17.05.2022, 22:24
Sie spürte die Anspannung im Körper der anderen. Sie wusste, wie sehr es an Shanaya nagte, den Tresen und die alte Verkäuferin zu verlassen, statt ihr aufs Dach zu steigen. Aus diesem Grund machte Talin ihr ja den Vorschlag, den Stock zu klauen, oder nicht? Was sie allerdings verwunderte war, dass ihr Vorschlag auf so wenig Begeisterung stieß. Verwundert wanderte bei den Worten der Schwarzhaarigen erst die eine, dann auch die andere Augenbraue in die Höhe, bis Talin schließlich eine Hand hob und sich die Nasenwurzel massierte. Ein schwerer Seufzer entfloh ihr und sie haderte wirklich mit sich.
„Du willst mir also sagen, dass du meinem wirklich wunderbaren Vorschlag ablehnst, weil du gern noch einmal wiederkommen möchtest...“
Es war nur eine rhetorische Frage, denn sie konnte die Begeisterung im Blick der anderen erkennen, als sie sich zwischen den ganzen Zetteln umsah. Ja, sie hatte die Jüngere so eben an ein Haufen Pergament verloren. Ungläubig schüttelte Talin den Kopf, wollte nicht glauben, dass sie ihre impulsive Art für das andere Mädchen unterdrückte, damit sie wieder hierher zurückkommen konnte, ohne im hohen Bogen aus dem Laden zu fliegen. Nochmals stieß die Blonde einen Seufzer aus, diesmal allerdings ergeben. Sie hob beide Hände und verdrehte die Augen, bevor sie schließlich wieder sprach.
„Ist ja gut, ist ja gut. Wir machen es auf deine Art. Nett und freundlich. Wir fragen die werte Verkäuferin aus, stecken ihr Geld zu – das du hoffentlich hast, denn ich bin so gut wie blank – und dann gehen wir mit deinen wunderschönen neuen Karten unseres Weges und du kommst wieder und sie wird sich bei dir einschmeicheln, weil du ihr heute so viel Geld da lassen wirst.“
Zum Ende hin schwang ein Hauch – eigentlich eine ganze Wagenladung – Ironie in ihrer Stimme mit. Doch biss sie sich auf die Unterlippe, bevor sie sich umdrehte und wie vor einem Kopf die Schultern noch einmal kreisen ließ. Nett sein. Das konnte sie doch immerhin. Mit Sicherheit auch zu einer Frau, die sie gänzlich von oben herab behandelt, nicht auf Talins Charme anspringen würde und mit großer Wahrscheinlichkeit auch noch ein paar Mal das Wort ‚Schätzchen‘ fallen lassen würde, bis ein angenehm großer Beutel Münzen den Besitzer wechselte. Sie fühlte sich, als würde sie ihrer Mutter oder gar ihrer... Schwiegermutter gegenüber stehen. Kurz vor einem Schweißausbruch, aber noch näher dran an einem Schreikrampf. Doch sie schwieg, behielt alles bei sich und machte sich wieder auf den Weg zum Tresen.
Talin spürte den abtastenden Blick der Verkäuferin, als würde sie in ihrem Mieder oder ihrem freizügigen Rock eine der Pergamentrollen verstecken. Statt ihre eigene Abscheu zu zeigen, versteckte sie diese hinter einem bezaubernden Lächeln, und schwieg. Ihr Blick fiel auf Shanaya und sie bedeute dem anderen Mädchen, ihre Fragen zu stellen, immerhin war sie die Navigatorin. In der Zeit betrachtete Talin noch einmal genauer die Konstruktion des Ladens, der Vitrine und den Standort der Alten. Sollten Shanayas Versuche, an die Karte zu kommen nichts nützen, dann würden sie auf den Plan der Blonden zurückkommen, ob die Dunkelhaarige das wollte oder nicht.
[Im Kartenladen | bei Shanaya]