27.06.2022, 14:43
Sineca war und blieb ein wildes Tier. An den Menschen gewöhnt zwar, sicher und selbstbewusst zwischen ihnen, doch die Scheu blieb in gewissen Situationen. Ganz davon ab, dass sie kein dressierter Hund war, der Kunststücke und Kommandos ausführte, um sich Leckerchen zu verdienen. Er bewunderte Skadis Durchhaltevermögen noch immer, wenn sie die Abende damit verbrachte, ihr kleinere Tricks beizubringen und wer wusste schon – vielleicht würde irgendetwas davon ihnen wirklich einmal von Nutze sein. Den Schlüssel damals auf der Morgenwind hatte sie immerhin auch von der Marine stibitzt. Sie konnte ein Ass im Ärmel sein. Eines, auf das man sich aber niemals blind verlassen können würde. Liam lächelte und tauschte einen flüchtigen Blick mit dem kleinen Pelztier, das aus großen Augen zurückblinzelte. Vielleicht hatte Per Recht. Vielleicht aber auch nicht. Bislang hatte ihre Verbindung gereicht, um die Ginsterkatze nicht zu verlieren. Aber je nach Laune würde er nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass sie seine Nähe allem anderen vorzog. Bestes Beispiel war immerhin gewesen, als sie in Silvestre immer wieder davongelaufen war – weil sie Alex‘ Spur gefolgt war, wie sich später herausgestellt hatte.
„Wenn nicht ich, dann Alex.“, mutmaßte er. „Und Skadi weiß sich ihre Zutraulichkeit inzwischen auch zu kaufen. Ansonsten ist sie zahm, wenn man sein Essen mit ihr teilt. Und macht keine Probleme, solange sie sich von den Hühnern fernhält.“
Er war Pers Blick zu Greo gefolgt und überließ ihm eine subjektive Einschätzung. Bislang hatte er keine Beschwerde über die Schleichkatze gehört. Allerdings war sie auch – mit Ausnahme von Shanaya, Talin und Greo – länger auf der Sphinx als jeder andere. Gerade was Shanaya betraf, war sich Liam sogar sicher, dass sie lieber irgendeinen Seemann über Board geworfen hätte als die Ginsterkatze. Ihre Gesellschaft war ihrer Navigatorin vermutlich lieber als die der meisten frischeren Crewmitglieder.
Er stellte den Krug wieder ab und wog abschätzend den Kopf von der einen zur anderen Seite. Bevor er allerdings die Wahrscheinlichkeit wirklich kalkuliert hatte, ob es bei einem Krug bleiben würde, gesellte sich Cassy an ihren Tisch, nahm sein Angebot an und setzte sich auf einen der freien Plätze. Liam hatte zu keinem Zeitpunkt befürchtet, dass einer der beiden Männer der jungen Dame unfreundlich begegnen und ihm seine Einladung übel nehmen würde – Per bestätigte diesen Eindruck auch direkt und fragte, was sie nach Ostrya trieb.
„Hier herauszukommen?“, wiederholte Liam. „Das klingt nicht danach, als hättest du ein gutes Wort für diese Stadt übrig.“
Seine Stimme war zwar fragend, aber nicht fordernd. Er wollte sie nicht dazu drängen, ihnen – Fremden – die Umstände näher zu erklären. Das Schmunzeln auf seinen Lippen bedeutete, dass er auch mit einem simplen ‚so sieht’s aus‘ zufrieden war. Daher nahm er den Themenwechsel auch ohne größeres Zögern an und runzelte nachdenklich die Stirn. So freundlich Rayon auch war – wenn ihn jemand belaberte, weil er etwas kaufen sollte, war er mit Sicherheit durchsetzungsfähig genug, um sich einfach aus dem Staub zu machen. Er war nicht dumm und auch nicht naiv. Kontaktfreudig, ja, aber zielstrebig genug, um sich nicht von seinen Plänen abbringen zu lassen. Noch bevor er seine Überlegung allerdings laut kundtun konnte, öffnete sich die Tür der Taverne erneut und das Tageslicht von draußen ummalte das Profil ihres Schiffskochs, ehe das Holz hinter ihm wieder ins Schloss fiel.
„Ah, wenn man vom Teufel spricht.“ Er schenkte seinem Freund ein erfreutes Lächeln, kaum, dass er an ihren Tisch herangetreten war. „Ersetzt noch nicht. Dafür müssen wir erst noch herausfinden, wie gut sie kochen kann.“, zwinkerte er dem Dunkelhäutigen zu. Dann wies er auf seinen Krug. „Ein Bier für dich?“
Liams Blick wanderte kurz durch die Runde, ob sonst noch jemand Nachschub brauchte. Dann würde er direkt die nächste Runde mitbringen. Zwar war nicht einmal sein eigener Krug inzwischen leer, aber alleine würde er den Rest dann trotzdem nicht trinken lassen.