – wie ironisch, dass sich die Materialen dazu eben ein solches zu bauen bereits in seinen Armen fanden…nur eben nicht am Leib dieser teuflischen Ausgeburt.
„Rúnar lauf vor und guck mal ob du ihn noch siehst…nicht, dass er wieder in einem Hühnerstall landet…“
[Isala & Rúnar | Straßenlabyrinth auf dem Weg zur Sphinx]
RE: Kapitel 9 - Der Ruf der Königin - Cassy Rice - 20.04.2022
Obwohl Cassy in der Theorie einen festen Job in einer Taverne hatte, nutzte sie hin und wieder auch ihre freien Tage dafür um sich etwas dazu zu verdienen. Sei es, um sich eine Mahlzeit zu verdienen, oder um ein paar Münzen mehr in ihren kleinen Lederbeutel zu bekommen. Abgesehen davon war Musik zu machen für Cassy keine Arbeit. Selbst wenn sie sich meist vor den Auftritten eine Wand wünschte die sie zwischen sich und die Menschen bringen konnte, nur um niemanden zu sehen und wichtiger noch nicht gesehen zu werden. Denn sie liebte es und jedes Mal wenn sie sie überwinden konnte, dauerte es nicht mehr ein einziges Lied, bis sie ihre Introvertät abgelegt hatte. Manchmal wünschte sie, dass die dies auch so wäre, wenn sie mit neuen Menschen in Kontakt trat. Es würde so vieles leichter machen.
Da sie nicht gerade erst in Ritu angekommen war, hatte sie mittlerweile auch eine gewisse Stammkundschaft unter den Tavernenbesitzern und wurde nur selten abgewiesen, wenn sie nachfragte ob sie sich um das Unterhaltungsprogramm kümmern durfte. So auch heute. Sie hatte sich bereits am Vormittag bei dem Besitzer des Wirtshaus erkundigt, ob sie heute ein paar Lieder spielen durfte. Es wurde zugestimmt, sofern sie mit einer Mahlzeit und 4 Getränken als Bezahlung einverstanden war. Darüber musste Cassy nicht lange nachdenken. Sie freute sich und als die verabredete Zeit gekommen war, hatte sie sich erneut auf den Weg in das Wirtshaus gemacht.
Sie musste nicht sonderlich lange warten, bis die Wirtin ihr signalisierte, das sie anfangen konnte. Zum Glück musste sie selbst nicht viel vorbereiten und so nahm sie sich ihre Drehleier, schenkte dem ein oder anderen Gast, der gerade beobachtete was sie tat, ein sanftes Lächeln und fing dann an ihre Lieder zu spielen und wie immer dauerte es nicht lange, bis aus dem schüchternen, zurückhaltenden Mädchen von nebenan eine junge Frau wurde die genau wusste was sie tat und die sich trotz der immer mehr werdenden Menschen sichtlich wohl zu fühlen schien.
Es dauerte etwas, bis sie ihre Show beendete, sich bedankte für die Aufmerksamkeit, das Trinkgeld und mitteilte, das sie vielleicht später noch einmal spielen würde. Es war zwar nicht abgesprochen, aber das Nicken der Wirtin bestätigte den Gedanken von Cassy und sie lächelte glücklich, erfüllt und zufrieden, bevor sie sich dann abwandte, ihre Drehleier wieder nahm und sich an einen kleinen Tisch setzte, auf welchen die Wirtin ihr gerade etwas zu essen gestellt hatte. Der Tisch befand sich unmittelbar neben einem Vierertisch, an dem sich gerade während ihres Vorletzten Liedes, drei Männer platziert hatten. Höflich schenkte Cassy ihnen ein Lächeln, bevor sie sich ihrem Essen zuwandte.
