09.11.2023, 16:14
Der Junge schniefte. Zum einen, weil er das Stofftier seiner Schwester alleine vorgefunden hatte, zum anderen, weil er sich so viele Sorgen um sie machte, dass der Tadel der Blonden schlichtweg zu viel für ihn war. Er würde sie sicherlich nie wieder sehen. Sie hatten sie irgendwo hingebracht, wo er sie einfach nie wieder sehen würde.
„J-ja. En- entschuldigung.“, wimmerte er und drückte die mitgenommene Ratte nur noch fester an sich.
Seine restlichen Gedanken standen ihm nur offen aufs Gesicht geschrieben, aber er wagte es nicht, eine davon auch nur ansatzweise auszusprechen. Vielleicht war sie tot. Sonst hätte sie ihr Stofftier niemals hier verloren. Sie waren zu spät und er hatte sie nicht beschützen können. Er war ein unfassbar schlechter großer Bruder. Dabei war sie doch alles, was er überhaupt hatte. Als Cassy sich an ihn wandte, schniefte er erneut und nickte vorsichtig, aber nicht gerade überzeugt. Wie ihm geheißen blieb er nun dicht bei der Frau, die ihm ihre Hilfe angeboten hatte und sich mit den beiden Männern beratschlagte. Der dritte von ihnen war noch nicht zurückgekehrt.
Der Dritte von Ihnen hatte allerdings auch bemerkt, dass irgendjemand diese Mausoleen anscheinend als Unterschlupf nutzte. Liam hatte sich nicht lange an den einzelnen Stätten aufgehalten, sondern hatte sich zügig von einer bewohnten Ruhestätte zur nächsten vorgearbeitet. Das ungute Gefühl in seiner Brust wuchs, je weiter er sich auf dem großen Friedhof vorarbeitete. Nach dem dritten, kleineren Gebäude war er langsamer geworden und hatte sich um umgewandt, um nach den anderen Ausschau zu halten, deren Gestalt er allerdings zwischen den Gräbern nicht ausmachen konnte. Er sollte wohl vorerst umdrehen und nach ihnen sehen. Dann konnten sie austauschen, welche Entdeckungen sie gemacht hatten und überlegen, wie sie weiter vorgehen sollten. Vielleicht wäre das das Schlauste gewesen, doch das Geräusch eines wiehernden Pferdes war es, dass ihn abermals den Kopf heben ließ. Pferde waren für gewöhnlich nicht das, was man auf einem Friedhof erwartete. Vorsichtig bewegte er sich noch ein paar Schritte nach vorne und spähte hinter der Mauer des nächsten Mausoleums hervor. Er konnte den hinteren Teil einer Kutsche erkennen, dazu ein Mann, der vor zwei Kindern stand und ihnen offenbar einen Beutel in die Hand drückte. Ihre Stimmen konnte er nicht verstehen, doch das ungute Gefühl in seinem Inneren fühlte sich bestätigt.
„Wo bleibt ihr? Ich denke, wir haben unseren Übeltäter gefunden.“, murmelte er leise vor sich hin, während er sich so unauffällig wie möglich zum nächsten Mausoleum vorarbeitete und um die nächste Ecke spähte.
Ein dunkles Pferd war vor die Kutsche gespannt, die auf einer größeren Freifläche auf dem Friedhof stand. Von diesem Platz aus führte ein Weg zum Ausgang. Am Kopf des Pferdes stand ein weiterer, dunkelgekleideter, hagerer Mann, der das Geschehen zu beobachten schien. Ein Dritter zog grob ein kleines Mädchen mit sich, dem er den Mund zuhielt. Offensichtlich, um es schnellstmöglich in die Kutsche zu zerren.
Schade. Er hätte darauf verzichten können, Recht zu haben.
Es blieb keine Zeit, um die anderen zu informieren. Wenn er jetzt umdrehte, wären sie weg, bevor sie gemeinsam wieder hier angekommen waren. Liam beobachtete die Situation kurz, bis er etwas überstürzt einen Entschluss fasste und sich wieder in Bewegung setzte. Hoffentlich warteten die anderen nicht irgendwo auf ihn – dann würden sie zwangsläufig bald ebenfalls in diese Szenerie reinrennen. Hinter jeder Ecke beobachtete er genau, wo die Blicke der Männer – und der beiden Jungen – hinführten. Die zwei Kinder schienen noch ins Gespräch mit dem Mann verwickelt zu sein, der ihnen den Beutel gegeben hatte. Der zweite war noch immer mit dem wehrhaften Mädchen beschäftigt und der dritte schien gerade zu überlegen, ob er seinem Kollegen zur Hand ging oder nicht. Sie waren jedenfalls abgelenkt genug, dass es ihm tatsächlich gelang, sich einmal über den Weg halb um die Kutsche herumzuschleichen. Dann zückte er den Dolch und duckte sich so unauffällig wie möglich von der unbeobachteten Seite an das Pferd heran*. Eine Kutsche ohne Pferd kam nämlich nur sehr schlecht vom Fleck. Doch bevor er den Riemen durchschneiden konnte, der das Pferd an der Kutsche verband, hatte sich der Mann, umgewendet, der die ganze Zeit vorne an der Kutsche gestanden hatte. Mit mürrischem Blick musterte er den Piraten, ehe er zahnig zu Grinsen begann**.
„Sieh mal einer an. Kann man dem Herrn irgendwie helfen? Es gibt ja mit Sicherheit einen guten Grund dafür, dass er sich gerade an unserer Kutsche vergreifen will?“
Shit. Er war aufgeflogen und auch die beiden anderen Männer hatten aufgesehen. Das war nicht sein Plan gewesen, obwohl ihm durchaus bewusst gewesen war, wie waghalsig sein Vorhaben gewesen war. Liam hatte innegehalten, den Dolch noch immer am Riemen des Pferdes, während er den abwartenden Blick des dunkelgekleideten Mannes mit einem Lächeln erwiderte.
„Oh, nur keine Mühe.“, bemerkte er nicht minder sarkastisch als sein Gegenüber. „Ich bin im Grunde schon so gut wie fertig.“
Das Kind war sowieso bereits in den Brunnen gefallen und Liam zog kurzerhand einfach durch, während sein Gegenüber sich – zum Glück einen Moment zu spät – am Pferd vorbeidrückte und ihn von der Kutsche wegzerrte. Die Kinder traten zur Seite, als der Mann bei ihnen nach vorne trat, ein süffisantes Grinsen auf den Zügen. Offenbar war er der Kopf der Gruppe.
„So so. Irgendwer muss ja immer den Märtyrer spielen.“
Liam schluckte. So langsam wäre es der perfekte Zeitpunkt gewesen, dass die anderen hier auftauchten.
„Wäre sonst aber ja auch irgendwie LANGWEILIG.“ Das letzte Wort rief er absichtlich etwas lauter, hoffend, dass die anderen ihn hören und zumindest nachsehen wollten. „Sklavenhandel, hm?“
Der Mann lächelte. Gelassen. Selbstgefällig. „Bevorzugt ohne Zeugen.“
* glohrreiche 18 von Liam fürs Schleichen
** Talins dämlicher Triumph in Wahrnehmung <.<