02.05.2021, 14:35
Rayon war immer noch schlecht gelaunt, zumindest für seine Verhältnisse. Seit zwei Wochen befanden sie sich nun in Silvestre, und er hatte längst festgestellt, dass es ihn zutiefst frustrierte, auch nur einige Tage lang nicht seiner Leidenschaft nachgehen zu können. Dabei stimmte das nur bedingt - er half ja durchaus in der Küche mit, sowohl bei der Vor- als auch Zubereitung der Speisen. Aber er war es schlichtweg nicht mehr gewohnt, nur zu helfen und nicht auch zu entscheiden. Und leider war der Koch des Bordells, in dem sie untergekommen waren, in seinen Augen ein höchst zweifelhafter Vertreter ihrer Zunft, der Koriander nicht von Petersilie unterscheiden konnte, beides ohnehin nicht auf Vorrat, damit noch nie gekocht und deshalb großspurig verkündet hatte, dass "so ein Zeug" ihm nicht in die Küche komme. Rayon musste sich also seit geschlagenen zwei Wochen damit begnügen, die immer gleichen, kaum gewürzten und lieblos zusammengestellten Gerichte zu kochen. Sonderlich viel Abwechslung hatten sie auf hoher See zwar auch nicht, was größtenteils der Haltbarkeit der Zutaten geschuldet war, aber er gab sich immerhin Mühe dabei, das Ganze so abwechslungsreich und interessant wie möglich zu gestalten. An einem Ort wie diesem hier jedoch, mit Märkten, auf denen die verschiedensten Lebensmittel, Kräuter und Gewürze verkauft wurden, standen einem leidenschaftlichen Koch unendlich viele Möglichkeiten offen. Es war ein Frevel, diese nicht zu nutzen.
Am gestrigen Abend schließlich war dem Dunkelhäutigen der Kragen geplatzt, er hatte den Koch mit donnernder Stimme angebrüllt, dass dieser eine Schande sei, und ihn vor vollendete Tatsachen gestellt: Nämlich, dass er heute in die Stadt gehen, sich mit dem Nötigsten ausstatten und das jämmerliche Essen des Bordells dann ordentlich aufpeppen würde. Der untersetzte Mann hatte ihn nur mit weit aufgerissenen Augen eingeschüchtert angestarrt und genickt. Und Rayon hatte sein schlechtes Gewissen angesichts seines Ausbruchs entschlossen heruntergeschluckt und sich gefragt, warum er es erst jetzt auf diese Art und Weise versucht hatte.
Diesen Gedanken nachzuhängen, verbesserte seine Laune bereits ein wenig, weil er sich zwar nicht sicher war, ob der Koch ihn wirklich würde gewähren lassen, es aber immerhin ein Licht am Ende des Tunnels gab. Und als Talin, die ihn auf den Markt begleiten wollte, schließlich freudestrahlend die Treppe heruntergeeilt kam, verflüchtigte sich der letzte Rest seines Grolls in Windeseile. Er kicherte - ein seltsamer Laut von einem Mann, dessen Stimme meist mehr Bass zu haben schien als die großen Trommeln einer Kapelle -, als die blonde Frau so dicht vor ihm zum Stehen kam, dass er fast schon seinen Kopf neigen musste, um sie überhaupt wahrzunehmen, und lächelte sie dann warm an, nachdem sie einige Schritte zurückgetreten war. Er hatte sie schon länger nicht mehr bei so guter Laune erlebt.
"Ich war noch nie so bereit für einen hemmungslosen Einkaufsbummel", sagte er und hielt die linke Hand hoch, in der sich zwei mittelgroße Jutebeutel befanden.
Rayon hatte sicherlich nicht vor, den ganzen Markt zu plündern. Er hatte schon deutlich größere Einkäufe getätigt, gerade wenn es darum ging, Lebensmittel für die Sphinx zu besorgen, aber er hatte das Gefühl, dass dieser einer der befriedigendsten seines Lebens werden würde. Und ohnehin musste er seinen Vorrat an Gewürzen aus der Heimat wieder auffüllen - in einer Stadt wie Silvestre war die Wahrscheinlichkeit am höchsten, einige davon zu finden.
"Warst du schon mal auf dem Markt hier?", fragte er Talin, während er die kurze Distanz zur Tür überbrückte, sie öffnete und darauf wartete, dass die junge Frau hindurchging. "So viele... Sachen auf einem Haufen habe ich nicht mehr gesehen, seit wir Lucien gerettet haben!"
Obwohl er kein Freund großer Städte und zu vieler Menschen auf einem Fleck war - hatte er doch den Großteil seines Lebens in einem kleinen Dorf verbracht -, schwang ein wenig Begeisterung in seiner Stimme mit. Auf das Gedränge konnte er verzichten, aber die unzähligen Gerüche, die einem auf so einem Markt entgegenschlugen, ließen sein Herz stets höher schlagen und inspirierte ihn bisweilen sogar zu neuen kulinarischen Kreationen.