02.09.2022, 12:59
Lucien konnte der Jägerin in diesem Augenblick nur zustimmen. Das sah bei aller Liebe nicht gewollt aus. Das sah eher danach aus, als hätte man Liam in einer kleinen Gasse überfallen und als Futter für die Schaulustigen verschleppt, damit er sich hier zum Amüsement der Wettenden eine gehörige Tracht Prügeln einfangen konnte. Und angesichts der Art und Weise, wie der Kerl in der Mitte des Ringes das Spektakel inszenierte – sich darin inszenierte – vermutete der junge Captain, dass die Situation, in der der Lockenkopf sich wiedergefunden hatte, wahrscheinlich noch eine Vorgeschichte hatte. Auf die war er nachher wirklich sehr gespannt.
Der Dunkelhaarige wandte sich seiner Begleiterin zu, die bereits Anstalten machte, sich durch die hölzernen Latten der Ringabsperrung zu zwängen. Ihre Blicke begegneten sich und ohne jedes Zögern nickte Lucien ihr seine Zustimmung entgegen. Dann wandte er sich ab, wischte sich in einer flüchtigen, fast beiläufigen Bewegung das Blut aus der Platzwunde über seiner Braue und sah ein letztes Mal über die Schulter, registrierte kaum bewusst den Tumult, der sich unmittelbar hinter Liam am Rande des Rings ereignete, bevor er sich endgültig abwandte und in der wogenden Menge untertauchte und sich durch die ihm entgegendrängenden Leiber schob.
‚Sorg für Chaos‘. Das würde an einem Ort wie diesem nicht schwer werden. Die Menschenmenge pulsierte vor Gewaltbereitschaft. Die Rufe, Pfiffe, das Gegröle dröhnte ihm in den Ohren und trieben seinen Herzschlag zu einem geradezu mörderischen Rhythmus an. Dieser Stimmung konnte er sich nicht entziehen, selbst wenn sie sich gegen jemanden richtete, der zu seiner Mannschaft gehörte. Dennoch steckte sie ihn an und er sehnte sich geradezu nach dem Chaos, um das Skadi ihn gebeten hatte. Stellte sich nur die Frage, wie er das anstellte, ohne auf irgendjemanden zu schießen.
Am Rand des großen Raumes lichtete sich die Menge, gab den Blick auf die Tür zu einem angrenzenden Abstellraum frei. Dahinter hörte er über den Lärm der Menge hinweg nun auch wütendes Hundegebell. Den Bruchteil einer Sekunde ließ Lucien noch den Blick schweifen, dann fasste er einen Entschluss, schob sich schnellen Schrittes an den letzten Umstehenden vorbei und schlüpfte durch die Tür, ließ sie hinter sich jedoch weit offen stehen.
Das, was vorher mal eine Abstellkammer gewesen sein musste, entpuppte sich als eine Art Hundezwinger. Links und rechts eines schmalen Ganges reihte sich nun ein mannshoher Käfig nach dem anderen an der Wand entlang. Bei den Hunden, die darin eingesperrt waren, handelte es sich um massige Tiere mit breitem Brustkorb, kurzen Hälsen und stämmigen, mit Muskelpaketen überzogenen Läufen. Die meisten hatten in etlichen Kämpfen wulstige Narben davongetragen, Teile ihrer Ohren oder ihrer Ruten eingebüßt und jeder von ihnen machte den Eindruck, als könne er den nächsten Kampf gar nicht erwarten. Der Lärm ihres Gebells war ohrenbetäubend laut und als sie ihn eintreten sahen, warfen sich die Tiere in den vordersten Käfigen wie im Wahn gegen ihre Gefängnisse, ließen die Käfigtüren erzittern. Die Atmosphäre der Menschenmenge tat auch bei ihnen seine Wirkung.
Lucien ging kurz in die Hocke, zog seinen Dolch aus dem Stiefel und fluchte im Stillen darüber, ansonsten gänzlich unbewaffnet hergekommen zu sein. Er war nicht sonderlich scharf darauf, eins dieser Biester an seinem eigenen Bein hängen zu haben. Sie überhaupt auf die Menge loszulassen, war schon riskant genug. Er konnte nicht beeinflussen, an wem sie sich festbissen. Aber für Chaos waren sie allemal gut – und wenn das nicht klappte, konnte er immer noch Feuer legen.
Er steuerte den letzten Käfig auf der rechten Seite an, um im Fall der Fälle wenigstens die Wand im Rücken zu haben. Dann packte er den Dolch fester und ließ den unteren Knauf mit aller Kraft auf das grobe, aber nicht besonders stabile Vorhängeschloss krachen, das die Käfigtür versperrte. Der Zylinder platzte auf und das Schloss fiel zu Boden. Lucien zögerte nur einen Moment, dann hielt er den Dolch bereit und zog die Tür auf – sorgsam darauf bedacht, sie zumindest zwischen sich und dem Hund zu halten.
„Also los Fiffi. Fass das Herrchen...“,
raunte er dem Köter leise zu, der dem Mann hinter den Gittern nur ein drohendes Knurren schenkte, der plötzlichen Freiheit nicht sofort zu trauen schien und sich eher vorsichtig als gewaltbereit über die Schwelle wagte. Als daraufhin noch immer nichts geschah, nahm das Tier Fahrt auf und rannte mit langen Sätzen auf die offenstehende Tür zu, die in den Kampfraum führte.
Die übrigen Käfige einen nach dem anderen aufzubrechen, war dann keine große Sache mehr. Keiner der Hunde schien sich noch für ihn zu interessieren. Stattdessen folgten sie dem ersten laut kläffend, schnappten und verbissen sich in ihren Artgenossen, wenn sie in der Enge der Kammer einander anrempelten und schafften es schließlich durch die Tür – mitten hinein in die tobende Menge, die zwischen ihnen und dem Scheunentor stand. Zwölf Hunde, die zum Kampf getrimmt worden waren und von einem Menschen nicht viel mehr kannten, als den Stock, der dazu diente, sie noch wütender zu machen.
In den ersten Sekunden, nachdem in dem kleinen Raum Ruhe eingekehrt war, geschah nichts. Die Rufe der Schaulustigen waren genauso laut und johlend, wie zuvor. Bis sich schließlich ein panischer Aufschrei dazwischen mischte. Gefolgt von einem halben Dutzend weiterer Stimmen, die vor Schmerz brüllten.