18.04.2023, 20:27
Für einen kurzen Moment verspürte sie den unwiderstehlichen Drang, dieses kleine Persönchen auf dem Schemel in die Arme zu schließen und ihr zu sagen, dass alles wieder in Ordnung werden würde. Wann hatte sie das letzte Mal jemanden so heftig weinen sehen? Nicht nur bei einer Kartenlegung, sondern generell? Lissa wollte kein Zeitpunkt und auch keine Person einfallen und das war es, was ihr das Herz zerriss. So sehr, dass sie eher unbemerkt einen Schritt auf die junge Frau zu machte, als auf das zu reagieren, was die beiden Männer besprachen. Vermutlich hätte sie die beiden dann ehe wieder kritisiert. Wie konnte man nüchtern neben einer gebrochenen Frau über Emotionen reden? Wobei... war sie wirklich gebrochen? Auch wenn sie weinte, schien sie für sich selbst eine Entscheidung getroffen zu haben. Eine, welche ihr Rückgrat zu stärken schien. Und genau das war es, was Lissa bei der Legung von Karten sehen wollte: Die Wahrheit, die die fragende Person stärkte, vorantrieb. Und keine lapidare Legung, die einem, schöne Worte in die Ohren flüsterte, nur damit man sich für den Moment besser fühlte. Das war es, was sie dem Wahrsager sagen wollte und gleichzeitig wollte sie die junge Frau beglückwünschen, weshalb sie sich für einen Moment zwischen den beiden hin und her wandte.
Schlussendlich kam sie zu keinem einzigen Wort, denn die Plane wurde zurückgezogen und zwei weitere Frauen traten ein. Lissa machte wieder einen kleinen Schritt zurück, als wolle sie ihnen Platz lassen und beobachtete schweigend, mit nachdenklich zur Seite geneigtem Kopf, wie sich die Fremden und der Wahrsager erkannten. Da sie nicht auf ihn losgingen, nahm die Alleshändlerin an, dass sie ihm nicht wegen einer Legung böse waren. Aber wen interessierte das schon? Viel wichtiger war das leichte Kribbeln in ihrem Nacken. Dieses Gefühl, dass sich langsam alles an seinem richtigen Platz befand. Die Dringlichkeit in ihr Zelt zurückzukehren und die beiden Fremden mit sich zu nehmen, kehrte mit aller Macht zurück, doch sie widerstand dem Drang. Sie wollte ja nicht rüde sein und ihre Zusammenkunft mit dem Wahrsager unterbrechen. Stattdessen wandte sie sich an die junge Frau auf dem Hocker.
„Geht es dir besser, Schätzchen? Hast du dich ein wenig erholt?“