26.04.2022, 12:26
Der physische Ballast, den Rúnar -- und auch Isa -- im Moment zu tragen hatten, war nichts gegen den geistigen. Immerhin war Tarón, der zu einem Großteil am heutigen geistigen Ballast beteiligt gewesen war, so rücksichtsvoll gewesen, den Großteil des physischen Ballasts zu übernehmen, den sie für das Inventar der Sphinx zu besorgen hatten. Wie Isa mit ihrem Arm war auch Rúnar noch immer angeschlagen, da wo die Oberfläche des Felsens und Taróns Zähne ihre Spuren hinterlassen hatten. Davon konnte man glücklicherweise nichts sehen, aber spüren tat er es deutlicher als ihm lieb war -- oder auch nicht. In kurzer Zeit wäre die Nacht mit Tarón nur noch eine nebulöse Erinnerung, die sein verkommener Geist irgendwann so sehr verschwimmen lassen würde, dass sie nichts mehr wert war. (Und das wollte er eigentlich nicht.)
Er war jedoch froh, dass Isa auch noch mit dabei war -- er war sich nicht sicher, ob das Schweigen und das Vermeiden von Blickkontakt sonst einfach unglaublich unangenehm gewesen wäre, oder ob er einfach wieder so weit gegangen wäre, dass er dem Drang nicht hätte standhalten können und wieder über Tarón hergefallen wäre. Aber dann wiederum war Tarón auch unglaublich betrunken gewesen, also würde er auf ein Herfallen sicher nicht so entgegenkommend reagieren, wie er es gestern getan hatte.
Immerhin hatte Rúnar etwas gefunden, um die Unbehaglichkeit etwas erträglicher zu machen. Abgesehen von dem vollgepackten Trosssack, den er über der Schulter trug, hielt er in der Hand ein Spielzeug, das er eigentlich für Harald erstanden hatte -- es bestand aus mehreren Perlenketten und Kordeln in welche kleine Schellen eingeflochten waren. Harald hatte das Spielzeug verschmäht als Rúnar damit vor dessen Schnabel herumgewedelt hatte -- der Sittich hatte sogar unhöflicherweise sein Gesicht in Rúnars Haar gesteckt, so wenig wollte er sich gar mit diesem Spielzeug beschäftigen. Und dann war er kreischend emporgeflattert, als Calwah auf Rúnars Schulter gesprungen war und das Spielzeug mit großen Augen angeblinzelt hatte -- und nun immer wieder spielerisch danach schnappte, wenn Rúnar es vor seinem Gesicht baumeln ließ.
Harald hatte es sich derweil auf Taróns Schulter bequem gemacht, was Rúnar so schon reichlich unangenehm war -- nicht per se, aber anhand der aktuellen … Situation -- und dann hatte er wohl auch noch begonnen, Tarón irgendwelche Dinge zuzuflüstern. Was auch immer es war, erstens hoffte Rúnar, dass es nichts Unanständiges war -- bei diesem Vogel wusste man nie -- und zweitens wollte er es gar nicht so genau wissen und beschäftigte sich stattdessen weiter mit Calwah.
