29.11.2022, 14:58
Rayon dachte einige Momente lang über Liams Worte nach, die ihm ziemlich weise vorkamen. Prophezeihungen waren seiner Erfahrung nach - und die meisten kannte er nur aus Erzählungen - niemals klar zu deuten, sondern offenbarten einen großen Interpretationsspielraum. Und diese Interpretationen hingen natürlich essentiell von den Erfahrungen, Ideen, Vorstellungen und Wünschen des Menschen ab, der diese Prophezeihung zu hören bekam. Vermutlich würde jede Prophezeihung, die jemals ausgesprochen worden war, von jedem, der sie hörte, ein wenig anders aufgefasst werden. Gab es dann überhaupt die eine Wahrheit? War es unter diesen Umständen überhaupt wichtig, ob man einer Prophezeihung Gehör schenkte oder nicht, wenn doch die Wahrscheinlichkeit, sie richtig zu interpretieren, verschwindend gering war?
Dem Schiffskoch rauchte der Kopf anhand dieser philosophischen Gedanken, die nicht wirklich sein Steckenpferd waren, und schüttelte den Kopf, um sie zu verscheuchen. Die nächsten Worte des Künstlers waren deutlich einfacher zu verarbeiten. Und gerade im Kontext dessen, worüber der Dunkelhäutige gerade nachgedacht hatte, ergaben sie sehr viel Sinn.
"Du hast vermutlich Recht", seufzte er und zuckte mit den Schultern. "Es würde sowieso nichts ändern. Was sollen Lucien und Talin denn mit diesen vagen Informationen tun? Und wenn sich herausstellen sollte, dass irgendetwas davon eintrifft, werden sie immer noch rechtzeitig davon erfahren."
Er lächelte seinem Freund dankbar zu, denn mit dieser Entscheidung fühlte er sich tatsächlich ein wenig erleichtert. Momentan galt es schlicht, abzuwarten.
"Und du glaubst immer noch an Zufälle...", murmelte er amüsiert, als Liam ihm von seinem Aufeinandertreffen erzählte, zwinkerte dem Künstler dabei zu, griff sich den Rest der Krüge und folgte ihm zurück zu ihrem Tisch. Interessiert warf er dem Jungen, der neben ihrer neuen Bekanntschaft stand, einen Blick zu, während er die Krüge abstellte, den einen vor Per und den anderen in die Lücke zwischen Pers und Liams Platz stellte. Er wollte sich gerade nach einem freien Stuhl umschauen, als er Pers Worte vernahm und seine Aufmerksamkeit wieder dem Jungen zuwandte.
"Deine Schwester wird gefangengehalten?", fragte er alarmiert und musterte den Jungen, ehe er Pers Blick suchte, um zu erfahren, was er von der Sache hielt - immerhin hatte er sich anscheinend schon etwas länger mit dem Neuankömmling unterhalten.
[ Im Wirtshaus, erst mit Liam am Tresen, dann am Tisch bei Per, Cassy und Greo ]