15.09.2023, 13:42
Damit also war es entschieden. Per schien – ähnlich wie Liam – dem Geisterplan ein wenig hinterherzutrauern, was den Neuling in ihren Reihen nur noch ein Stück sympathischer für den Musiker machte, aber dann mussten sie sich eben einen anderen Tag aussuchen, um ein wenig Schabernack zu treiben. In erster Linie war es wichtig, dass sie dieses Mädchen befreiten. Und, dass Rayon keinen Herzinfarkt erlitt, weil er ungewollt einem Gespenst begegnete. Liam war ein Mann der Kompromisse und er kam mit diesem Plan mindestens genauso gut zurecht wie mit allem anderen, was sie bisher besprochen hatten. Als Cassy sich darum bemühte, einen neuen Plan vorzustellen, galt ihr sogar ein ehrlich anerkennender Blick. Der Lockenkopf war ein bisschen stolz auf seine Gefährten, als sie – ebenso wie er – der Blonden Gehör schenkten und schließlich zustimmten. Was spielte es für eine Rolle, ob Männlein oder Weiblein – ein Plan war ein Plan und keiner von ihnen drei litt an einer ungesunden Männlichkeit, die sich dadurch gekränkt fühlte, auf das Wort einer Frau zu vertrauen. Per gab ihr eine letzte Gelegenheit zurückzurudern und Liam beobachtete ihre Züge genau, ehe Rayon mitteilte, dass er ihren Schatten darstellen würde, um eingreifen zu können, falls die Sache doch eskalieren sollte.
„Dann ist’s beschlossen.“, nickte er und ließ den Blick einmal durch die Runde gleiten. „Ihr drei übernehmt die Mitte, ich halte mich links und Per rechts, aye.“ Indem er Rayons Zusammenfassung wiederholte, bestätigte er ihren Plan und grinste voller Erwartung. „Wir sollten trotzdem gucken, dass wir die Mitte immer irgendwie im Auge haben, Per. Nur für den Fall.“
Damit nicht am Ende einer von ihnen irgendwo in einer Grube hing und niemand mehr wusste, wo er abgeblieben war. Damit machte sich Liam auf, sich die linke Flanke entlangzuarbeiten. Sein Blick wanderte über die Namen und Daten, die auf den Gräbern geschrieben standen und jetzt, wo er alleine zwischen dem kalten Stein entlangspazierte, überkam ihn doch ein eigenartiges Gefühl. Keines, was per se mit Geistern oder Aberglauben zu tun hatte, sondern viel mehr eine unbehagliche Erinnerung, die ihm unangenehm schwer auf die Brust drückte. Vielleicht war es Sehnsucht, vielleicht auch ein schlechtes Gewissen, weil er seither nicht mehr zurückgekehrt war, um nach dem Rechten zu sehen. Dämlich eigentlich, immerhin trug er sie im Herzen stets bei sich und brauchte keinen Ort, um ihrer zu gedenken. Und trotzdem – dort hatten sie sie nun einmal verscharrt und ihre leiblichen Überreste zurückgelassen, während sie in die Welt aufgebrochen waren. Um ihren Verlust zu verarbeiten und ihre Erinnerung in die Welt zu tragen.
Auch Rayon, Cassy und der kleine Junge arbeiteten sich zwischen den Gräbern und kleineren Mausoleen hindurch. Je weiter sie ohne Zwischenfälle in die Tiefen des Friedhofs kamen, desto unsicherer und hoffnungsloser wirkte der Junge. Was, wenn Liron und seine Bande nicht hier war? Wo sollten sie dann nach seiner Schwester suchen? Er war den Tränen nahe. Er kannte doch sonst niemanden, der ihm helfen konnte und diese Erwachsenen hier würden ihm sicher nicht mehr glauben, wenn sie hier niemanden antreffen würden.
„Er ist normal immer hier, wirklich…“, beteuerte er flehend und entschuldigend zugleich. „Ich weiß nicht, wo sie sie sonst hingebracht haben könnten. Aber wir müssen sie finden, bitte.“ Mit großen, feuchten Augen sah er zu Cassy hinauf. Seine Stimme war leise. „Ich habe doch nur sie…“
Ein Schluchzen ertönte, kaum zu hören, doch der leicht zitternde Körper des Jungen sprach Bände. Je weiter hinter sie kamen – und dabei hatten sie noch immer nicht die Mitte der Fläche erreicht, desto mehr Mausoleen waren zwischen den einzelnen Gräbern verteilt. Kleinere erst, weiter hinten ließen sich aber prunkvollere Grabstätten vermuten, die nicht nur Eheleuten, sondern vermutlich ganze Familien beherbergten.
„Dort!“
Der Junge war stehengeblieben und zog kurz an Cassys Oberteil, um sie auf sich aufmerksam zu machen. Mit dem Finger deutete er in die Richtung eines der Mausoleen, in dessen Inneren irgendetwas zu sein schien. Ein Stück Stoff schaute zwischen den Säulen hervor. Je länger er es ansah, desto bekannter kam es ihm vor, bis er schließlich von Cassy abließ und loslief. Bis die beiden Erwachsenen ihm hinterhergekommen waren, hatte er sein Fundstück bereits vom Boden aufgelesen. Er hielt ein mitgenommenes Stofftier in den Händen, vermutlich war es einst eine Maus oder Ratte gewesen. In seinen Augen sammelten sich abermals Tränen.
„Sie muss hier gewesen sein!“, japste er schniefend.
Neben dem Plüschtier deuteten noch andere Dinge darauf hin, dass jemand hier gewesen sein musste. Löchrige Decken, Essensreste, ein wenig Krimskrams und Geldbörsen, die vermutlich gestohlen waren. Scheinbar wohnte hier jemand. Eine ähnliche Entdeckung konnten auch Liam und Per links und rechts davon vereinzelt in kleineren Mausoleen machen. Irgendjemand wohnte hier.