24.08.2022, 20:00
Happy birthday to me...
29.06.1822, später Vormittag
Südlicher Marktplatz in Ostya
Südlicher Marktplatz in Ostya
Eine ganze Woche lang war Cole nun schon zwölf Jahre alt – ohne es bemerkt zu haben. Erst am Morgen hatte er zufällig ein Flugblatt mit einem Datum gesehen und daraus äußerst scharfsinnig geschlussfolgert, dass er wohl Geburtstag gehabt haben musste.
Geburtstage waren für den Blonden noch nie von besonderer Bedeutung gewesen. Man konnte schließlich nichts dafür, an welchem Tag man in diese Welt gestolpert war. Außerdem waren Geburtstage in dem Waisenhaus, in dem er seine jüngsten Jahre verbracht hatte, immer ziemlich mau gewesen. Als Geburtstagskind durfte – oder vielleicht besser musste – man beim Mittagstisch oder Abendbrot ein Gedicht vortragen. Hatte man das besonders fein gemacht, bekam man zur Belohnung einen zweiten Nachtisch. Außer natürlich, man hatte bis zum Abendessen warten müssen. Dann gab es bestenfalls einen Extralöffel Marmelade fürs Brot. Ziemlich mau also. Cole hatte seine Gedichte immer zum Abendessen vortragen müssen. Und rein zufällig gab es an diesen Tagen auch nie die süße rote Marmelade, sondern bloß bitteres Pflaumenmus. Irgendwann gab es dann stattdessen auch nur noch Schellen für den Blonden. Mochte daran liegen, dass er angefangen hatte, derlei Verse vorzutragen, die eine fromme Erzieherin nicht aus einem Kindermund hören wollte.
An diesem Morgen aber hatte Cole aus irgendeinem Grund beschlossen, die alte Tradition noch einmal aufleben zu lassen. Vielleicht, weil er die Lust nach etwas Süßen verspürt hatte. Nach dem Aufstehen hatte er leise für sich ein Gedicht aufgesagt – ein unfrommes selbstverständlich – und befunden, dass er das sehr fein gemacht hatte. Und jetzt würde er sich, wie es sich gehörte, selbst für diesen Erfolg belohnen.
Auf dem Markplatz vor dem Rathaus herrschte am Vormittag bereits reges Treiben – sofern man bei der winzigen Stadt, in der er sich befand, überhaupt von „regem Treiben“ reden konnte. Zumindest waren genug Menschen da, um in der breiten Masse relativ unbemerkt zu bleiben. Cole hatte ein Auge auf einen kleinen Stand im Zentrum des Marktes geworfen, der neben allerlei Süßgebäck auch kleine Küchlein anbot, die einem das Wasser im Munde zusammenlaufen ließen. Was den Blonden allerdings von einer extra Portion süßer Buttercreme trennte, waren die wachsamen Augen einer rundlichen Verkäuferin. Und wenn ihn nicht alles täuschte, hatte genau diese gerade, wenn auch nur für einen Sekundenbruchteil, seinen geifernden Blick bemerkt. Schlechte Vorraussetzungen, wenn man vorhatte, einen Frühstückskuchen zu erstehen, ohne dafür zu bezahlen. ‚Taktischer Rückzug‘, hörte Cole sich in Gedanken selbst ordern, während er, zwischen Passanten hindurchflitzend, mehr Distanz zwischen sich und der Kuchenfrau aufbaute und schließlich gänzlich aus ihrem Sichtfeld verschwand.
Obwohl er bereits wusste, was er darin finden würde, ließ Cole eine Hand in den zerransten Lederbeutel an seinem Gürtel gleiten. Seine Fingerspitzen ertasteten den Rest Seife, mit der er sich am Morgen das Gesicht gewaschen hatte, jedoch, wie erwartet, keine Münzen. Aber wenn er sich so umsah, hatte er bereits eine sehr genaue Vorstellung davon, wie sich etwas Kleingeld dazuverdienen konnte. Ihm schwebte ein kleines Spiel vor, welches er schon öfter gespielt hatte. In Ostya aber war man noch nicht auf seine Farce vorbereitet, was ihm sicherlich einen zusätzlichen Vorteil verschaffen dürfte.
Nach außen hin nahm Coles Blick eine zunehmend besorgte Miene an, während seine Augen hektisch durch die Menschenmenge huschten. Innerlich aber suchte er in aller Ruhe nach einer geeigneten Gelegenheit. Dann machte er einige Schritte nach links, vollführte danach eine Kehrtwende und lief in die andere Richtung, ehe er schließlich in einen vermeintlich planlosen Trab verfiel. Während er lief und dabei allmählich an Tempo zunahm, streifte ihn kurzzeitig der Gedanke, wie lange man ihm diese Vorstellung wohl noch abnehmen würde. Immerhin war er nun zwölf Jahre alt und beinahe zu groß für die Verlorenes-kleines-Kind-Nummer. Für den Moment aber, musste er es einfach darauf ankommen lassen, denn auch wenn sein Blick nicht nach vorne, sondern irgendwo in die Weltgeschichte gerichtet war, wusste er sehr genau, dass ihn nur noch wenige Schritte von seinem Ziel trennten.
