06.02.2022, 20:00
„Nur zu, nur zu. Hauptsache, du bringst Geld mit nach Hause, Weib“, witzelte Lucien noch, bevor er sich mit einem spitzbübischen Schmunzeln auf den Lippen selbst durch die dunklen Haare fuhr, um das angenehme Kribbeln auf seiner Kopfhaut zu vertreiben, das ihre kurze Berührung hinterlassen hatte. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder voll und ganz auf die Dächer vor ihnen und die Aufgabe, die sie verfolgten. Seinen Degen behielt er weiter in der Hand, verzichtete darauf, ihn an seinem Gürtel zu befestigen. Im Augenblick störte er ihn bei dieser Kletterpartie sonst nur.
Mit leisen Schritten bewegte er sich über die Ziegel, ließ den Blick immer wieder aufmerksam zum Markt hinunter wandern, an dem er sich orientierte. Nicht zuletzt prüfte er von hier oben, wie viele Wachen vor dem Lager postiert waren, die sie an einer Flucht hindern konnten. Und vielleicht bekam er deshalb nicht mit, was Shanaya einen Augenblick später zu sehen glaubte.
Prompt richtete Lucien seine Aufmerksamkeit auf das Dach, auf das sie deutete. Doch was immer das gewesen war, es war bereits verschwunden. Trotzdem blieb er sicherheitshalber stehen, wandte sich zu seiner Begleiterin um und wisperte: „Ein großer oder ein kleiner Schatten?“ Bestenfalls ein kleiner. Eine Katze, oder soetwas. Denn ein Wachposten hier oben konnte den ganzen Plan zunichte machen, sollten sie es nicht schaffen, ihn leise außer Gefecht zu setzen. In diesem Fall – sollten sie es dann lebend hier raus schaffen – würde er Danté seine verdammte Schmugglerware dorthin schieben, wo die Sonne nie hin schien. Er hatte mir keinem Wort erwähnt, wie schwer dieses Lager bewacht wurde.
Auf Luciens Worte hin bekam der Dunkelhaarige einen beleidigten Blick zugeworfen. Sie machte immerhin nicht ihr ganzes Werkzeug kaputt! Wie gut für ihn, dass er bereits stand! So war er nicht mehr ganz so erreichbar für einen vollkommen böse gemeinten Boxhieb.
Ihr Captain richtete seine Aufmerksamkeit dann auch auf den Ort, an dem sie den Schatten hatte verschwinden sehen, fragte etwas, was der Schwarzhaarigen nur ein unsicheres Schulterzucken entlockte. Er war zu schnell weg gewesen, um wirklich etwas zu erkennen. Sie wollte gerade zu einer zusätzlichen Antwort ansetzen, als eine leise Stimme, ein Singsang, zu ihnen hinüber wehte. Eine einzige, männliche Stimme. Scheinbar in der Vermutung, hier allein zu sein. Shanaya hob automatisch beide Augenbrauen, richtete den blauen Blick zu Lucien herum. „Wenn das eine Wache sein soll… dann ist das eine verdammt schlechte.“ Vielleicht auch einfach ein Zivilist, der… hier auf den Dächern ein wenig Ruhe wollte? Sich seinem Gesang hingeben? „Meinst du, hier kommen irgendwelche Menschen hoch, die einfach allein sein wollen?“ Skepsis lag auf den Zügen der jungen Frau, während sie sich vorsichtig vorwärts bewegte, eine Hand an dem Knauf ihres Degens. Der Singsang, der eigentlich sogar recht angenehm klang, wurde lauter. „Vielleicht möchte uns auch einfach jemand ein Ständchen bringen?“ Ihre Stimme blieb leise, trotzdem warf sie Lucien ein amüsiertes Lächeln zu.
Die Antwort auf seine Frage erhielt der 21-Jährige im ersten Moment nicht von Shanaya, sondern unmittelbar aus den Schatten heraus, in die die Gestalt verschwunden sein musste. Eine einzelne Stimme, ein leiser Singsang, der den Dunkelhaarigen die Stirn runzeln ließ. Im Stillen stimmte er seiner Begleiterin vollkommen zu: Wenn das ein Wachposten war, dann der schlechteste, den er je gesehen – oder in dem Fall gehört hatte. „Oder der gelangweilste“, ergänzte er leise und mit einem deutlichen Hauch Skepsis in der Stimme. Lucien war wieder stehen geblieben, warf der jungen Frau einen Seitenblick zu, als sie sich langsam an ihm vorbei schob und sich auf die fremde Stimme zubewegte. Ihre Worte entlockten ihm ein spöttisches Schmunzeln, doch ihm entging genauso wenig, dass sie die Hand auf ihre Waffe legte und sich bereit machte, denjenigen, wer auch immer dort durch die Dunkelheit schlich, unschädlich zu machen. Noch ohne die eigene Waffe zu ziehen, nickte er ihr kurz zu und bewegte sich dann vorsichtig von ihr fort. Weiter nach rechts, um auf die andere Seite eines breiten Schornsteins zu gelangen, hinter dem er den Verursacher des Singsangs vermutete, und ihn damit in die Zange zu nehmen. Shanaya von links, er von rechts.
Shanaya lächelte bei den Worten ihres Captains, nickte jedoch nur zustimmend, antwortete jedoch nicht, da sie sich schon wieder auf ihr Ziel konzentrierte. Lucien nahm den anderen Weg, sodass die Schwarzhaarige nur einen Blick zurück warf und dann vorwärts schlich. Ein Schornstein bot der jungen Frau einen Platz zum verstecken. Eng an den Stein gelehnt, konnte sie einen Blick auf den Mann werfen. An seinem Hosenbund hing ein kleines Bund Schlüssel, er saß mit einer Flasche an einem anderen Schornstein. Nah genug an der Kante um zu fallen. Ohne zu zögern zog Shanaya ihren Degen von ihrem Gürtel und klopfte damit gegen den Schornstein, an dem sie stand. Etwas verzögert reagierte der Mann auf das Geräusch, blickte sich und und rappelte sich etwas wankend auf. "Wer da?" Etwas unfokussiert blickte er in Shanayas Richtung, zu abgelenkt, um Lucien zu bemerken.
Als er den Schornstein umrundete, verlor er die Schwarzhaarige aus den Augen, machte sich daraus jedoch wenig. Sie war kein hilfloses, ängstliches kleines Mädchen, das zu wimmern begann, wenn er sich in einer gefährlichen Situation außer Sicht bewegte. Gerade Shanaya – als ob. Eher würde sie es allein mit der Wache aufnehmen, gleichgültig ob ein Mann oder fünf. Doch in diesem Moment vertraute er mit aller Selbstverständlichkeit darauf, dass sie wusste, was ihr Captain bezweckte. Dass sie einen Zangenangriff erkannte, wenn er sich anbot, und entsprechend handelte. Seine Deckung gab schließlich den Blick auf einen einzelnen Mann frei, der mit einer Flasche in der Hand an einem zweiten Schornstein lehnte und dessen leichtes Schwanken gefährlich dicht an der Dachkante darauf hindeutete, wie viel dieser Flasche schon in seinem Wanzt gelandet sein musste. Lucien zögerte, blieb zunächst im Schutz der Schatten und wog ab, was für ihre Zwecke wohl hilfreicher wäre: Ihren Gegner unbemerkt unschädlich zu machen, oder ihn als Ablenkung zu nutzen. So oder so wirkte dieser Schlüsselbund an seinem Gürtel ungemein interessant. Von links erklang ein vernehmliches Klingen, als Metall auf Stein traf. Der Betrunkene wandte sich schwerfällig um, taumelte dabei, doch seine Aufmerksamkeit galt den Schatten ein gutes Stück entfernt von Lucien, sodass der sich mit einem leichten Kopfschütteln unbemerkt wieder in Bewegung setzen konnte. ‚Wer da?‘ Hatte auf diese Frage schon jemals ein Einbrecher geantwortet? ‚Ja, hier, ich‘? Bestimmt.
