27.10.2022, 16:03
Liam wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas mit seinem Freund nicht stimmte. Das Lächeln auf seinen Lippen verblasste zwar nicht, verrutschte allerdings in einer Mischung aus Sorge und Irritation, als Rayon ihm zum Tresen folgte und fast schon gehetzt dreinblickte. Liam warf einen Blick an der Schulter des Hünen vorbei, um zu prüfen, ob ihm irgendjemand in die Taverne gefolgt war, vor dem sie sich nun besser in Acht nehmen sollten, doch obwohl die Tür gerade wieder ins Schloss fiel, konnte er keine neuen Gesichter ausmachen. Vermutlich hatte nur gerade jemand das kleine Etablissement verlassen, in dem sie sich vor der Mittagssonne zurückgezogen hatten.
„Hast du was Dummes getan und musst nun in einem Untergrundkampf deinen Mann stehen?“, fragte er leise an Rayon gewandt, kurz bevor sie den Tresen erreicht hatten.
Seiner Stimme konnte man zwar entnehmen, dass er es als Scherz gemeint hatte, doch der Dunkelhäutige konnte sich der Aufmerksamkeit und auch dem nötigen Ernst gewiss sein, mit dem der Lockenkopf auf das wartete, was den Älteren so aus der Fassung zu bringen schien. Er nutzte den Moment, um ihre Bestellung an den Wirt weiterzugeben und warf Rayon nur einen flüchtigen Blick zu, als dieser ihm in just diesem Moment noch dichter auf die Pelle rückte. Er selbst hatte mit einer derartigen Nähe kein Problem – im Gegenteil. Doch ihm entging der skeptische Blick des Mannes hinter dem Tresen nicht, der vermutlich gerade mit dem Gedanken spielte, sie ob des unschicklichen Verhaltens lieber rauszuwerfen, als ihnen eine weitere Runde zu ermöglichen. Der Lockenkopf quittierte den Argwohn seines Gegenübers mit einem amüsierten Grinsen und wäre Rayon diese Sache nicht offensichtlich derart wichtig gewesen – vielleicht hätte er die Toleranz des Wirts noch ein wenig auf die Probe gestellt, wohlwissend, dass auch Rayon damit keine Probleme gehabt hätte. So aber wandte er sich von der skeptischen Miene des Wirts ab und bedachte seinen Freund mit ernster Sorge. Die Erwähnung, er habe einer Bettlerin Gold gegeben, erhellte sein Gesicht noch einen kurzen Moment – so war er eben. Gutherzig und alles andere als ein typischer Pirat. Er wagte es allerdings nicht, den Dunkelhäutigen noch einmal zu unterbrechen, sondern lauschte seinen Erlebnissen neugierig und interessiert. Und je weiter Rayon in seiner Geschichte kam, desto grüblerischer wurden auch Liams Züge.
„Nun…“, war sein erster Ausdruck der Überforderung, während sich Ratlosigkeit in seinem Gesicht spiegelte. „Manch einer würde es definitiv als Humbug abtun.“
Er brauchte nicht lange darüber nachdenken, bis ihm mindestens ein Name dazu einfiel. Aber er war weder Alex, noch sonst ‚manch einer‘. Und was wäre er für ein Jäger von Mythen, Ungeheuern und Legenden gewesen, hätte er solch ein Ereignis einfach als Nonsens abgetan?
„Manch einer hält aber auch Meerjungfrauen für Seemannsgarn.“
Ein kurzes Schmunzeln huschte über seine Züge, hielt allerdings nicht sonderlich lang, ehe seine nachdenkliche Miene zurückkehrte. So sah man Liam selten – weil er meist, wenn er diesen Gesichtsausdruck aufsetzte, alleine über seinen Aufzeichnungen grübelte.
„Zu meinem Leidwesen war ich schon öfter in einer Nervenheilanstalt als mir lieb ist, allerdings ist mir selbst dort nie ein solches Verhalten aufgefallen. Nicht, soweit ich mich erinnere, jedenfalls.“
Liam war absolut nicht bewusst, dass diese Information für seinen Freund womöglich neu war. Sicherlich wusste Rayon, dass seine Mutter recht früh verstorben war – nicht allerdings, dass sie dies selbst zu verschulden hatte, nachdem ihr die Tage in der Anstalt und der Fortschritt ihrer Krankheit zunehmend zugesetzt hatten. Sie hatten sie dort oft besucht. Aber das Ende war absehbar gewesen. Liam verschwendete keinen weiteren Gedanken daran und griff stattdessen nach Rayons malträtiertem Arm, um ihn sich genauer anzusehen.
„Und das hier… sieht mir auch nicht nach einer alten armen Dame von der Straße aus. Das sieht viel mehr nach… Wahn aus. Also… Ja. Vielleicht war das, was du da beschreibst, wirklich eine Prophezeiung.“
Er fühlte sich nicht so, als wäre er wirklich eine große Hilfe. Ratlos verzog er das Gesicht, als der Wirt hinter ihnen deutlich räusperte. Scheinbar war ihm das nun wirklich genug der Tuchfühlung. Liam wandte sich um und sah, dass ihre Krüge auf dem Holz bereitstanden. Das Räuspern musste unweigerlich ein Hinweis darauf gewesen sein.
„Ah, vielen Dank!“, begann er, ein paar der Krüge vom Tresen zu sammeln, nachdem er die verlangten Goldstücke danebengelegt hatte. Dann wandte er sich wieder Rayon zu. Ihm war nämlich gerade etwas eingefallen. „Du hast Glück, mein Freund. Ich kenne da vielleicht wen, der uns helfen kann.“
Augenblicklich war seine Zuversicht zurückgekehrt. Welch Zufall, dass er Aric vor ein paar Tagen erst unverhofft über den Weg gelaufen war. Wer kannte sich wohl besser mit Prophezeiungen aus als ein Wahrsager?