25.06.2022, 10:31
Die Anstrengung schien zu viel für die alte Frau gewesen zu sein. Die Geschwindigkeit, mit der sie die unbändige Kraft wieder verließ, mit der sie ihn eben noch umklammert gehalten hatte, war ebenso erschreckend wie der Umstand, dass sie diese Kraft überhaupt besessen hatte. Viel schlimmer war jedoch, dass auch die Klarheit aus ihren Augen verschwand, denn das bedeutete, dass seine Fragen höchstwahrscheinlich unbeantwortet bleiben würden.
"Du wirst ihr begegnen, Pirat. Bald schon. Dann musst du ihr meine Botschaft überbringen. Sag es ihr", brachte sie noch heraus, ehe sie vollständig in sich zusammensank. Nun war nichts mehr übrig von dem, was sie in den letzten Momenten ausgemacht hatte, sondern sie wirkte wieder wie zuvor - wie die verwirrte Bettlerin, vor der er aus Mitleid stehengeblieben war. Eine Handlung, die er nun fast schon bereute. Vermutlich würde irgendein anderer Obdachloser ihr das Geld in kürzester Zeit ohnehin stehlen, wenn sie diese urplötzlichen Momente der Klarheit und Stärke nicht regelmäßig hatte, und im Austausch hatte sie ihn mit einem Wissen belastet, auf das er gut und gern hätte verzichten können. Wobei er immer noch nicht sicher war, ob er die Worte der Alten nun als Wissen interpretierte, oder als das wirre Gefasel einer Geisteskranken.
Das Brennen der Kratzer auf seinem Arm, die sie hinterlassen hatte, holte ihn aus seinen Gedanken, und er nahm die Umgebung wieder wahr. Mittlerweile hatten einige der Umstehenden Notiz von dem ungleichen Gespann genommen, das ungewöhnlich lange miteinander zu kommunizieren schien. Und diese Aufmerksamkeit passte ihm ganz und gar nicht. Er warf der Bettlerin noch einen Blick zu, die nun wieder zu ihren wippenden Bewegungen übergegangen war und die letzten Worte wiederholte, die sie ihm zugemurmelt hatte. Er zögerte für einen Moment, weil er das Bedürfnis hatte, noch irgendetwas zu sagen, aber immer mehr Köpfe wandten sich ihm zu und er zweifelte daran, dass sie ihn überhaupt wahrnehmen würde. Deshalb richtete er sich auf, verstärkte den Griff um seine Einkäufe, und machte sich mit schnellen Schritten auf den Weg in Richtung Wirtshaus, bevor noch jemand auf ihn aufmerksam wurde, der ihm Probleme bereiten konnte.
Auf dem kurzen Weg zu seinem Zielort wiederholte er in Gedanken immer und immer wieder die Worte der Bettlerin. Nicht nur, um sie zu verstehen, sondern auch, um sie sich einzuprägen, denn bis er sich entschieden hatte, ob er ihnen Glauben schenkte oder nicht, wollte er sie auf keinen Fall vergessen. Die Fragezeichen in seinem Kopf wurden dabei keineswegs kleiner, aber als er an der Tür zur Schenke ankam, kam ihm ein zumindest etwas beruhigender Gedanke.
Du wirst ihr begegnen, Pirat... Nun, wenn ich zumindest nichts dafür tun muss, kann ich mich dann immer noch dazu entscheiden, ob ich es ihr sage oder nicht... Falls ich sie wirklich treffe...
Der Gedanke, der Königin zu begegnen, behagte ihm an und für sich gar nicht, denn als Pirat wäre ein solches Zusammentreffen höchstwahrscheinlich nicht gerade zu seinem Vorteil, aber wenn er den Worten der alten Frau glaubte, würde er daran ohnehin nichts ändern können.
Der Dunkelhäutige atmete zwei, drei Mal tief ein und aus, dann drückte er die schwere Türklinke herunter und betrat die Schenke. Sofort empfing ihn der Geruch von Bier und das Gewirr dutzender Stimmen und verscheuchte die Gedanken zumindest für den Augenblick. Seine Augen benötigten einen Moment, um sich an die neuen Lichtverhältnisse zu gewöhnen, dann blickte er sich suchend um, bis er die Gesichter von Greo und Per erblickte, die ihm zugewandt waren. Ihnen gegenüber saß Liam, den er probelmlos auch an seinem Hinterkopf erkannte, und neben ihm allem Anschein nach eine ihm gänzlich unbekannte Frau mit blonden Haaren. Offensichtlich hatten seine Kameraden eine neuen Bekanntschaft gemacht.
Er überbrückte die Distanz zu dem Vierertisch, an dem sie saßen, ließ seine Einkäufe geräuschvoll auf den Fußboden fallen und schenkte der versammelten Truppe ein Lächeln, froh, wieder unter ihnen und dem Trubel auf dem Markt entkommen zu sein.
"Wie ich sehe, habt ihr mich bereits durch ansehnlichere Gesellschaft ersetzt. Das hat man also davon, wenn man ein paar Minuten zu spät kommt", polterte er und stemmte die Hände in die Hüften, als wäre er tatsächlich verärgert, wobei sein Gesichtsausdruck diesen Eindruck Lügen strafte.
[ Erst auf dem Markt bei der Bettlerin, dann im Wirtshaus bei Liam, Greo, Per und Cassy ]