Schnell und so gut wie lautlos huschte der Dunkelhaarige eine Deckung weiter – näher heran an den Wachmann, der einen halben Schritt in Shanayas Richtung machte. Leise bückte er sich, legte den Degen auf die Dachziegel und zog noch im Aufstehen seinen Dolch, während er darauf wartete, dass der Mann noch einen weiteren Schritt vorwärts schwankte. Doch der unebene Boden machte dem Piraten einen Strich durch die Rechnung. Noch bevor er reagieren konnte, trat der Betrunkene ungünstig auf die Kante eines Ziegels, taumelte wie in Zeitlupe zurück, während er mit ungelenk rudernden Armen um sein Gleichgewicht kämpfte. Ein großer Schwung dunkelroten Weines schwappte oben aus dem Flaschenhals, platschte auf die Ziegel, dann trat der Wächter mit einem Fuß ins Leere und kippte rücklings über die Kante des Daches. Für einen Moment spiegelte sich nur verwirrte Überraschung auf seinen Zügen, dann verschwand er aus ihrer beider Blickfeld. Mit einem lauten Rumps schlug der Körper zwei Stockwerke tiefer auf dem Boden auf und eine unheimliche Stille legte sich über den Marktplatz. Dann gellte der Schrei einer jungen Frau zu ihnen hinauf. Lucien verzog das Gesicht. „Verdammt.“
Shanayas Position war nicht besonders vielversprechend für irgendeine Handlung, also wollte sie ihrem Gefährten eine passende Möglichkeit durch Ablenkung bieten. Es funktionierte, der Typ wurde aufmerksam und bewegte sich mit seiner Flasche leicht in ihre Richtung. Shanaya sah Lucien nicht wirklich, was nur dafür sprach, dass er ihrem Plan folgte. Was dann passierte, hätte Shanaya irgendwie erwarten können. Unsinnigerweise machte sie einen Schritt nach vorn, konnte gerade noch den verwirrten Blick des Mannes sehen, ehe sich sein Schicksal besiegelte. Die junge Frau blinzelte, hielt einen Herzschlag inne, ehe sie sich mit vorsichtigen Schritten in Luciens Richtung begegnete. Der Schrei der Frau drang an ihr Ohr, lockte ein amüsiertes Schmunzeln auf die Lippen der Schwarzhaarigen. „Sieh an. Noch eine Möglichkeit für dich, eine Frau zum Schreien zu bringen.“ Sie wirkte durch die ganze Situation nur noch amüsierter, auch wenn da gerade vermutlich eine gute Chance zermatscht auf dem Marktplatz lag. „Pass bloß auf, dass du dem armen Tropf nicht hinterher fällst.“ Ihr Lächeln wurde deutlich wärmer, ernsthaft besorgt, ohne jedoch daran zu glauben, dass Lucien so unaufmerksam war, so nah an die Kante heran zu treten. Kurz blickte die junge Frau zu der Stelle, an der der Mann verschwunden war. „Schade um die Schlüssel, aber wenn hier noch mehr solcher Wachen herum geistern, wird das ein absolutes Kinderspiel.“ Mit einigen, geübten Bewegungen verstaute Shanaya ihren Degen wieder an ihrem Gürtel, ließ die blauen Augen noch kurz lächelnd auf Lucien ruhen, ehe sie sich wieder ihrem Ziel zu wandte, das noch etwas näher gekommen war. Von ihrer Position aus konnte sie nun auch eine Leiter sehen, die zu dem Dach führte, bei dem Lucien ihren Zielort vermutet hatte. Abwartend richtete sie sich also wieder an ihren Captain, bewegte sich langsam in die Richtung des besagten Daches.
Immer noch leise murrend griff er nach seinem Degen und dieses mal befestigte er die Waffe wieder an seinem Gürtel, während er aus seiner Deckung trat. Auf seiner linken Seite tauchte auch Shanaya wieder auf und er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. Ihre Worte entlockten ihm ein spöttisches Schnauben und in den grünen Augen blitzte der Schalk auf. „So gern ich dieses auch Kompliment annehmen möchte,“ erwiderte er und hob dabei beide Hände in einer Geste der Unschuld an. Wobei er in der Linken noch immer den Dolch hielt, der seinen folgenden Worten einen Hauch ihrer Glaubwürdigkeit nahm. „Dieses Mal war das nicht mein Verdienst.“
Lucien ließ die Arme sinken, sah ein letztes Mal zu der Kante, an der ihr betrunkener Freund verschwunden war, beging jedoch nicht den Fehler, näher heran zu gehen. Zum einen war der Untergrund auch halbwegs nüchtern noch trügerisch, zum anderen würde man ihn von unten sehen können, wenn nur ein Schaulustiger den Blick nach oben wendete. „Hoffen wir, dass sie seinen Tod als Unfall abtun und nicht jeden ihrer versoffenen Schläger in Alarmbereitschaft versetzen. Den Wein hat er ja glücklicherweise mit nach unten genommen – reicht ihnen vielleicht als Beweis.“ Er schob den Dolch zurück in dessen Scheide und sah erneut zu Shanaya hinüber, deren Blick bereits zu dem Dach der Lagerhalle wanderte, die ihr Ziel war. Ein Schmunzeln huschte über seine Lippen. „Wir sollten uns trotzdem beeilen. Wenn sie Ersatz schicken, hätte ich unsere hübschen Hintern gern schon nach unten ins Lager verfrachtet.“ Wie um seine Worte damit zu untermalen, versetzte er der Schwarzhaarigen mit der flachen Hand einen Klaps auf den Hintern, kaum dass sie auf seiner Höhe war und sie sich beide wieder ihrem Ziel zuwandten. Mit einem frechen Grinsen nickte er zu der Leiter und ließ ihr damit den Vortritt.
Ein Problem hatte sich von allein erledigt, blieb die Frage, was noch auf sie zu kommen würde. Shanaya machte sich darüber jedoch keine riesigen Gedanken, es war ihr schlicht egal. Lucien Unschuldsbekundung ließ die junge Frau lächeln, ihm einen vielsagenden Blick zuwerfen. Auf seine nächsten Worte hin nickte die junge Frau zustimmend und tat es dem Dunkelhaarigen gleich, warf einen kurzen Blick nach unten. "Ich finde das sehr überzeugend..." was dann folgte, entlockte Shanaya ein breites Grinsen, ehe sie ergeben den Kopf neigte - und kam nächsten Moment einen Klaps auf den Hintern bekam. Er konnte es wirklich nicht lassen. Genau wie sie! "Erst begrabscht du mich und jetzt schickst du mich noch vor, die Aussicht zu genießen..." Wissend ruhten Die Blauen Augen auf Lucien, ohne Umwände legte sie jedoch die Hand an die Sprossen und begann mit dem Aufstieg. Vorsichtig, ohne Eile, streckte sie oben angekommen den Kopf etwas hoch, raunte dann ein leises "Sieht alles frei aus..." Noch ein prüfender Blick, ehe sie sich auf das nächste Dach zog. Weiterhin aufmerksam blieb Shanaya jedoch in der Hocke, achtete auf jede mögliche Bewegung.
Mit diesem für ihn so typischen Kleinjungengrinsen erwiderte er ihren wissenden Blick vollkommen ungerührt. „Ganz genau das war meine Absicht“, gab er genauso unverblümt zu und da Shanaya nichtsdestotrotz nach der untersten Sprosse der Leiter griff, wertete Lucien das durchaus als Zustimmung. Während sie ihren entzückenden Körper also nach oben verfrachtete, genoss er den Ausblick auf ihren wohlgeformten Hintern. Und erst, als sie versicherte, dass die Luft rein war, kehrte seine Aufmerksamkeit zu ihrer Aufgabe zurück. „Na dann hoch mit dir.“ Leiser, diesmal, aber noch immer amüsiert, spornte er sie an und als die Schwarzhaarige über die Kante zum nächsten Dach verschwand, griff Lucien ebenfalls nach der Leiter, um ihr zu folgen.
Oben angekommen warf er einen kurzen Blick über die Schulter, versicherte sich, dass ihnen niemand folgte. Dann wandte er sich um und verschaffte sich einen Überblick von dem Dach, auf dem sie sich nun befanden. Ein Flachdach, wie erwartet. Nur in der Mitte erhob sich noch ein kleinerer Aufbau, der aus nichts als Fenstern bestand und sich von einem Ende des Gebäudes bis zum anderen erstreckte. Mit einem Nicken wies er hinüber. „Lass uns nachsehen, ob eins der Fenster offen ist. Vielleicht kommen wir irgendwie nach unten, ohne bemerkt zu werden.“
Shanaya lächelte mit einem sachten Schütteln ihres Kopfes über die Worte des Mannes, während sie die Leiter empor kletterte. Was so etwas anging war er einfach zu durchschauen - sie allerdings auch, das war kein Geheimnis. Trotz allem verlor sie nicht ihre Umgebung aus den Augen, ließ den blauen Blick schweifen, bis Lucien neben ihr auftauchte. Seinem Blick folgend, wandte die junge Frau den Kopf zu dem Glasdach. "Himmel, ist das alles aufregend. Ich schlafe heute Nacht entweder gar nicht oder wie ein Stein." Ihre Worte wurden von einem leichten Lachen untermalt, ehe sie sich in Richtung Glasdach aufmachte. An den ersten paar Scheiben ging sie vorbei, warf einen Blick durch die teilweise ziemlich dreckigen Gläser. Irgendetwas erkannte man am Boden der Halle, jedoch nicht, was genau. Mit etwas Abstand zu den Fenstern blieb sie stehen, ließ den Blick schweifen. "Ich sehe kein offenes Fenster... aber die sehen nicht sonderlich stabil gebaut aus." Damit zog die Schwarzhaarige ihren Dolch, trat an ein willkürliche Fenster heran und schob mit ein paar ruckelnden Bewegungen die Klinge in den Spalt, den Blick dann zu ihrem Begleiter wendend. "Wir müssen nur eins finden, bei dem wir gut nach unten kommen..."