Was mit ihm passiert war, fragte Isa dann. Er wunderte sich über sich selbst, dass er es schaffte, weiterhin nonchalant mit dem Spielzeug zu wedeln, als ein Gewitter in seinem Kopf losbrach und er das Gefühl hatte, er würde in seinem Blickfeld kurz Blitze tanzen sehen. Er konzentrierte sich eine Sekunde auf das Spielzeug und das Gewitter klärte sich ein wenig und er wunderte sich abermals -- darüber warum Isa diese Frage erst jetzt stellte, nachdem man die blauen Flecken an seinem Hals schon die ganze Zeit hatte sehen können. (Er hatte abwägen müssen, ob er lieber sofort deswegen gefragt werden wollte, oder ob er sich davor erst noch ein wenig den Spott davon geben wollte, dass die anderen ihn fragen würden, warum er sein zweckentfremdetes Halstuch nicht wie üblich um die Stirn gebunden trug, sondern um den Hals. War keine schwere Entscheidung gewesen.) Andererseits war es auch einfach egal und er war irgendwo erleichtert, dass diese Sache nun aus dem Weg war und sich, nach seiner zurechtkalkulierten Antwort, so auch schön herumsprechen würde, wenn der Rest der Crew mit Isa ins Gespräch kommen sollte. (Nicht, dass er sie als Tratschtante sah. Überhaupt nicht. Es war wohl mehr so, dass er mit seinem Aufzug fast darum bat, deswegen gefragt zu werden.) Und es war ein wenig erbärmlich und schlichtweg traurig, dass er sich mehr Gedanken darum machte, als darüber, dass Tarón so darauf bestand, dass sie darüber den Mund hielten. Das hier war nicht Rúnars Kampf, er hatte diesen schon hinter sich. Und er hatte ihn schmerzlich gewonnen. Und jetzt hatte Tarón ihn, den Invaliden, für seinen eigenen Kampf eingezogen.
(Nein, das stimmte so nicht. Rúnar könnte sich dieser Sache einfach komplett entziehen. So wie Tarón es ohnehin wollte. Das zum einen. Zum anderen war es nicht Taróns Schuld, dass Rúnar Gefühle für ihn hatte und dass Rúnar das Ganze vor allem iniziiert hatte.)
Aber Tarón hatte ja recht. Sie wussten nicht, was passieren würde, falls das rauskam. Rúnar hatte, seit er von zu Hause weg war, zwar kein Geheimnis daraus gemacht, dass er sich auf diese Art nur für Männer interessierte -- aber er ging eben auch nicht damit hausieren. Er war immer dem Anschein gewesen -- und hatte seither auch die Erfahrung gemacht -- dass, je mehr Gesetzlosigkeit irgendwo herrschte, desto weniger scherten sich die Leute auch um andere Dinge. Dann ging es nicht mehr darum, irgendwelche Strukturen aufrecht zu erhalten, ohne darüber nachzudenken, warum sie existieren -- ohne sie jemals in Frage zu stellen. Dann machte man seine eigenen Strukturen, die nicht beinhalteten, wer wessen Tochter heiratete und wer wem einen Erben zeugte. Aber ja, Tarón hatte recht. Und Tarón hatte mehr Dinge in seinem Leben gesehen, um sowas einschätzen zu können. Sie hatten keine Ahnung, wie die Sphinx-Crew -- wie Lucien und Talin -- mit Leuten wie ihm umgingen. Auf welche Bereiche sich ihre Gesetzlosigkeit erstreckte. Und die Erkenntnis versetzte ihm einen Stich. Die Crew war Rúnars Familie. Und die Urangst von seiner Familie verstoßen zu werden war kein Kampf den er gewonnen, sondern den er vermieden hatte.
Rúnar musste sich davon abhalten um Tarón nach Isas Frage nicht anzusehen, tat es dann aber doch und traf auf einen warnenden Blick. Ein Funken Verachtung sprang in seiner Brust auf -- zum einen war ja nicht dumm und zum anderen hielt er sein Wort -- aber er wurde sofort wieder von Haralds Geplapper erstickt. Welches er diesmal verstand. Das war neu. Absurderweise war Rúnar kurz nach Lachen zumute und er kniff die Lippen zusammen, damit es nicht auffiel -- auch wenn Tarón es sicher bemerken würde, aber sollte er sich doch über Rúnar und den Vogel ärgern, dann war Rúnar nicht der einzige, der sich ärgerte. (Und sich dann darüber ärgerte, dass er sich überhaupt ärgerte. Da gab es nichts zu ärgern. Es war besser so -- lieber jetzt seine Gefühle loswerden bevor sie richtig Gestalt annahmen, als später ausgesetzt und zurückgelassen zu werden und wieder allein dazustehen.)
