23.05.2022, 19:05
Sineca war nicht unbedingt etwas, was einem tagtäglich begegnete. Sie war keine streunende Hauskatze oder ein Raubtier, vor dem man gewarnt wurde, wenn man in die Nebelwälder Chikarns aufbrach. Von ihrer Art hatte er erst erfahren, als sie sie bereits einige Monate beherbergt hatten und aus dem kleinen wehrlosen Knäul ein temperamentvolles Wesen geworden war. Ein Wesen, das sich anders entwickelt hatte, als Alex und er zuerst vermutet hatten. Eines, von dem sie eben noch nie gehört hatten, bis eines der vielen Bücher, die er in den Bibliotheken der ersten Welt gewälzt hatte, ihnen endlich Aufschluss darüber gebracht hatten, was sie da aufgegabelt hatten, als sie die kleine Bande Pelzschmuggler hopsgenommen hatten. Die Ähnlichkeit zu einer Katze bestand durchaus – mehr als nur im Namen. Ein zu klein geratener Parder mit der Rute eines Kattas. Aber rein vom Aussehen auf die Nahrung zu schließen, wäre mutig gewesen. Immerhin fraßen Hunde auch Sämtliches, was sie vom Boden auflasen. Und Sineca war – anders als andere Raubkatzen – auch Früchten nicht abgeneigt. Und so verfressen, wie sie mittlerweile war – vermutlich hätte sie auch ein Stück Brot erbeutet. Unzufrieden und danach umso versessener darauf, etwas anderes vom Teller zu stibitzen. Vorerst aber schien es so, als würden sie die Wahrheit gar nicht herausfinden. Gut für die Blonde, die von ihrem Lohn somit erst einmal nichts an die gefleckte Elster abtreten musste.
Liam nickte leicht auf ihren Dank hin und schien einen Augenblick zu überlegen, ohne, dass sein Schmunzeln in sich zusammenfiel. Er verstand, worauf sie hinauswollte – besonders, wenn man auf das angewiesen war, was man mit einem Instrument zustande brachte. Er selbst hatte sich immer damit zufriedengegeben, sich zumindest einen vollen Magen für den Tag zu verdienen. Zu viel Hab und Gut war nie von Vorteil, wenn man unterwegs war und dementsprechend war der größte Teil seines Lebens davon geprägt gewesen, nur das Nötigste zu besitzen. Manchmal war es nur die Musik gewesen, manchmal nur ein Kohlestift in seiner Hand und Pergament oder Tinte, Füllfederhalter und die Fantasie – nebst der Ausrüstung, verstand sich, die eine Nacht angenehmer gestaltete als nur mit seiner Kleidung unter freiem Himmel schlafen zu müssen. Als Kind hatte er zwar sicherlich nicht in ärmlichen Verhältnissen gelebt, doch, Freigeist wie er war, war ihm der Verzicht schließlich nicht schwer gefallen, als er mit seinem Vater aufgebrochen war – nur das Nötigste am Mann, was sie tragen konnten, um die Welten zu entdecken, die dort draußen auf sie gewartet hatten.
„Einsam und hungrig vielleicht, aber kein bisschen ärmer.“, gab er dann seine eigene Ansicht der Dinge preis, ohne über ihre Worte zu urteilen.
Sie hatten alle ihre Beweggründe, ihre Ansichten und Denkweisen. Ihre Sicht auf die Welt, das Leben und die Menschen, die sie trafen. Sie hatten alle ihre Erfahrungen gesammelt, Kontakte und Freundschaften geknüpft und aus Fehlern gelernt. Das machte sie zu dem, was sie waren. Das machte sie unterschiedlich – und das war gut. Er lauschte, als sie bereitwillig antwortete und da sie – auch wenn er sie vermutlich vom Essen abhielt oder sie mindestens dabei störte – dem Gespräch nicht abgeneigt klang, rutschten seine eigentlichen Begleiter, die nur unweit von ihnen entfernt an einem Tisch saßen, ein wenig in Vergessenheit. Wann kam er schon einmal in den Genuss, sich mit anderen Musikern zu unterhalten? – Seit Milúi war er damit mehr oder minder allein gewesen. Und Ostya schien seitdem die erste Gelegenheit dazu zu sein, das Ganze etwas unbeschwerter genießen zu können. Auch, wenn Liam nicht völlig außer Acht ließ, dass die Leute scheinbar über sie tuschelten.
„Ich weiß, was du meinst. Aber gerade der rauere Ton kann manchen Stücken das gewisse Etwas verleihen.“ Nicht, dass es sich dadurch lohnte, ein älteres Instrument beizubehalten. Im Grunde hatten sie alle ihre Vor- und Nachteile. „Ein wenig, ja.“
Liam war schon immer von bescheidener Natur gewesen. Er war – trotz seiner Liebe zur Musik – niemand, der sich im Rampenlicht wohlfühlte. Er machte Musik, weil es ihm Spaß machte, weil er es liebte und weil es ihn freute, anderen Menschen dadurch eine Freude zu bereiten. Nicht der Aufmerksamkeit oder des Jubels wegen. Er stellte sein Können nicht unter Beweis – er stellte es zur Verfügung.
„Meine Eltern waren Musiker. Beziehungsweise sind. “ Zumindest ein Teil davon war es noch. „Zeitweise habe ich mir so ähnlich wie du eine warme Mahlzeit oder einen warmen Schlafplatz verdient. Oder eben das Gold für die nächste Überfahrt.“