31.10.2023, 15:51
Seine Reaktion hatte – zumindest für den Moment – ihre Absicht nicht verfehlt. Auch wenn es vielmehr der Tatsache geschuldet sein mochte, dass der Fremde sich im gleichen Moment seinem Freund zuwandte, so schien er doch von seiner Waffe und damit von seinem ursprünglichen Plan, wie immer der auch ausgesehen haben mochte, abzulassen. Zufriedenheit und vielleicht auch etwas Erleichterung sprachen aus Coles meergrünen Augen. Dennoch, seine Aufmerksam wieder vollends dem Geschehen und dem durchaus interessanten Spiel zu widmen, fiel dem Jungen schwer. Ganz im Gegensatz zu Riegan. Der große Bossmann strahle eine derartige Gelassenheit aus, dass man annehmen musste, die Stürme aller Welten würden nicht ausreichen, um ihn zu erschüttern. Tatsächlich war das, was sich unten abspielte, wenn man seinen Worten Glauben schenken wollte, keine Seltenheit. Selbst Cole hatte während seiner noch recht kurzen Zeit unter Riegans Hand die ein oder andere Schlägerei mitbekommen. Seine Beteiligung an derlei Auseinandersetzungen hatte sich jedesmal darauf beschränkt, sich unbemerkt aus der Gefahrenzone zu bringen. Warum sollte es also diesmal anders sein?
Die Antwort darauf schien auf den ersten Blick einfach. Cole befand sich nicht im Schankraum der Wirtschaft, sondern im Büro des Bosses selbst. Er kam einer Aufgabe nach, auch wenn diese zum aktuellen Zeitpunkt nur darin bestand, nichts zu tun und auf weitere Befehle zu warten. Und das konnte er. Denn auch, wenn er mit seinen jungen Jahren nicht mit der großzügigsten Geduld beschenkt worden war, gab es in diesem Moment Dinge, die seine Sinne mehr beanspruchten als Tatenlosigkeit oder Langeweile. Während der Tumult im Schankraum anschwoll, sangen mit höher werdender Inbrunst Instinkte im Inneren des Straßenjungen. Es wäre nicht feige, sondern klug sich einer drohenden Gefahr zu entziehen. Nur auf diese Weise hatte er all die Jahre überleben können.
Lang bevor der alles in Stille legende Schuss aus dem Unterraum erklang, kribbelte es in den Muskeln des Jungen. Seine Augen huschten von der vom verbliebenden Wächter geschützten Tür hin zum Fenster zum Innenhof, während er im Geiste mögliche Fluchtwege durchging. Nicht dass es besonders ehrenhaft gewesen wäre, seinen Bossmann in dieser Situation im Stich zu lassen, doch am Ende des Tages war der blonde Junge sich selbst am nächsten. Ein Straßenjunge, der nur so lange überlebt hatte, weil er sich nicht damit zufrieden gab, seine Sicherheit in die Hände eines anderen zu legen. Wenn es hart auf hart käme, würde er verschwinden. Unbemerkt von Riegan, dessen Aufmerksamkeit auf Vielem, aber ganz sicher nicht einem kleinen, insignifikanten Handlanger lag. Und dass er diese fixe Idee, diesen Notfallplan in die Tat würde umsetzen müssen, zeigte sich unzweifelhaft, als der Fremde, der eben noch die Chancen eines Angriffes erwogen hatte, die ohnehin schon angespannte Situation mit einem einzigen Satz zum Zerbersten brachte.
Adrenalin strömte durch das heftig pumpende Blut in Coles Adern, als er sich kaum einen Wimpernschlag später in einer Mordszene wiederfand. Viel zu schnell, als dass er die Lage in ihrer Ganzheit hätte erfassen können, wusste Cole, dass er weg musste. Er stand nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit – das würde unweigerlich Riegan sein – doch früher oder später würde er sich der scharfen Klinge des Fremden gegenübersehen. Und er war nicht gewillt abzuwarten, ob dieser bereit war, Gnade bei einem Kind walten zu lassen, oder seinen Dolch mit dem Blut eines weiteren Opfers zu schmücken gedachte.
Sich duckend machte sich Cole kleiner, als er ohnehin schon war, und suchte Zuflucht unter einem der unbemannten Tische. Sein Blick huschte zwischen Fenster, Tür und den Fremden hin und her. Mit der erstbesten Gelegenheit wäre er weg von hier. Nötigenfalls auch weg aus Ritu. Was auch immer nötig war, um zu überleben. Auch auf die Gefahr hin, dass die Beziehungen, die er sich auf der kleinen Insel und mit deren Schmugglerkönig höchstpersönlich aufgebaut hatte, mit der nächsten Flut fortgespült wurde. Es würde neue Gelegenheiten geben, sich in der Unterwelt, die sein Zuhause geworden war, einen festen Platz zu sichern. Doch all seine Errungenschaften würden vergebens sein, wenn er nun bei einem fiesen Hinterhalt sein Leben verlor. Er musste also wieder einmal mehr das tun, was er am besten konnte: sich unbemerkt aus der Affäre ziehen. Er brauchte nur einen kurzen Moment, einen winzigen Augenblick der Unachtsamkeit, und er wäre verschwunden…
[Ostya - nördliches Hafenviertel | in Riegans Büro | mit Soula, Ceallagh und Lucien | off bei nächster Gelegenheit]