Shanayas Antwort holte das freche Grinsen zurück auf seine Lippen. „Wenn du nicht schlafen kannst, helfe ich dir gern dabei, dir die Zeit bis zum Morgen zu vertreiben“, antwortete er gelassen. Er konnte schlicht und ergreifend nicht anders. Wenn sie ihm eine solche Vorlage bot, musste er sie einfach nutzen. In diesem Sinne war er wirklich mehr als berechenbar und was das Thema Sex anging auch einfach gestrickt. Sie konnte sich jetzt also selbst zusammenreimen, ob das nur lose dahingesagt oder doch sein voller Ernst gewesen war. Wozu sich auch verstellen? Im Moment jedoch konzentrierte er sich mehr auf ihre Aufgabe, folgte der Schwarzhaarigen deshalb zu den Fenstern und während sie an den ersten vorbei ging und eines suchte, das offen stand, warf er einen Blick durch die trübe Scheibe ins Innere des Gebäudes, um herauszufinden, womit sie es vielleicht zu tun hatten. Irgendwo am Boden erahnte er eine Gestalt, die hinter ein paar großen Schatten – Kisten vermutlich – verschwand, doch das Glas war zu dreckig, um viel mehr zu erkennen. „Dafür müsste man nur irgendetwas da drinnen erkennen können“, antwortete er auf die Idee seiner Begleiterin, die sich bereits mit dem Dolch an einem der Schlösser zu schaffen machte.
Er sah nicht zu ihr hinüber, sondern ging vor einem der Fenster in die Hocke, sammelte für einen Moment den Speichel in seinem Mund und spuckte ihn im Anschluss aufs Glas, um mit dem Ärmel seines Hemdes den seit Jahren angesammelten Dreck wegzuwischen. Es entstand ein schlieriges Oval auf der Scheibe, durch das er einen halbwegs ungetrübten Blick nach unten werfen konnte. Das erste, was er sah, war ein gewaltiger Haufen ordentlich aufgestapelter Säcke im hinteren Drittel des Gebäudes. Mehl vielleicht, Getreide... oder eben Kaffee – wobei das bei der Menge eher unwahrscheinlich war. Nach vorn zum Markt führte ein geschlossenes Tor, aber auch auf der gegenüberliegenden Gebäudeseite führte ein geschlossenes Tor nach draußen. Allerdings versperrten ihm einige große Kistenstapel den direkten Blick auf diesen Teil der Halle. Dafür bemerkte er die Galerie, die auf Höhe der ersten Etage einmal um das gesamte Lager führte. Auf der Marktseite führte sie an der Tür zu einem separaten Raum vorbei, vielleicht eine Art Büro. „Hier gibt es eine Galerie, die wir erreichen können. Die Fenster dort hinten müssten genau darüber liegen.“ Er wies auf die Fenster an der marktabgewandten Gebäudeseite. „Allerdings weiß ich nicht, wie leise wir da runter kommen. Mindestens einen Wachmann hab ich gesehen.“
Das war eine Steilvorlage gewesen, das musste Shanaya zugeben. Vielleicht hatte sie das auch ein wenig beabsichtigt. Ein vielsagenden Lächeln war dem Dunkelhaarigen sicher, genau wie ein Zwinkernin seine Richtung. "Darauf komme ich bestimmt gern zurück." Bis dahin würde jedoch sicher einiges an Zeit verstreichen, immerhin waren sie sich auch da einig - ihre Aufgabe stand gerade über jedweden Gelüsten. Auxh wenn sie das zwischendurch doch etwas schade fand, aber so war es eben. Sie lauschte den Worten des Mannes, reagierte jedoch nicht groß darauf, da er sich schon zum nächsten Fenster aufmachte, sich ein wenig bessere Sicht verschaffte. Als er sich dann wieder an sie wandte, richtete Shanaya den Blick zu ihm, zog ihren Dolch wieder hervor und trat zu ihrem Captain. "Siehst du auch etwas, wie wir wieder raus kommen?" Sie lehnte sich etwas vor, stützte sich mit den Händen auf die Schultern des Mannes und versuchte, an ihm vorbei zu spähen. "Wenn der so ist, wie der eben ..." sie lachte leise, wog den Kopf etwas zur Seite. "Irgendeine Idee?"
Ihre Schritte verrieten ihm, dass Shanaya zu ihm kam, kurz bevor sie sich auf seinen Schultern abstützte, um ebenfalls einen Blick durch das Fenster zu erhaschen. Für einen Moment wandte er den Kopf leicht zu ihr herum, warf ihr einen amüsierten Blick zu. „Schön wär’s, aber ich befürchte, da unten sind sie etwas aufmerksamer.“ Wieder kehrte seine Aufmerksamkeit zu dem Fenster zurück und er deutete durch die Scheibe hindurch wage auf die hintere Gebäudeseite. „Ich glaube, da hinten befindet sich ein ähnliches Tor, wie vorne zum Markt raus. Vermutlich für größere Lieferungen, die man dann nicht quer durch die engen Gassen karren muss. Und bei unserem Glück ist es abgeschlossen und der Kerl, der gerade vom Dach gefallen ist, hatte einen der Schlüssel.“ Ein leises, spöttisches Schnauben folgte diesen Worten, das allerdings alles andere als frustriert, sondern hauptsächlich amüsiert klang. „Vielleicht hat der, der da unten rumläuft, noch einen Schlüssel – oder wir müssen es irgendwie anders aufkriegen. Jedenfalls wäre das am ehesten der Weg, den ich nehmen würde, um zu verschwinden.“ Blieb zu hoffen, dass Danté wenigstens in einem Punkt recht hatte: Sie hatten vor, den Kaffee heute Nacht wegzuschaffen. Und zwar in einem Karren mit einem Gaul vorne dran. Woher auch immer er diese Information hatte. Klang jedenfalls verdächtig nach einem Insider. „Also schön... wie wäre es damit. Ich lasse dich runter auf die Galerie und du schaust nach, ob das Tor nach hinten raus offen ist. Wenn ja, musst du nur noch den Wagen mit dem Kaffee finden und gibst mir ein Zeichen. Dann springe ich runter, stoße zu dir und wir machen uns vom Acker. Meinst du, das kriegst du hin?“ Und unwillkürlich schlich sich ein Schmunzeln auf seine Lippen, als er erneut zu Shanaya aufsah. Klang eigentlich einfach. Und ziemlich löchrig. Würde schon schief gehen.