{Liam, Greo & Peregryne | Wirtshaus in der Nähe des Hafens}
RE: Kapitel 9 - Der Ruf der Königin - Trevor Scovell - 21.04.2022
„Du siehst f a b u l ö s aus“, sagte Trevor und rückte die Blümchenkrone auf Josiahs Kopf zurecht. „Passt zu … dem da.“
Er fuchtelte vor dem herum, was man als Josiahs Lächeln bezeichnen konnte. Vielleicht war das auch das Gesicht, das er machte, wenn er Mordpläne schmiedete, das war bei einem Auftragsmörder immer schwer zu sagen. Das Violett der Lavendelblüten komplementierte es jedenfalls ganz hervorragend. Apropos – er brauchte mehr von denen!
„Rühr dich nicht vom Fleck.“
Er hob warnend einen Finger – teils damit Josiahs Krone nicht verrutsche und teils damit er, Trevor, von seiner wackligen halb-drauf-halb-drunter Position auf dem Kutschbock springen konnte, bevor ein Armbrustbolzen seine Stirn verzierte.
Da es drei Wagen, aber vier Piraten gab, hatte Trevor, selbstlos und aufopfernd wie er war, es auf sich genommen, nebenher zu laufen. Oder vorneweg. Oder hinterher oder im Slalom um die Wagen herum oder oben drüber oder unten drunter – man wusste ja nie, wo sich potenzielle Angreifer versteckt hielten. Einzig von den Pferden hielt er respektvollen Abstand.
Josiahs Wagen bildete die Nachhut, deshalb lief Trevor diesmal ein Stück voraus, damit die Wagenkolonne an ihm vorbeiziehen konnte statt andersherum. Ganz der gewissenhafte Teilzeit-Söldner, lies er seinen Blick über die Umgebung schweifen auf der Suche nach irgendetwas oder irgendjemanden, der nicht hier hergehörte – er sah aber nichts, also hüpfte vom Weg, um Blümchen zu pflücken.
Es gab ja ganze Felder davon, da würde es doch nicht auffallen, wenn ein, zwei, drei … Hände voll fehlten, oder? Eine einzelne Pflanze bekam einen besonders dekorativen Platz in einem der Löcher in seinem Hemd, noch mehr wanderten in seine Hosentaschen – für Greg. Trevor wusste zwar nicht, ob die irgendeinen medizinischen Wert hatten, aber hey, sie rochen gut. Das konnte man nicht mal von der Hälfte der Tinkturen behaupten, die sein Bruder sonst so zusammenmischte.
Inzwischen war der erste Wagen an ihm vorbei und Trevor hatte die Chance verpasst, Alex Grimassen zu schneiden. Josiah plottete vermutlich immer noch seinen Vergeltungsakt. Also machte Trevor sich auf zum zweiten Wagen, um zu schauen, wie viele Blümchen er (noch) in Zairyms Gewehr schmuggeln konnte, bevor es ihm auffiel.
„Hey Rym.“
Er schwang sich auf den Rand des Wagens – ein gerade zu graziöser Balanceakt, bei dem er seine Beine geschickt vor den Rädern in Sicherheit brachte, ohne auf die Fracht hinter ihm zu kippen. Er räusperte sich, schenkte dem Kutscher ein Lächeln und setzte an Zairym gewandt seinen ernstl– ernstete– ernstesten? wie auch immer, seinen „Das hier ist ein Geschäftsausflug und ich bin absolut konzentriert und bei der Sache“-Gesichtsausdruck auf.
„Was transportieren wir eigentlich?“
Und schon langte er nach dem Segeltuch, das die Ware bedeckte.
[Wagenkolonne | letzter Wagen bei Josiah – Straßenrand – zweiter Wagen bei Rym]
RE: Kapitel 9 - Der Ruf der Königin - Jón Nóason - 22.04.2022
Verantwortung. So etwas kannte Jon nicht mehr. Man hatte das Wort aus seinem Wortschatz gestrichen und das Konzept aus seinen Gedanken gelöscht. Es hatte ein Jahrzehnt -- sein halbes Leben -- gedauert, bis jemand aufkreuzte, der Jón damit betraute. Kein Wunder also, dass es ihm jetzt fremd vorkam. Dass er unentschlossen war, ob es ihm gefiel oder nicht.*
*Nicht nur hatte man ihm nicht mehr zugetraut, Verantwortung übernehmen zu können, sondern Jón hatte sich das vollends zu Herzen genommen und sich keine Mühe mehr gemacht, Verantwortung zu tragen.
