05.06.2022, 08:29
Rayon war sicherlich kein schreckhafter Mensch, zumindest, solange es um irdische Dinge ging, und trotzdem setzte sein Herz für einen sehr ausgedehnten Moment aus, als die zittrige alte Frau plötzlich auf ihre Beine sprang und seinen Arm ergriff. Die Kraft, mit der sie ihn festhielt, hätte er vielleicht einem Mann wie Ceallagh zugetraut, sicherlich aber nicht einer Bettlerin, die so aussah, als würde sie mehr Mahlzeiten auslassen als zu sich nehmen. Für einen kurzen Moment drohte der Impuls, sich mit Gewalt ihrem Griff zu entziehen, Überhand zu nehmen, doch der Dunkelhäutige unterdrückte ihn, ließ die linke Hand dabei allerdings an seiner Hüfte, um in kürzester Zeit ein Messer ziehen zu können, falls dies notwendig werden sollte. Dann folgte er dem Blick der Alten, und die Überraschung in seinen Augen nahm noch weiter zu, als er bemerkte, dass sie das Tattoo der Tarlenn fixierte, das in seinen rechten Unterarm gestochen worden war, nachdem er vor Jahren die Charta der Sirène unterzeichnet hatte. Nicht unbedingt, weil er es abwegig fand, dass sie es erkannte, schließlich sagten ihre aktuellen Lebensumstände nichts über ihr voriges Leben aus, sondern eher, weil sie auf solch intensive Art und Weise darauf reagierte.
Er wollte gerade etwas sagen, sie fragen, was ihr Verhalten zu bedeuten hatte, als sich ihre Augen von der Sanduhr lösten und die seinen fixierten. Ihr Blick war klar, durchdringend, und passte ganz und gar nicht zu einer verwirrten Bettlerin, die Selbstgespräche führte und allem Anschein nach den Verstand verloren hatte. Rayon erwiderte ihren Blick mit einer Mischung aus Neugier und Unsicherheit, die daraus entstand, dass sein Gehirn es nicht schaffte, zu verarbeiten, was gerade geschah.
"Ich weiß, wer du bist!", sprach sie mit derselben Klarheit in ihrer wenngleich leisen Stimme, die auch ihre Augen ausstrahlten. Rayon öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und schloss ihn dann unverrichteter Dinge wieder. Er spürte den Druck, den sie auf sein Tattoo ausübte, und senkte den Blick für einen Moment. Wieso schien es ihr so wichtig zu sein?
"Du gehörst zu diesem Schiff. Ich habe es gesehen...", fuhrt sie fort und vergrößerte seine Verwirrung dadurch nur noch. Glaubte sie, die Sphinx würde zu den Tarlenn gehören? War vielleicht ein Schiff der Tarlenn hier und sie dachte, dass er mit diesem segeln würde? Aber wenn dem so war, verwechselte sie ihn vermutlich mit jemandem, den sie tatsächlich kannte. Oder sie redete wirr, was allerdings nicht zu ihrem Auftreten zu passen schien...
"Ich habe es gesehen und ich habe sie gewarnt, die junge Königin. Rote Schwingen am Horizont. Verkünden das Ende aller Welten. Die Löwin ist die Botin", fuhr sie fort und intensivierte dabei ihren Griff um seinen Arm und ihre Bewegungen über sein Tattoo, bis ihre Fingernägel in sein Fleisch schnitten. Er wagte es nicht, den Blick von ihren Augen zu wenden oder auch nur einen Ton von sich zu geben und ignorierte den aufkommenden Schmerz, während er über ihre Worte nachdachte, die keinen Sinn zu ergeben schienen - abgesehen von den roten Schwingen am Horizont. Also meinte sie doch die Sphinx? Aber was, im Namen der Götter, hatte die Sphinx mit der Sanduhr zu tun?
"Ich...", setzte er zu einer Erwiderung an, die jedoch sofort von der Alten unterbrochen wurde.
"Aber da ist noch mehr. Noch mehr, das sie erfahren muss! Hör zu, Pirat! Mit Geschwistern hat es begonnen und mit Geschwistern wird es enden. Sie sind der Schlüssel. Sag es ihr. Sag es ihr!"
Ihre Worte waren mit zunehmender Zeit immer eindringlicher geworden, ihr Griff noch fester, bis sein Arm begann, taub zu werden und er sich ernsthaft sorgte, dass sie ihn ihm einfach abreißen würde. Nun jedoch ließ sie ihn plötzlich los, und im selben Moment verschwand auch diese unwiderstehliche Schärfe ihres Blickes. Er blinzelte und bemerkte jetzt erst, dass er in den vergangenen Augenblicken vollkommen blind und taub gewesen war für alles, was um sie herum passiert war. Er löste vorsichtig den Blick von ihr und schaute sich um, doch niemand schien von ihrem seltsamen Verhalten Notiz genommen zu haben. Die Menschen gingen weiter ihren Beschäftigungen nach, hasteten die geschäftige Hauptstraße entlang, ohne sie zu beachten. In Rayons Kopf hingegen herrschte pures Chaos. Sollte er diesen Worten Bedeutung beimessen? Waren sie mehr als nur sinnloses Gebrabbel? Und wenn ja, was bedeuteten sie?
"Das Ende aller Welten? Verkündet durch... uns?", brachte er schließlich heraus und sah die Bettlerin fragend an. "Was meint Ihr damit? Wie kommt Ihr dazu, mir das zu sagen?"
Er hoffte inständig, dass sie ihm noch mehr mitteilen würde. Irgendetwas, das weniger rätselhaft war. Oder ihm zu verstehen gab, dass sie ihn mit ihren Worten nur aufgehalten hatte, bis die Wachen eintreffen konnten, um ihn festzunehmen. Das wäre zumindest sehr einfach zu interpretieren gewesen.
[ Auf dem Markt, bei einer alten Bettlerin ]