Auf Luciens Worte hin schnaufte Shanaya nur leise, zuckte ergeben mit den Schultern, ließ den Blick dann weiter an ihm vorbei zu dem kleinen ‚sauberen‘ Loch im Fenster schweifen. Seinem Deuten folgend hob die Schwarzhaarige eine Augenbraue, nickte dann aber verstehend, musste dann aber auch über ihren betrunkenen, inzwischen wahrscheinlich sehr toten, Freund schmunzeln. „Vielleicht erfreut sich jetzt jemand anderes am Zugang zu einer Schmugglerhalle.“ Shanaya lehnte sich noch ein wenig weiter vor, versuchte noch etwas mehr von der Halle zu erkennen. Lucien äußerte eine Idee und Shanaya lauschte bis zum letzten Wort – für das Lucien nun jedoch mit geballter Faust einen Stoß gegen den Kopf bekam. „Provozier mich nicht, wenn es ganz dumm für dich läuft, habe ich dein Leben in der Hand! Du weißt aber, dass ich erst 17 bin und damit vollkommen schwach und hilflos bin, wenn irgendjemand mich überrascht?“ Ein Lachen schwang in ihrer Stimme mit. „Klingt zumindest, als könnte das klappen. Ansonsten bin ich Meisterin im Improvisieren.“ Damit legte sie kurz die Arme um den Körper des Mannes, legte das Kinn auf seinem Kopf ab und flüsterte ganz leise. „Aber wenn du ganz lieb bist, besorge ich dir natürlich deinen Kaffee.“ Wieder ein warmes Lachen, ehe sie sich wieder voll aufrichtete, kurz die Arme in die Luft reckte. „Dann lass uns loslegen!“
„Oder dieser Jemand steht dort unten vor dem Tor und wartet nur darauf, dass wir uns den Schlüssel abholen, weil er nicht weiß, wofür er sein könnte.“ Ein Grinsen lag in Luciens Stimme, als er kurz durch das halbwegs saubere Oval in der Scheibe zu dem Hallentor auf der Marktseite lugte. Dann warf er erneut einen Blick über die Schulter zu seiner Begleiterin und in den tiefgrünen Augen blitzte der altbekannte Schalk auf. „Oh, also im Gegensatz zu dir da unten bin ich hier oben mehr oder weniger in Sicherheit. Es wird für mich bestimmt leichter, über die Dächer abzuhauen, als für dich, aus der Lagerhalle zu entkommen. Also wer hat hier wessen Leben in der Hand? Und dann bin ich auch noch so ein Unhold und schicke dich armes, hilfloses, kleines Mädchen mitten in die Höhle des Löwen.“ Die Art, wie er seine Tonlage übertrieb und dem Gesagten einen Hauch Melodrama verlieh, sagte schon genug darüber, wie ernst er diese Worte nahm. Wenn nicht, dann tat es sein Nachsatz: „Ich hoffe nur, die da unten denken genauso. Gegner, die dich unterschätzen, lassen sich noch schneller besiegen.“ Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da legte sie die Arme um ihn und den Kinn auf sein Kopf. Lucien ließ es geschehen, schmunzelte halb amüsiert, halb mit sanfter Zuneigung auf den jungen Zügen. „Ich werde mich hinterher angemessen erkenntlich zeigen, kleine Sirene. Du hast mein Wort.“ Damit ließ sie ihn los und er nickte bestätigend, bevor er sich erhob und aufmerksam durch die trüben Scheiben schauend zu dem Fenster hinüber ging, unter dem die Galerie lag. Zog nun seinerseits seinen Dolch und rammte die Klinge in den Schlitz zwischen Zarge und Fensterrahmen, um vorsichtig und so leise wie möglich den Verschluss aufzubrechen. Er knirschte kurz vernehmlich, gab dann ein leises, ungesundes Klicken von sich und ließ sich schließlich öffnen. Lucien zog das Fenster auf, vorsichtig, und ließ den Blick dabei wachsam durch das Innere der Halle schweifen, bevor er zu Shanaya aufsah und sie zu sich winkte. „Kletter durch. Wenn du frei hängst, greifst du nach meiner Hand und ich lasse dich so weit runter, wie ich kann. Den Rest musst du dich fallen lassen. Kann sein, dass das da drinnen jemand hört, also sei vorsichtig, in Ordnung?“ Ein sachtes Lächeln huschte über seine Lippen, dass aber nicht verbarg, wie ernst er seine Bitte meinte.
Die Worte ihres Captains brachten Shanaya auch im Nachhinein zum Lächeln, womit sie leicht den Kopf schief legte und ein deutliches Funkeln in ihren Augen erschien. „Sie wissen ja nichts von der wirklichen Löwin, die auf dem Weg zu ihnen ist.“ Beinahe unschuldig zuckte sie mit den Schultern, zwinkerte ihm dann bei seinem Versprechen zu. „Ich hoffe doch. Immerhin bringe ich mein Leben für dich in Gefahr!“ Sie lachte noch einmal, hob in einer Geste, die klar machte, dass sie überdramatisierte, die Hand an ihre Stirn.
Lucien machte sich daran, das Fenster aufzuknacken, während Shanaya prüfend den Blick schweifen ließ. Vielleicht hatten sie sie längst bemerkt, und sie war in der Halle doch sicherer als der Dunkelhaarige auf dem Dach? Sie hoffte es nicht, klopfte ihm nur noch einmal auf die Schulter, machte sich dann bereit für eine kleine Kletter und Sturzpartie. „Versprochen.“ Nun hatte ihre Stimme wieder einen sanfteren Ton angenommen und sie machte sich daran, durch das Fenster zu klettern. Jede Bewegung langsam, ein Absturz hätte mehr als schmerzhaft enden können, wenn sie falsch aufkam. Stück für Stück schob sie sich vor, prüfte und umklammerte schließlich, was ihr Halt gab. Ihr Herz schlug mittlerweile in einem schnelleren Takt, der sich auch nicht beruhigte, als sie nach Luciens Händen griff, die sie noch ein Stück weiter nach unten ließen. Als klar war, dass er tiefer nicht kommen würde, nickte Shanaya ihm nur stumm zu, ein euphorisches Lächeln auf den Lippen. Gott, sie lebte für solche Momente. Ihr Captain ließ sie los und sofort stellte sich ein Schalter in ihrem Gehirn um. Jetzt gab es nur noch sie und diese Halle.
Mit einem dumpfen Geräusch kam Shanaya auf dem Boden der Galerie auf, duckte sich im nächsten Moment und ließ den blauen Blick durch die Halle schweifen. Einige Sekunden wartete sie, es blieb jedoch alles still. Sie stand auf, lauschte weiter auf die Umgebung und setzte sich in Bewegung, ohne noch einmal zu Lucien zurück zu blicken. Also diese Wachen in dieser Halle waren wirklich… vielleicht waren sie alle betrunken. Die junge Frau erreichte die Treppe, bewegte sich mit ruhigen Schritten nach unten, darauf bedacht, auch hier keine unnötigen Geräusche zu verursachen. Wieder festen Boden unter den Füßen blieb sie kurz stehen, erspähte eine Bewegung hinter einem der Kistenstapel. Nur kurz überlegte die Dunkelhaarige, ehe sie die Schlaufe ihrer Bluse öffnete, um sich dann hinter einem Stapel in ihrer Nähe zu verbergen. Es dauerte nicht lang, bis der Mann hinter den Kisten hervor trat – an seinem Hosenbund zwei zusammen geschnallte Schlüssel. Aber auch, wenn sie noch einige Momente wartete, keine weitere Person tauchte auf und der Mann schien auch keinerlei Anstalten zu machen, mit jemandem zu sprechen. Shanaya atmete tief durch, schloss einige Herzschläge die Augen und trat dann aus ihrem Versteck, den blauen Blick direkt auf den Mann gerichtet, der augenblicklich an seine Hose griff, an der ein Degen baumelte. Sofort hob die Schwarzhaarige eine Hand, legte sich einen Finger über die Lippen und setzte die unschuldigste Miene auf, die sie hervor bringen konnte. „Schhh, bitte, die töten mich doch sofort! Ich… habe mich hierher verlaufen. Ich bin ganz allein und habe schrecklichen Durst… Könntest du mir etwas Wasser besorgen?“ Shanaya machte ganz große, hilflose Augen, spielte an der Kordel ihrer Bluse, drehte sie zwischen den Fingern und ließ den Kopf ein wenig hängen. Der Mann brummte ein leises „Komm mit“ und wandte sich ab. Er schien nicht wirklich begeistert, aber… immerhin hatte er sie nicht sofort verraten.
Er trottete davon und Shanaya folgte ihm, die Hand bereits an ihrem Dolch. Er verschwand auf der einen Seite, Shanayas Schritte brachten sie jedoch auf die andere Seite – zu ihrem Glück. Der Mann hatte seinen Degen gezogen, lauerte auf sie und rechnete nicht damit, dass sie auf der anderen Seite auftauchte. Als er sie hinter sich bemerkte, bohrte sich schon die Klinge in seinen Hals, bescherte ihm einen schnellen, lautlosen Tod. Und versteckt, sollte noch eine andere Wache in nächster Zeit hier vorbei kommen. Die Klinge war schnell am Hemd des Mannes abgeputzt, der Schlüssel landete in Shanayas Hand, nachdem die Klinge verstaut war. Nun trat sie, mit zuvor prüfendem Blick hinter den Kisten hervor, reckte die Eroberung in die Luft, um Lucien hiermit schon einmal ein Zeichen zu geben. Nur kurz, dann wandte sie sich wieder einem der Fenster zu, die immerhin etwas sauberer waren als das Dach. Ganz dumpf hörte sie Stimmen, jedoch nicht, wie viele. Die Tür ließ sie erst einmal geschlossen, sie wollte keine schlafenden Hunde wecken. Aus ihrem Winkel konnte die junge Frau jedoch etwas erkennen, was nach einem Karren aussah. Ob ein Tier davor gespannt war… möglicherweise. Noch einmal hob sie also die Hand, winkte in Luciens Richtung. Sie musste so oder so warten, trat also einen halben Schritt zurück, um vielleicht noch etwas mehr sehen zu können.