Rúnar riss seinen Blick wieder von Tarón los, doch es zog ihn wieder zurück, als er Haralds protestierendes Zwitschern hörte.
Erneut sprang der Funke in seiner Brust auf, als Tarón von der gestrigen Nacht erzählte. Rúnar schaffte es um Isas Willen seinen Emotionen keinen Ausdruck zu verleihen -- er hielt sich davon ab eine Faust zu ballen oder abermals die Lippen zusammenzukneifen oder die Augen zu verengen. (Oder Tarón in den nächsten Misthaufen zu schubsen.) Trotzdem hoffte er diesmal fast, dass Tarón trotzdem mitbekam, wie wenig amüsant Rúnar das fand. Die ganze Sache geheim halten, schön und gut. Damit konnte er (vielleicht) leben. Aber er hatte wenig Lust dazu auf das Zusatztheater einzusteigen. Er gab Tarón letztendlich ein Lächeln, das so subtil zynisch war, dass er hoffte, dass nur dieser es als solches wahrnehmen würde.
Fast verlor Rúnar das Gleichgewicht als Calwah sich von seiner Schulter abstieß, mit gespannten Flügeln in eine Seitengasse glitt und dann unter Isas kurzer Verblüfftheit und Taróns Beschwerde davonkrabbelte.
Dem Reiter sei Dank, dass er das Schicksal einmal zu Rúnars Gunsten lenkte und sie dieses elendige Gespräch nicht weiterführen mussten. (Allein dies sollte eigentlich schon Grund genug sein, diese kurze Liebschaft mit Tarón zu bereuen. Götter, warum hatte er auch nicht darüber nachgedacht, was das für Konsequenzen haben könnte? Ach, richtig -- er war zu betrunken gewesen. Eine Konsequenz hatte es also jedenfalls sicher: Er würde nie wieder Alkohol trinken.)
Vorlaufen und nachsehen sollte Rúnar also. Schau doch selbst nach deinem Vieh -- aber der Gedanke tat ihm sofort leid. Er hatte einfach zu wenig geschlafen und zu viel Alkohol gehabt und jegliche Bewegung war unangenehm bis schmerzhaft. "Aye", sagte er, rückte den Trosssack zurecht und verzog kurz das Gesicht als das schwere Gepäck eine wunde Stelle an seiner Schulter streifte. (Das hatte er sich selbst zuzuschreiben. Konsequenzen ...)
Rúnar schritt an Isa und Tarón vorbei und blieb dann wieder stehen, spähte weiter nach hinten in die Straße. Fachwerk war nahtlos aneinandergereiht und einige Menschen waren zwischen den Häuserreihen Zugange -- eine Frau fegte die Pflastersteine vor ihrer Haustür, ein alter Mann mit einem Esel, der einen kleinen Karren mit Lavendelbündeln zog, nahm fast die Hälfte der Gasse ein. Calwah war nirgends mehr zu sehen. "Großartig", sagte Rúnar und seufzte.
Doch er hatte fast etwas wie ein Déjà-vu als er dann die Hand, in der er das Spielzeug hatte nach oben hielt und es ein wenig schüttelte, sodass die Perlen und die kleinen Schellen klingelten. Drachenfänger.
Rúnars Blick suchte den Boden ab, doch er sah die Echse nirgendwo herumkriechen. Dann fiel etwas weiter hinten ein kurzer, schriller Schrei, der nach Schreck klang und die junge Frau, von der er ausgegangen war, klammerte sich am Arm ihrer Begleiterin fest und die beiden begannen zu lachen. Vermutlich hatten sie gerade Calwah an sich vorbeirennen sehen.
Das Spielzeug klinkerte nochmal in Rúnars Hand als er in die entsprechende Richtung zeigte und Isa und Tarón einen resignierten Blick zuwarf.
{ Isa und Tarón | (eigentlich) auf dem Weg zurück zum Schiff | Seitenstraße zwischen Marktplatz und Hafen }