Dass er sie nun ausgerechnet bei Piraten wiedererlangte warf ein ganz spezielles Licht auf sie -- und auf ihn selbst wohl auch.
Kurz bekam er den Impuls, sich Skadi mitzuteilen.*
*Sie war immerhin dabei gewesen, bei dem Event, das dafür gesorgt hatte, dass seine Familie ihm abgesprochen hatte, dass er jemals zu etwas fähig sein würde, geschweige denn etwas wichtiges, gar etwas das andere Lebewesen involvierte. Es hatte lange gedauert, bis Nói ihn wieder zu den Pferden gelassen hatte. Bis dahin hatte er sich in der Bibliothek verkrochen und sie sich schriftlich zu Gemüte geführt. Doch selbst danach. Nie wurde ihm eine Aufgabe zuteil ohne einen zweifelnden Blick oder eine Warnung, dass er es bloß nicht verhauen sollte. Er konnte nichts richtig machen, also war Jón früh dazu übergegangen einfach zu machen, was er wollte. Und dass er von den Captains losgeschickt wurde eine Aufgabe für sie zu erledigen. Ohne jegliche Skepsis -- bis auf die übliche, die zumindest Lucien gegenüber allen Neuen und Neueren zu haben schien. Das bewog ihn fast zu etwas Stolz. Erbärmlich.
Doch er kam nicht dazu seinem Impuls nachzugehen und der Gedanke kam nie auf. Worüber er auch nicht unglücklich war. Der Impuls wurde unterbrochen, weil Skadi sich umsah. Mit einem aufmerksamen, untersuchenden Blick. Einem misstrauischen. Ganz unauffällig -- aber Jón bemerkte es. Warum? Weil er sich eben auch schon auf dieselbe Art und Weise umgesehen hatte. Weil er sich wahrscheinlich dasselbe dachte, wie Skadi in diesem Moment auch. Dem Gefühl nachgeben zu wollen, dass einem intensiv in den Rücken gestarrt wurde. Dass man sich umsehen musste, um festzustellen, ob wirklich jemand da war -- ob man Gesicht um Gesicht ablesen würde und dann bei einem Augenpaar hängen bleiben würde, das direkt auf einen gerichtet war, oder im selben Moment noch schnell zur Seite huschte.
Jón wartete ab bis Skadis Blick seinen streifte und hob die Augenbrauen -- ihr zu bedeuten, dass er ebenfalls ein wenig ... besorgt war. Oder sich ebenfalls seltsame Dinge einbildete. Aber es kam selten vor, dass auf Jóns Intuition kein Verlass war.
{ Skadi | auf dem Markt }
RE: Kapitel 9 - Der Ruf der Königin - Josiah Moggensten - 23.04.2022
Selbst für die meisten seiner Tage an Land war es war ein ungewohnt friedlicher Tag. Der sanfte Geruch nach blühenden Lavendel schwebte in der Luft, begleitet vom Zirpen und Rascheln diverser Insekten, die nur kurz verstummten, wenn einer der Wagen etwas näher an den Straßenrand geriet. Ansonsten war da nur noch das Rattern der Räder auf den Pflastersteinen und das gleichmäßige Klappern der Pferdehufe.
Dazu sah die Gegend aus, wie gemalt.
Josiah hatte den letzten Wagen gewählt. Das hatte mehrere Gründe:
Es war zwar unwahrscheinlich, dass ein Überfall allein von hinten stattfand - die Fluchtwege waren zu offen für die Wagen und die Wagenführer zu geschützt, um sie zum Bremsen zu bewegen. Zudem hatten mögliche Verteidiger hingegen auf den Ladeflächen eine gute Basis zur Verteidigung. Und es war in vielerlei Hinsicht einfacher, Pferde davon zu überzeugen, nach vorne zu stürmen, als einen zweiachsigen Wagen auf der Stelle zu wenden.