Mit leisen Schritten bewegte er sich über die Ziegel, ließ den Blick immer wieder aufmerksam zum Markt hinunter wandern, an dem er sich orientierte. Nicht zuletzt prüfte er von hier oben, wie viele Wachen vor dem Lager postiert waren, die sie an einer Flucht hindern konnten. Und vielleicht bekam er deshalb nicht mit, was Shanaya einen Augenblick später zu sehen glaubte.
Prompt richtete Lucien seine Aufmerksamkeit auf das Dach, auf das sie deutete. Doch was immer das gewesen war, es war bereits verschwunden. Trotzdem blieb er sicherheitshalber stehen, wandte sich zu seiner Begleiterin um und wisperte: „Ein großer oder ein kleiner Schatten?“ Bestenfalls ein kleiner. Eine Katze, oder soetwas. Denn ein Wachposten hier oben konnte den ganzen Plan zunichte machen, sollten sie es nicht schaffen, ihn leise außer Gefecht zu setzen. In diesem Fall – sollten sie es dann lebend hier raus schaffen – würde er Danté seine verdammte Schmugglerware dorthin schieben, wo die Sonne nie hin schien. Er hatte mir keinem Wort erwähnt, wie schwer dieses Lager bewacht wurde.
Auf Luciens Worte hin bekam der Dunkelhaarige einen beleidigten Blick zugeworfen. Sie machte immerhin nicht ihr ganzes Werkzeug kaputt! Wie gut für ihn, dass er bereits stand! So war er nicht mehr ganz so erreichbar für einen vollkommen böse gemeinten Boxhieb.
Ihr Captain richtete seine Aufmerksamkeit dann auch auf den Ort, an dem sie den Schatten hatte verschwinden sehen, fragte etwas, was der Schwarzhaarigen nur ein unsicheres Schulterzucken entlockte. Er war zu schnell weg gewesen, um wirklich etwas zu erkennen. Sie wollte gerade zu einer zusätzlichen Antwort ansetzen, als eine leise Stimme, ein Singsang, zu ihnen hinüber wehte. Eine einzige, männliche Stimme. Scheinbar in der Vermutung, hier allein zu sein. Shanaya hob automatisch beide Augenbrauen, richtete den blauen Blick zu Lucien herum. „Wenn das eine Wache sein soll… dann ist das eine verdammt schlechte.“ Vielleicht auch einfach ein Zivilist, der… hier auf den Dächern ein wenig Ruhe wollte? Sich seinem Gesang hingeben? „Meinst du, hier kommen irgendwelche Menschen hoch, die einfach allein sein wollen?“ Skepsis lag auf den Zügen der jungen Frau, während sie sich vorsichtig vorwärts bewegte, eine Hand an dem Knauf ihres Degens. Der Singsang, der eigentlich sogar recht angenehm klang, wurde lauter. „Vielleicht möchte uns auch einfach jemand ein Ständchen bringen?“ Ihre Stimme blieb leise, trotzdem warf sie Lucien ein amüsiertes Lächeln zu.
Die Antwort auf seine Frage erhielt der 21-Jährige im ersten Moment nicht von Shanaya, sondern unmittelbar aus den Schatten heraus, in die die Gestalt verschwunden sein musste. Eine einzelne Stimme, ein leiser Singsang, der den Dunkelhaarigen die Stirn runzeln ließ. Im Stillen stimmte er seiner Begleiterin vollkommen zu: Wenn das ein Wachposten war, dann der schlechteste, den er je gesehen – oder in dem Fall gehört hatte. „Oder der gelangweilste“, ergänzte er leise und mit einem deutlichen Hauch Skepsis in der Stimme. Lucien war wieder stehen geblieben, warf der jungen Frau einen Seitenblick zu, als sie sich langsam an ihm vorbei schob und sich auf die fremde Stimme zubewegte. Ihre Worte entlockten ihm ein spöttisches Schmunzeln, doch ihm entging genauso wenig, dass sie die Hand auf ihre Waffe legte und sich bereit machte, denjenigen, wer auch immer dort durch die Dunkelheit schlich, unschädlich zu machen. Noch ohne die eigene Waffe zu ziehen, nickte er ihr kurz zu und bewegte sich dann vorsichtig von ihr fort. Weiter nach rechts, um auf die andere Seite eines breiten Schornsteins zu gelangen, hinter dem er den Verursacher des Singsangs vermutete, und ihn damit in die Zange zu nehmen. Shanaya von links, er von rechts.
Shanaya lächelte bei den Worten ihres Captains, nickte jedoch nur zustimmend, antwortete jedoch nicht, da sie sich schon wieder auf ihr Ziel konzentrierte. Lucien nahm den anderen Weg, sodass die Schwarzhaarige nur einen Blick zurück warf und dann vorwärts schlich. Ein Schornstein bot der jungen Frau einen Platz zum verstecken. Eng an den Stein gelehnt, konnte sie einen Blick auf den Mann werfen. An seinem Hosenbund hing ein kleines Bund Schlüssel, er saß mit einer Flasche an einem anderen Schornstein. Nah genug an der Kante um zu fallen. Ohne zu zögern zog Shanaya ihren Degen von ihrem Gürtel und klopfte damit gegen den Schornstein, an dem sie stand. Etwas verzögert reagierte der Mann auf das Geräusch, blickte sich und und rappelte sich etwas wankend auf. "Wer da?" Etwas unfokussiert blickte er in Shanayas Richtung, zu abgelenkt, um Lucien zu bemerken.
Als er den Schornstein umrundete, verlor er die Schwarzhaarige aus den Augen, machte sich daraus jedoch wenig. Sie war kein hilfloses, ängstliches kleines Mädchen, das zu wimmern begann, wenn er sich in einer gefährlichen Situation außer Sicht bewegte. Gerade Shanaya – als ob. Eher würde sie es allein mit der Wache aufnehmen, gleichgültig ob ein Mann oder fünf. Doch in diesem Moment vertraute er mit aller Selbstverständlichkeit darauf, dass sie wusste, was ihr Captain bezweckte. Dass sie einen Zangenangriff erkannte, wenn er sich anbot, und entsprechend handelte. Seine Deckung gab schließlich den Blick auf einen einzelnen Mann frei, der mit einer Flasche in der Hand an einem zweiten Schornstein lehnte und dessen leichtes Schwanken gefährlich dicht an der Dachkante darauf hindeutete, wie viel dieser Flasche schon in seinem Wanzt gelandet sein musste. Lucien zögerte, blieb zunächst im Schutz der Schatten und wog ab, was für ihre Zwecke wohl hilfreicher wäre: Ihren Gegner unbemerkt unschädlich zu machen, oder ihn als Ablenkung zu nutzen. So oder so wirkte dieser Schlüsselbund an seinem Gürtel ungemein interessant. Von links erklang ein vernehmliches Klingen, als Metall auf Stein traf. Der Betrunkene wandte sich schwerfällig um, taumelte dabei, doch seine Aufmerksamkeit galt den Schatten ein gutes Stück entfernt von Lucien, sodass der sich mit einem leichten Kopfschütteln unbemerkt wieder in Bewegung setzen konnte. ‚Wer da?‘ Hatte auf diese Frage schon jemals ein Einbrecher geantwortet? ‚Ja, hier, ich‘? Bestimmt.
