09.11.2022, 19:29
Liam gab einen nachdenklichen Ton von sich. Letztlich hatte Rayon Recht. Wahn raubte den Menschen meist eher den Verstand als ihn zu erweitern. Er hatte sich aber auch nie wirklich mit derartigen Dingen ihrer Welt beschäftigt. Liam war ein Mann, der davon ausging, dass alles auf Zufällen basierte. Zufälle, die man nicht lenken konnte, die einem nicht vorbestimmt waren. Alles, was sie taten, taten sie aus freien Stücken heraus und die Zusammentreffen und Ereignisse, die einem geschahen, basierten auf (mitunter weit) zuvor getroffenen Entscheidungen. Das, wovon sie hier sprachen, kollidierte mit dieser Weltanschauung. Aber Liam lebte nicht strickt nach dieser Ansicht. Er war kein Gläubiger. Viel mehr machte er sich schlicht keine Gedanken darum, was die Zukunft brachte. Weil nichts von dem, was passierte, auf übernatürliche Art und Weise zusammenhing. Dementsprechend wenig Interesse hatte er bislang an Prophezeiungen gehabt. Aber letztlich mussten diese Visionen ja von irgendwo her kommen, wenn es wirklich Visionen waren. Und wer sagte, dass das nicht eine Art von Wahn war?
„Ich denke, dass wir selbst die sind, die einer Prophezeiung den Sinn geben.“
Durch Interpretationen, Wertigkeiten und Metaphern, die man oftmals für sich behielt. Aber er kannte sich nicht gut genug damit aus, als dass er selbst versuchen wollte Interpretationsansätze zu starten. Das wollte er lieber denen überlassen, die sich wirklich damit auskannten – danach waren sie schlauer. Und danach hatten sie immer noch die Gelegenheit, sich das, was Rayon gehört hatte, so auszulegen, dass es für sie Sinn ergab. Rayons Gedankengang ließ er sich einen Augenblick durch den Kopf gehen, ehe er langsam den Kopf schüttelte.
„Erstmal nicht, denke ich. Nicht, bevor sich nicht herausgestellt hat, dass es mehr Bedeutung hat als einer von Trevors Träumen.“
Er lächelte gutmütig, ehe er sich zum Wirt umwandte und einen Teil der Krüge in die Hand nahm. Rayon tat es ihm gleich und als er den Zufall ansprach, den Liam bis eben gar nicht mal realisiert hatte, musste er Lockenkopf unweigerlich selbst überrascht davon schmunzeln.
„Du wirst lachen. Ich kenne ihn von Milúi und bin ihm tatsächlich vor ein paar Tagen hier auf Ritu über den Weg gelaufen.“
Liam hob ergeben von der Macht der Zufälle die Schultern, wirkte aber bereit, das Glück, das sie damit hatten, nicht lange warten zu lassen. Mit dem Dunkelhäutigen im Schlepptau steuerte er wieder auf die Gruppe an ihrem Tisch zu, der zu seiner Überraschung um noch einen weiteren Kopf gewachsen war. Im ersten Moment steckte er den Zwerg simpel zu Cassy, immerhin stand der Junge direkt neben ihr. Vielleicht ihr Bruder, dachte Liam und stellte die Anwesenheit gar nicht in Frage.
„Die Runde wird ja immer größer.“, stellte er mit einem Lächeln fest und realisierte die offene Verzweiflung des Jungen im ersten Moment gar nicht. Dazu war sein Kopf noch viel zu sehr mit der Geschichte beschäftigt, die Rayon ihm eben offenbart hatte.