Geburtstage waren für den Blonden noch nie von besonderer Bedeutung gewesen. Man konnte schließlich nichts dafür, an welchem Tag man in diese Welt gestolpert war. Außerdem waren Geburtstage in dem Waisenhaus, in dem er seine jüngsten Jahre verbracht hatte, immer ziemlich mau gewesen. Als Geburtstagskind durfte – oder vielleicht besser musste – man beim Mittagstisch oder Abendbrot ein Gedicht vortragen. Hatte man das besonders fein gemacht, bekam man zur Belohnung einen zweiten Nachtisch. Außer natürlich, man hatte bis zum Abendessen warten müssen. Dann gab es bestenfalls einen Extralöffel Marmelade fürs Brot. Ziemlich mau also. Cole hatte seine Gedichte immer zum Abendessen vortragen müssen. Und rein zufällig gab es an diesen Tagen auch nie die süße rote Marmelade, sondern bloß bitteres Pflaumenmus. Irgendwann gab es dann stattdessen auch nur noch Schellen für den Blonden. Mochte daran liegen, dass er angefangen hatte, derlei Verse vorzutragen, die eine fromme Erzieherin nicht aus einem Kindermund hören wollte.
An diesem Morgen aber hatte Cole aus irgendeinem Grund beschlossen, die alte Tradition noch einmal aufleben zu lassen. Vielleicht, weil er die Lust nach etwas Süßen verspürt hatte. Nach dem Aufstehen hatte er leise für sich ein Gedicht aufgesagt – ein unfrommes selbstverständlich – und befunden, dass er das sehr fein gemacht hatte. Und jetzt würde er sich, wie es sich gehörte, selbst für diesen Erfolg belohnen.
Auf dem Markplatz vor dem Rathaus herrschte am Vormittag bereits reges Treiben – sofern man bei der winzigen Stadt, in der er sich befand, überhaupt von „regem Treiben“ reden konnte. Zumindest waren genug Menschen da, um in der breiten Masse relativ unbemerkt zu bleiben. Cole hatte ein Auge auf einen kleinen Stand im Zentrum des Marktes geworfen, der neben allerlei Süßgebäck auch kleine Küchlein anbot, die einem das Wasser im Munde zusammenlaufen ließen. Was den Blonden allerdings von einer extra Portion süßer Buttercreme trennte, waren die wachsamen Augen einer rundlichen Verkäuferin. Und wenn ihn nicht alles täuschte, hatte genau diese gerade, wenn auch nur für einen Sekundenbruchteil, seinen geifernden Blick bemerkt. Schlechte Vorraussetzungen, wenn man vorhatte, einen Frühstückskuchen zu erstehen, ohne dafür zu bezahlen. ‚Taktischer Rückzug‘, hörte Cole sich in Gedanken selbst ordern, während er, zwischen Passanten hindurchflitzend, mehr Distanz zwischen sich und der Kuchenfrau aufbaute und schließlich gänzlich aus ihrem Sichtfeld verschwand.
Obwohl er bereits wusste, was er darin finden würde, ließ Cole eine Hand in den zerransten Lederbeutel an seinem Gürtel gleiten. Seine Fingerspitzen ertasteten den Rest Seife, mit der er sich am Morgen das Gesicht gewaschen hatte, jedoch, wie erwartet, keine Münzen. Aber wenn er sich so umsah, hatte er bereits eine sehr genaue Vorstellung davon, wie sich etwas Kleingeld dazuverdienen konnte. Ihm schwebte ein kleines Spiel vor, welches er schon öfter gespielt hatte. In Ostya aber war man noch nicht auf seine Farce vorbereitet, was ihm sicherlich einen zusätzlichen Vorteil verschaffen dürfte.
Nach außen hin nahm Coles Blick eine zunehmend besorgte Miene an, während seine Augen hektisch durch die Menschenmenge huschten. Innerlich aber suchte er in aller Ruhe nach einer geeigneten Gelegenheit. Dann machte er einige Schritte nach links, vollführte danach eine Kehrtwende und lief in die andere Richtung, ehe er schließlich in einen vermeintlich planlosen Trab verfiel. Während er lief und dabei allmählich an Tempo zunahm, streifte ihn kurzzeitig der Gedanke, wie lange man ihm diese Vorstellung wohl noch abnehmen würde. Immerhin war er nun zwölf Jahre alt und beinahe zu groß für die Verlorenes-kleines-Kind-Nummer. Für den Moment aber, musste er es einfach darauf ankommen lassen, denn auch wenn sein Blick nicht nach vorne, sondern irgendwo in die Weltgeschichte gerichtet war, wusste er sehr genau, dass ihn nur noch wenige Schritte von seinem Ziel trennten.