Schnell und so gut wie lautlos huschte der Dunkelhaarige eine Deckung weiter – näher heran an den Wachmann, der einen halben Schritt in Shanayas Richtung machte. Leise bückte er sich, legte den Degen auf die Dachziegel und zog noch im Aufstehen seinen Dolch, während er darauf wartete, dass der Mann noch einen weiteren Schritt vorwärts schwankte. Doch der unebene Boden machte dem Piraten einen Strich durch die Rechnung. Noch bevor er reagieren konnte, trat der Betrunkene ungünstig auf die Kante eines Ziegels, taumelte wie in Zeitlupe zurück, während er mit ungelenk rudernden Armen um sein Gleichgewicht kämpfte. Ein großer Schwung dunkelroten Weines schwappte oben aus dem Flaschenhals, platschte auf die Ziegel, dann trat der Wächter mit einem Fuß ins Leere und kippte rücklings über die Kante des Daches. Für einen Moment spiegelte sich nur verwirrte Überraschung auf seinen Zügen, dann verschwand er aus ihrer beider Blickfeld. Mit einem lauten Rumps schlug der Körper zwei Stockwerke tiefer auf dem Boden auf und eine unheimliche Stille legte sich über den Marktplatz. Dann gellte der Schrei einer jungen Frau zu ihnen hinauf. Lucien verzog das Gesicht. „Verdammt.“
Shanayas Position war nicht besonders vielversprechend für irgendeine Handlung, also wollte sie ihrem Gefährten eine passende Möglichkeit durch Ablenkung bieten. Es funktionierte, der Typ wurde aufmerksam und bewegte sich mit seiner Flasche leicht in ihre Richtung. Shanaya sah Lucien nicht wirklich, was nur dafür sprach, dass er ihrem Plan folgte. Was dann passierte, hätte Shanaya irgendwie erwarten können. Unsinnigerweise machte sie einen Schritt nach vorn, konnte gerade noch den verwirrten Blick des Mannes sehen, ehe sich sein Schicksal besiegelte. Die junge Frau blinzelte, hielt einen Herzschlag inne, ehe sie sich mit vorsichtigen Schritten in Luciens Richtung begegnete. Der Schrei der Frau drang an ihr Ohr, lockte ein amüsiertes Schmunzeln auf die Lippen der Schwarzhaarigen. „Sieh an. Noch eine Möglichkeit für dich, eine Frau zum Schreien zu bringen.“ Sie wirkte durch die ganze Situation nur noch amüsierter, auch wenn da gerade vermutlich eine gute Chance zermatscht auf dem Marktplatz lag. „Pass bloß auf, dass du dem armen Tropf nicht hinterher fällst.“ Ihr Lächeln wurde deutlich wärmer, ernsthaft besorgt, ohne jedoch daran zu glauben, dass Lucien so unaufmerksam war, so nah an die Kante heran zu treten. Kurz blickte die junge Frau zu der Stelle, an der der Mann verschwunden war. „Schade um die Schlüssel, aber wenn hier noch mehr solcher Wachen herum geistern, wird das ein absolutes Kinderspiel.“ Mit einigen, geübten Bewegungen verstaute Shanaya ihren Degen wieder an ihrem Gürtel, ließ die blauen Augen noch kurz lächelnd auf Lucien ruhen, ehe sie sich wieder ihrem Ziel zu wandte, das noch etwas näher gekommen war. Von ihrer Position aus konnte sie nun auch eine Leiter sehen, die zu dem Dach führte, bei dem Lucien ihren Zielort vermutet hatte. Abwartend richtete sie sich also wieder an ihren Captain, bewegte sich langsam in die Richtung des besagten Daches.
Immer noch leise murrend griff er nach seinem Degen und dieses mal befestigte er die Waffe wieder an seinem Gürtel, während er aus seiner Deckung trat. Auf seiner linken Seite tauchte auch Shanaya wieder auf und er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. Ihre Worte entlockten ihm ein spöttisches Schnauben und in den grünen Augen blitzte der Schalk auf. „So gern ich dieses auch Kompliment annehmen möchte,“ erwiderte er und hob dabei beide Hände in einer Geste der Unschuld an. Wobei er in der Linken noch immer den Dolch hielt, der seinen folgenden Worten einen Hauch ihrer Glaubwürdigkeit nahm. „Dieses Mal war das nicht mein Verdienst.“
Lucien ließ die Arme sinken, sah ein letztes Mal zu der Kante, an der ihr betrunkener Freund verschwunden war, beging jedoch nicht den Fehler, näher heran zu gehen. Zum einen war der Untergrund auch halbwegs nüchtern noch trügerisch, zum anderen würde man ihn von unten sehen können, wenn nur ein Schaulustiger den Blick nach oben wendete. „Hoffen wir, dass sie seinen Tod als Unfall abtun und nicht jeden ihrer versoffenen Schläger in Alarmbereitschaft versetzen. Den Wein hat er ja glücklicherweise mit nach unten genommen – reicht ihnen vielleicht als Beweis.“ Er schob den Dolch zurück in dessen Scheide und sah erneut zu Shanaya hinüber, deren Blick bereits zu dem Dach der Lagerhalle wanderte, die ihr Ziel war. Ein Schmunzeln huschte über seine Lippen. „Wir sollten uns trotzdem beeilen. Wenn sie Ersatz schicken, hätte ich unsere hübschen Hintern gern schon nach unten ins Lager verfrachtet.“ Wie um seine Worte damit zu untermalen, versetzte er der Schwarzhaarigen mit der flachen Hand einen Klaps auf den Hintern, kaum dass sie auf seiner Höhe war und sie sich beide wieder ihrem Ziel zuwandten. Mit einem frechen Grinsen nickte er zu der Leiter und ließ ihr damit den Vortritt.
Ein Problem hatte sich von allein erledigt, blieb die Frage, was noch auf sie zu kommen würde. Shanaya machte sich darüber jedoch keine riesigen Gedanken, es war ihr schlicht egal. Lucien Unschuldsbekundung ließ die junge Frau lächeln, ihm einen vielsagenden Blick zuwerfen. Auf seine nächsten Worte hin nickte die junge Frau zustimmend und tat es dem Dunkelhaarigen gleich, warf einen kurzen Blick nach unten. "Ich finde das sehr überzeugend..." was dann folgte, entlockte Shanaya ein breites Grinsen, ehe sie ergeben den Kopf neigte - und kam nächsten Moment einen Klaps auf den Hintern bekam. Er konnte es wirklich nicht lassen. Genau wie sie! "Erst begrabscht du mich und jetzt schickst du mich noch vor, die Aussicht zu genießen..." Wissend ruhten Die Blauen Augen auf Lucien, ohne Umwände legte sie jedoch die Hand an die Sprossen und begann mit dem Aufstieg. Vorsichtig, ohne Eile, streckte sie oben angekommen den Kopf etwas hoch, raunte dann ein leises "Sieht alles frei aus..." Noch ein prüfender Blick, ehe sie sich auf das nächste Dach zog. Weiterhin aufmerksam blieb Shanaya jedoch in der Hocke, achtete auf jede mögliche Bewegung.
Mit diesem für ihn so typischen Kleinjungengrinsen erwiderte er ihren wissenden Blick vollkommen ungerührt. „Ganz genau das war meine Absicht“, gab er genauso unverblümt zu und da Shanaya nichtsdestotrotz nach der untersten Sprosse der Leiter griff, wertete Lucien das durchaus als Zustimmung. Während sie ihren entzückenden Körper also nach oben verfrachtete, genoss er den Ausblick auf ihren wohlgeformten Hintern. Und erst, als sie versicherte, dass die Luft rein war, kehrte seine Aufmerksamkeit zu ihrer Aufgabe zurück. „Na dann hoch mit dir.“ Leiser, diesmal, aber noch immer amüsiert, spornte er sie an und als die Schwarzhaarige über die Kante zum nächsten Dach verschwand, griff Lucien ebenfalls nach der Leiter, um ihr zu folgen.
Oben angekommen warf er einen kurzen Blick über die Schulter, versicherte sich, dass ihnen niemand folgte. Dann wandte er sich um und verschaffte sich einen Überblick von dem Dach, auf dem sie sich nun befanden. Ein Flachdach, wie erwartet. Nur in der Mitte erhob sich noch ein kleinerer Aufbau, der aus nichts als Fenstern bestand und sich von einem Ende des Gebäudes bis zum anderen erstreckte. Mit einem Nicken wies er hinüber. „Lass uns nachsehen, ob eins der Fenster offen ist. Vielleicht kommen wir irgendwie nach unten, ohne bemerkt zu werden.“
Shanaya lächelte mit einem sachten Schütteln ihres Kopfes über die Worte des Mannes, während sie die Leiter empor kletterte. Was so etwas anging war er einfach zu durchschauen - sie allerdings auch, das war kein Geheimnis. Trotz allem verlor sie nicht ihre Umgebung aus den Augen, ließ den blauen Blick schweifen, bis Lucien neben ihr auftauchte. Seinem Blick folgend, wandte die junge Frau den Kopf zu dem Glasdach. "Himmel, ist das alles aufregend. Ich schlafe heute Nacht entweder gar nicht oder wie ein Stein." Ihre Worte wurden von einem leichten Lachen untermalt, ehe sie sich in Richtung Glasdach aufmachte. An den ersten paar Scheiben ging sie vorbei, warf einen Blick durch die teilweise ziemlich dreckigen Gläser. Irgendetwas erkannte man am Boden der Halle, jedoch nicht, was genau. Mit etwas Abstand zu den Fenstern blieb sie stehen, ließ den Blick schweifen. "Ich sehe kein offenes Fenster... aber die sehen nicht sonderlich stabil gebaut aus." Damit zog die Schwarzhaarige ihren Dolch, trat an ein willkürliche Fenster heran und schob mit ein paar ruckelnden Bewegungen die Klinge in den Spalt, den Blick dann zu ihrem Begleiter wendend. "Wir müssen nur eins finden, bei dem wir gut nach unten kommen..."