Für diese Erkenntnis brauchte es nicht viel Intelligenz. Allerdings hatte Josiah schon Männer getroffen, die darauf bestanden hatten, einen Wagen auszurauben. Nicht die Menschen darin, oder etwa eine unbewachte Kutsche. Einfach nur einen alten, schon lange sich selbst überlassenen Wagen.
Aber scherenartige Überfälle waren auch nichts Ungehörtes. Angriffe von hinten konnten erfahrenen Männern mit der richtigen Taktik auch Vorteile bieten. Vor allem, wenn das Überleben der Besatzung gänzlich zweitrangig war.
Aber unabhängig vom aktiven Überfall waren da noch mögliche Späher. Josiah war sich nicht sicher, wie bekannt die Route war, aber zumeist machte es mehr Sinn, dem Objekt der Begierde zu folgen, statt ihnen vorneweg zu reiten.
Abgesehen davon hatte er gehofft, hier etwas Ruhe zu haben - einen Plan, den er offensichtlich ohne Trevor gemacht hatte.
Die hektischen Bewegungen, die er immer wieder aus den Augenwinkeln erhaschte, machten ihn unruhig. Immer wieder musste er den Reflex unterdrücken, seinen Blick dorthin zucken zu lassen. Was wahrscheinlich auch der Ruhe um ihnen zuschulden war: es rührte sich absolut nichts.
Neben dem peitschenden Schweifen der Pferde war Trevor die unruhigste Bewegung für wahrscheinlich die nächsten 10 Meilen.
Josiah schulterte seine Waffe.
Sie war sein letzter Grund für seine Position. Die Armbrust, für die er noch am Morgen neue Pfeile geholt hatte.
Sie war ihm von größerem Nutzen, wenn er etwas Distanz zwischen sich und den Todesopfern brachte. Und diese würden nun mal wahrscheinlicher vorne auftauchen.
Und auf die Distanz, die sich durch die Wagenreihen ergaben, würde er eine kleinere Gruppe gut ausdünnen können, selbst wenn sich Alex, Zairym und Trevor spontan als Kugelfutter neu erfanden.
Josiah streckte sich und warf einen letzten Blick über die Strecke hinter ihnen, dann drehte er sich um. Nach vorne, wo die eben genannten Menschen in ihren jeweiligen Wägen saßen. Er schob sich mit wenigen Schritten an der Fracht vorbei, vor zum Kutschbock.
Trevors Blumenkranz landete in dem Schoß des Wagenführers. Der Mann zuckte nach oben und saß schlagartig kerzengerade da, doch das verwirrte Blinzeln seiner Augen straften seine Taten Lüge.
Josiahs Blick verhärtete sich.
"Ein Geschenk von dem Blonden, mit herzallerliebsten Grüßen, aber den Gruß wiederhol ich besser nicht. Ein Rat: passen Sie auf, was Sie sagen."
Der Mann starrte ihm mit einem leeren Blick an, den Blumenkranz zwischen zwei spitzen Fingern haltend, und Josiah sah unverwandt zurück. Dann, Stück für Stück, nahm das Schwarz in seinen Augen zu, und eine Falte kroch über seine Stirn. Als er schließlich den Mund öffnete, wie um etwas zu fragen, sah Josiah den Zeitpunkt gekommen, den Mann mit seinen Gedanken allein zu lassen.
Seine Mundwinkel zuckten für den Bruchteil einer Sekunde, als er sich abwandte und vom Wagen sprang, um in einem eher gemächlichen Tempo nach vorne zu schlendern, den Feldrand nach irgendetwas ungewöhnlichem absuchend. Wer auch immer sich in kniehohen Lavendelpflanzen verstecken würde.
[ bei Trevor, Zayrm, Alex | zuerst in seinen Karren,