01.05.2022, 17:06
Ein Hauch von Verlorenem ...Als die beiden Frauen ihren Laden betreten hatten, hatte die korpulente Dame am Tresen nur kurz aufgesehen, beiden ein reserviertes ‚Willkommen‘ geschenkt und sich dann wieder ihrem Buch gewidmet. Nicht irgendein Buch, selbstverständlich. Sondern ein gut recherchierter und ausgearbeiteter Leitfaden für das Erkennen wertvoller Schriftstücke und die Anzeichen für Fälschungen – eines ihrer Steckenpferde und für eine Frau ihres Berufszweigs gewiss unschätzbares Wissen.
Während Talin und Shanaya also durch die verwinkelten Regale ihres Ladens stöberten, beachtete sie sie nicht weiter. Erst, als die junge Navigatorin sie direkt ansprach, hob die Dame den Kopf und zugleich kritisch eine Augenbraue. Sie hatte wohl nicht bemerkt, wie die Schwarzhaarige herangekommen war und befand, dass sie definitiv zu nah an der Vitrine mit den beiden wertvollsten Stücken ihrer Sammlung stand.
Auf dem oberen Glasboden, auf einem Podest aus rotem Samt, ruhte eine Schriftrolle, auf der in feinen, höchst akkuraten Linien, eine Art Gebäude eingezeichnet war. Ein Gebäude, das an einen Tempel erinnerte. Und wenn Shanaya bei dem flüchtigen Blick, den sie darauf erhaschte, nicht alles täuschte, befand sich nur die erste Etage des riesigen Bauwerks oberhalb der Erdoberfläche. Wie der obere Teil einer Sanduhr verjüngte sich der Querschnitt, umso tiefer man gelangte, um schließlich an seinem Mittelpunkt wieder auseinanderzudriften. Zwei Dreiecke, die einander an den Spitzen berührten. Das eine tief unter der Erde, das andere geradeso die Oberfläche erreichend. Auch die Rückseite schien bemalt zu sein. Doch der Blick darauf blieb von rotem Samt verborgen.
Auf dem Vitrinenboden darunter hingegen befand sich etwas anderes, höchst Ungewöhnliches, das beiden Frauen einen undefinierbaren Schauer des Erkennens über den Rücken jagte. Eine zweite Schriftrolle lag dort auf einem Podest aus rotem Samt. Doch im Gegensatz zur Ersten schien diese hier vollkommen leer zu sein. Nur unten rechts in der Ecke wies eine genordete Kompassnadel darauf hin, dass es sich um eine Karte handeln musste. Eine genauso leere Karte, wie jene in Liams Besitz.
„Das weiß man nicht mehr“, erwiderte die Ladenbesitzerin mit strenger Kühle in der Stimme, umfasste mit der freien Hand ihren Gehstock, der neben ihrem Stuhl am Tresen lehnte, und schob dessen unteres Ende zwischen Shanaya und die Vitrine, um die Jüngere demonstrativ ein Stück zurückzudrängen. „Diese Karte dort ist beinahe 500 Jahre alt, Schätzchen.“ Sie maß ihr Gegenüber mit einem kritischen Blick. „Und ganz gewiss zu wertvoll, als dass du sie dir leisten könntest“, fügte sie nicht ohne wertenden Unterton mit an. „Ich versichere dir: In meinem Laden findest du Karten, die angemessener sind. Zumal der Ort, der darauf eingezeichnet ist, verschollen ist. Und wie man eine solche Karte liest", damit nickte sie auf die leere Pergamentrolle im unteren Teil der Vitrine, "weißt du vermutlich auch nicht. Du könntest damit also ohnehin nichts anfangen.“
Spielleitung für Shanaya & Talin
Wie ein zu groß geratenes Frettchen sauste Calwah zwischen den Rädern des Karrens hindurch, der beinahe die gesamte Gasse einnahm. Die Frau, die vor ihrer Haustür fegte, bemerkte ihn nicht einmal – dafür der Esel, vor dessen Hufen er entlang huschte und damit von der einen Seite der Straße auf die andere wechselte. Ein protestierendes „iaaaaaah“ hallte zwischen den Hauswänden, als das Zugtier ruckartig stehenblieb und aus reiner Vorsicht jegliche Zusammenarbeit mit seinem Besitzer einstellte.
Zu allem Überfluss war der Karren derart breit – oder die Gasse derart schmal – dass zwischen Wagenrad und Hauswand gerade genug Platz war, um sich als sehr schlanke Person hindurchzuquetschen. Für Taróns hünenhafte Gestalt hingegen gab es hier kein Weiterkommen, so sich der Esel nicht bewegen lies. Noch dazu war der Ballast, den alle drei mit sich schleppten, ausgesprochen hinderlich.
Doch das kümmerte die Echse nicht im Geringsten. Mit flinken Bewegungen schlängelte er sich auf der anderen Seite des Wagens die Sandsteinwand eines Wohnhauses hinauf – wobei seine Krallen sicheren Halt im rauen Putz fanden – sah sich urplötzlich Auge in Auge mit einer jungen Frau, die – kaum dass sie ihn erblickte – einen erschrockenen Schrei ausstieß und einen halben Satz zur Seite machte, um sich an ihre Begleiterin zu klammern, und sauste unter einem angrenzenden Fenster entlang weiter bis zur nächsten Hausecke.
Erst dort hielt die Echse kurz inne, warf – etwa eineinhalb Meter über dem Boden an der Wand hängend – einen Blick zurück zu Rúnar, in dessen Hand das neue Spielzeug für ihn klimperte. Eine dünne, gespaltene Zunge schoss aus Calwahs Maul, verschwand ungefähr genauso schnell wieder, und dann setzte er seinen Weg in die nächste Quergasse fort. Sodass alles, was Rúnar zuletzt von ihm sah, ein schlanker, zappelnder Echsenschwanz war, der hinter der Biegung verschwand, während die junge Frau am Arm ihrer Begleiterin kichernd hinter ihm her starrte und ihrer Freundin mit ausgestrecktem Finger das merkwürdige Wesen zeigte, das sie dermaßen erschreckt hatte.
Spielleitung für Isala, Tarón & Rúnar