Shanayas Antwort holte das freche Grinsen zurück auf seine Lippen. „Wenn du nicht schlafen kannst, helfe ich dir gern dabei, dir die Zeit bis zum Morgen zu vertreiben“, antwortete er gelassen. Er konnte schlicht und ergreifend nicht anders. Wenn sie ihm eine solche Vorlage bot, musste er sie einfach nutzen. In diesem Sinne war er wirklich mehr als berechenbar und was das Thema Sex anging auch einfach gestrickt. Sie konnte sich jetzt also selbst zusammenreimen, ob das nur lose dahingesagt oder doch sein voller Ernst gewesen war. Wozu sich auch verstellen? Im Moment jedoch konzentrierte er sich mehr auf ihre Aufgabe, folgte der Schwarzhaarigen deshalb zu den Fenstern und während sie an den ersten vorbei ging und eines suchte, das offen stand, warf er einen Blick durch die trübe Scheibe ins Innere des Gebäudes, um herauszufinden, womit sie es vielleicht zu tun hatten. Irgendwo am Boden erahnte er eine Gestalt, die hinter ein paar großen Schatten – Kisten vermutlich – verschwand, doch das Glas war zu dreckig, um viel mehr zu erkennen. „Dafür müsste man nur irgendetwas da drinnen erkennen können“, antwortete er auf die Idee seiner Begleiterin, die sich bereits mit dem Dolch an einem der Schlösser zu schaffen machte.
Er sah nicht zu ihr hinüber, sondern ging vor einem der Fenster in die Hocke, sammelte für einen Moment den Speichel in seinem Mund und spuckte ihn im Anschluss aufs Glas, um mit dem Ärmel seines Hemdes den seit Jahren angesammelten Dreck wegzuwischen. Es entstand ein schlieriges Oval auf der Scheibe, durch das er einen halbwegs ungetrübten Blick nach unten werfen konnte. Das erste, was er sah, war ein gewaltiger Haufen ordentlich aufgestapelter Säcke im hinteren Drittel des Gebäudes. Mehl vielleicht, Getreide... oder eben Kaffee – wobei das bei der Menge eher unwahrscheinlich war. Nach vorn zum Markt führte ein geschlossenes Tor, aber auch auf der gegenüberliegenden Gebäudeseite führte ein geschlossenes Tor nach draußen. Allerdings versperrten ihm einige große Kistenstapel den direkten Blick auf diesen Teil der Halle. Dafür bemerkte er die Galerie, die auf Höhe der ersten Etage einmal um das gesamte Lager führte. Auf der Marktseite führte sie an der Tür zu einem separaten Raum vorbei, vielleicht eine Art Büro. „Hier gibt es eine Galerie, die wir erreichen können. Die Fenster dort hinten müssten genau darüber liegen.“ Er wies auf die Fenster an der marktabgewandten Gebäudeseite. „Allerdings weiß ich nicht, wie leise wir da runter kommen. Mindestens einen Wachmann hab ich gesehen.“
Das war eine Steilvorlage gewesen, das musste Shanaya zugeben. Vielleicht hatte sie das auch ein wenig beabsichtigt. Ein vielsagenden Lächeln war dem Dunkelhaarigen sicher, genau wie ein Zwinkernin seine Richtung. "Darauf komme ich bestimmt gern zurück." Bis dahin würde jedoch sicher einiges an Zeit verstreichen, immerhin waren sie sich auch da einig - ihre Aufgabe stand gerade über jedweden Gelüsten. Auxh wenn sie das zwischendurch doch etwas schade fand, aber so war es eben. Sie lauschte den Worten des Mannes, reagierte jedoch nicht groß darauf, da er sich schon zum nächsten Fenster aufmachte, sich ein wenig bessere Sicht verschaffte. Als er sich dann wieder an sie wandte, richtete Shanaya den Blick zu ihm, zog ihren Dolch wieder hervor und trat zu ihrem Captain. "Siehst du auch etwas, wie wir wieder raus kommen?" Sie lehnte sich etwas vor, stützte sich mit den Händen auf die Schultern des Mannes und versuchte, an ihm vorbei zu spähen. "Wenn der so ist, wie der eben ..." sie lachte leise, wog den Kopf etwas zur Seite. "Irgendeine Idee?"
Ihre Schritte verrieten ihm, dass Shanaya zu ihm kam, kurz bevor sie sich auf seinen Schultern abstützte, um ebenfalls einen Blick durch das Fenster zu erhaschen. Für einen Moment wandte er den Kopf leicht zu ihr herum, warf ihr einen amüsierten Blick zu. „Schön wär’s, aber ich befürchte, da unten sind sie etwas aufmerksamer.“ Wieder kehrte seine Aufmerksamkeit zu dem Fenster zurück und er deutete durch die Scheibe hindurch wage auf die hintere Gebäudeseite. „Ich glaube, da hinten befindet sich ein ähnliches Tor, wie vorne zum Markt raus. Vermutlich für größere Lieferungen, die man dann nicht quer durch die engen Gassen karren muss. Und bei unserem Glück ist es abgeschlossen und der Kerl, der gerade vom Dach gefallen ist, hatte einen der Schlüssel.“ Ein leises, spöttisches Schnauben folgte diesen Worten, das allerdings alles andere als frustriert, sondern hauptsächlich amüsiert klang. „Vielleicht hat der, der da unten rumläuft, noch einen Schlüssel – oder wir müssen es irgendwie anders aufkriegen. Jedenfalls wäre das am ehesten der Weg, den ich nehmen würde, um zu verschwinden.“ Blieb zu hoffen, dass Danté wenigstens in einem Punkt recht hatte: Sie hatten vor, den Kaffee heute Nacht wegzuschaffen. Und zwar in einem Karren mit einem Gaul vorne dran. Woher auch immer er diese Information hatte. Klang jedenfalls verdächtig nach einem Insider. „Also schön... wie wäre es damit. Ich lasse dich runter auf die Galerie und du schaust nach, ob das Tor nach hinten raus offen ist. Wenn ja, musst du nur noch den Wagen mit dem Kaffee finden und gibst mir ein Zeichen. Dann springe ich runter, stoße zu dir und wir machen uns vom Acker. Meinst du, das kriegst du hin?“ Und unwillkürlich schlich sich ein Schmunzeln auf seine Lippen, als er erneut zu Shanaya aufsah. Klang eigentlich einfach. Und ziemlich löchrig. Würde schon schief gehen.
Auf Luciens Worte hin schnaufte Shanaya nur leise, zuckte ergeben mit den Schultern, ließ den Blick dann weiter an ihm vorbei zu dem kleinen ‚sauberen‘ Loch im Fenster schweifen. Seinem Deuten folgend hob die Schwarzhaarige eine Augenbraue, nickte dann aber verstehend, musste dann aber auch über ihren betrunkenen, inzwischen wahrscheinlich sehr toten, Freund schmunzeln. „Vielleicht erfreut sich jetzt jemand anderes am Zugang zu einer Schmugglerhalle.“ Shanaya lehnte sich noch ein wenig weiter vor, versuchte noch etwas mehr von der Halle zu erkennen. Lucien äußerte eine Idee und Shanaya lauschte bis zum letzten Wort – für das Lucien nun jedoch mit geballter Faust einen Stoß gegen den Kopf bekam. „Provozier mich nicht, wenn es ganz dumm für dich läuft, habe ich dein Leben in der Hand! Du weißt aber, dass ich erst 17 bin und damit vollkommen schwach und hilflos bin, wenn irgendjemand mich überrascht?“ Ein Lachen schwang in ihrer Stimme mit. „Klingt zumindest, als könnte das klappen. Ansonsten bin ich Meisterin im Improvisieren.“ Damit legte sie kurz die Arme um den Körper des Mannes, legte das Kinn auf seinem Kopf ab und flüsterte ganz leise. „Aber wenn du ganz lieb bist, besorge ich dir natürlich deinen Kaffee.“ Wieder ein warmes Lachen, ehe sie sich wieder voll aufrichtete, kurz die Arme in die Luft reckte. „Dann lass uns loslegen!“
„Oder dieser Jemand steht dort unten vor dem Tor und wartet nur darauf, dass wir uns den Schlüssel abholen, weil er nicht weiß, wofür er sein könnte.“ Ein Grinsen lag in Luciens Stimme, als er kurz durch das halbwegs saubere Oval in der Scheibe zu dem Hallentor auf der Marktseite lugte. Dann warf er erneut einen Blick über die Schulter zu seiner Begleiterin und in den tiefgrünen Augen blitzte der altbekannte Schalk auf. „Oh, also im Gegensatz zu dir da unten bin ich hier oben mehr oder weniger in Sicherheit. Es wird für mich bestimmt leichter, über die Dächer abzuhauen, als für dich, aus der Lagerhalle zu entkommen. Also wer hat hier wessen Leben in der Hand? Und dann bin ich auch noch so ein Unhold und schicke dich armes, hilfloses, kleines Mädchen mitten in die Höhle des Löwen.“ Die Art, wie er seine Tonlage übertrieb und dem Gesagten einen Hauch Melodrama verlieh, sagte schon genug darüber, wie ernst er diese Worte nahm. Wenn nicht, dann tat es sein Nachsatz: „Ich hoffe nur, die da unten denken genauso. Gegner, die dich unterschätzen, lassen sich noch schneller besiegen.“ Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da legte sie die Arme um ihn und den Kinn auf sein Kopf. Lucien ließ es geschehen, schmunzelte halb amüsiert, halb mit sanfter Zuneigung auf den jungen Zügen. „Ich werde mich hinterher angemessen erkenntlich zeigen, kleine Sirene. Du hast mein Wort.“ Damit ließ sie ihn los und er nickte bestätigend, bevor er sich erhob und aufmerksam durch die trüben Scheiben schauend zu dem Fenster hinüber ging, unter dem die Galerie lag. Zog nun seinerseits seinen Dolch und rammte die Klinge in den Schlitz zwischen Zarge und Fensterrahmen, um vorsichtig und so leise wie möglich den Verschluss aufzubrechen. Er knirschte kurz vernehmlich, gab dann ein leises, ungesundes Klicken von sich und ließ sich schließlich öffnen. Lucien zog das Fenster auf, vorsichtig, und ließ den Blick dabei wachsam durch das Innere der Halle schweifen, bevor er zu Shanaya aufsah und sie zu sich winkte. „Kletter durch. Wenn du frei hängst, greifst du nach meiner Hand und ich lasse dich so weit runter, wie ich kann. Den Rest musst du dich fallen lassen. Kann sein, dass das da drinnen jemand hört, also sei vorsichtig, in Ordnung?“ Ein sachtes Lächeln huschte über seine Lippen, dass aber nicht verbarg, wie ernst er seine Bitte meinte.
Die Worte ihres Captains brachten Shanaya auch im Nachhinein zum Lächeln, womit sie leicht den Kopf schief legte und ein deutliches Funkeln in ihren Augen erschien. „Sie wissen ja nichts von der wirklichen Löwin, die auf dem Weg zu ihnen ist.“ Beinahe unschuldig zuckte sie mit den Schultern, zwinkerte ihm dann bei seinem Versprechen zu. „Ich hoffe doch. Immerhin bringe ich mein Leben für dich in Gefahr!“ Sie lachte noch einmal, hob in einer Geste, die klar machte, dass sie überdramatisierte, die Hand an ihre Stirn.
Lucien machte sich daran, das Fenster aufzuknacken, während Shanaya prüfend den Blick schweifen ließ. Vielleicht hatten sie sie längst bemerkt, und sie war in der Halle doch sicherer als der Dunkelhaarige auf dem Dach? Sie hoffte es nicht, klopfte ihm nur noch einmal auf die Schulter, machte sich dann bereit für eine kleine Kletter und Sturzpartie. „Versprochen.“ Nun hatte ihre Stimme wieder einen sanfteren Ton angenommen und sie machte sich daran, durch das Fenster zu klettern. Jede Bewegung langsam, ein Absturz hätte mehr als schmerzhaft enden können, wenn sie falsch aufkam. Stück für Stück schob sie sich vor, prüfte und umklammerte schließlich, was ihr Halt gab. Ihr Herz schlug mittlerweile in einem schnelleren Takt, der sich auch nicht beruhigte, als sie nach Luciens Händen griff, die sie noch ein Stück weiter nach unten ließen. Als klar war, dass er tiefer nicht kommen würde, nickte Shanaya ihm nur stumm zu, ein euphorisches Lächeln auf den Lippen. Gott, sie lebte für solche Momente. Ihr Captain ließ sie los und sofort stellte sich ein Schalter in ihrem Gehirn um. Jetzt gab es nur noch sie und diese Halle.
Mit einem dumpfen Geräusch kam Shanaya auf dem Boden der Galerie auf, duckte sich im nächsten Moment und ließ den blauen Blick durch die Halle schweifen. Einige Sekunden wartete sie, es blieb jedoch alles still. Sie stand auf, lauschte weiter auf die Umgebung und setzte sich in Bewegung, ohne noch einmal zu Lucien zurück zu blicken. Also diese Wachen in dieser Halle waren wirklich… vielleicht waren sie alle betrunken. Die junge Frau erreichte die Treppe, bewegte sich mit ruhigen Schritten nach unten, darauf bedacht, auch hier keine unnötigen Geräusche zu verursachen. Wieder festen Boden unter den Füßen blieb sie kurz stehen, erspähte eine Bewegung hinter einem der Kistenstapel. Nur kurz überlegte die Dunkelhaarige, ehe sie die Schlaufe ihrer Bluse öffnete, um sich dann hinter einem Stapel in ihrer Nähe zu verbergen. Es dauerte nicht lang, bis der Mann hinter den Kisten hervor trat – an seinem Hosenbund zwei zusammen geschnallte Schlüssel. Aber auch, wenn sie noch einige Momente wartete, keine weitere Person tauchte auf und der Mann schien auch keinerlei Anstalten zu machen, mit jemandem zu sprechen. Shanaya atmete tief durch, schloss einige Herzschläge die Augen und trat dann aus ihrem Versteck, den blauen Blick direkt auf den Mann gerichtet, der augenblicklich an seine Hose griff, an der ein Degen baumelte. Sofort hob die Schwarzhaarige eine Hand, legte sich einen Finger über die Lippen und setzte die unschuldigste Miene auf, die sie hervor bringen konnte. „Schhh, bitte, die töten mich doch sofort! Ich… habe mich hierher verlaufen. Ich bin ganz allein und habe schrecklichen Durst… Könntest du mir etwas Wasser besorgen?“ Shanaya machte ganz große, hilflose Augen, spielte an der Kordel ihrer Bluse, drehte sie zwischen den Fingern und ließ den Kopf ein wenig hängen. Der Mann brummte ein leises „Komm mit“ und wandte sich ab. Er schien nicht wirklich begeistert, aber… immerhin hatte er sie nicht sofort verraten.
Er trottete davon und Shanaya folgte ihm, die Hand bereits an ihrem Dolch. Er verschwand auf der einen Seite, Shanayas Schritte brachten sie jedoch auf die andere Seite – zu ihrem Glück. Der Mann hatte seinen Degen gezogen, lauerte auf sie und rechnete nicht damit, dass sie auf der anderen Seite auftauchte. Als er sie hinter sich bemerkte, bohrte sich schon die Klinge in seinen Hals, bescherte ihm einen schnellen, lautlosen Tod. Und versteckt, sollte noch eine andere Wache in nächster Zeit hier vorbei kommen. Die Klinge war schnell am Hemd des Mannes abgeputzt, der Schlüssel landete in Shanayas Hand, nachdem die Klinge verstaut war. Nun trat sie, mit zuvor prüfendem Blick hinter den Kisten hervor, reckte die Eroberung in die Luft, um Lucien hiermit schon einmal ein Zeichen zu geben. Nur kurz, dann wandte sie sich wieder einem der Fenster zu, die immerhin etwas sauberer waren als das Dach. Ganz dumpf hörte sie Stimmen, jedoch nicht, wie viele. Die Tür ließ sie erst einmal geschlossen, sie wollte keine schlafenden Hunde wecken. Aus ihrem Winkel konnte die junge Frau jedoch etwas erkennen, was nach einem Karren aussah. Ob ein Tier davor gespannt war… möglicherweise. Noch einmal hob sie also die Hand, winkte in Luciens Richtung. Sie musste so oder so warten, trat also einen halben Schritt zurück, um vielleicht noch etwas mehr sehen zu können.