13.10.2020, 21:06
Als sie sich bewegte, huschte sein Blick wieder zu Talin zurück. Allerdings nicht zu ihrem Gesicht, sondern nach unten, auf ihre Hand. Sie griff nach der Flasche und im ersten Moment glaubte Lucien tatsächlich, sie wolle nicht antworten. Doch sie rutschte nur näher, klemmte den Alkohol wieder zwischen sie und erzählte.
Dieses Mal gab es da nur Eifersucht, kindisch und unkontrollierbar. Die leise Dankbarkeit in ihm verlor dagegen, verblasste rasch. Dabei sollte er dankbar sein. Weil weil Rasiria ihr geholfen hatte. Aber er konnte einfach nicht dankbar sein.
Der Dunkelhaarige stieß leise die Luft aus, schloss die Augen, wollte sie nicht mehr ansehen. Doch dann spürte er ihre Fingerspitzen an seiner Wange und hob doch den Blick, begegnete dem ihren. Und es wurde still in ihm. Endlos still. Dunkel. Er wusste, was sie eigentlich wissen wollte, konnte die Frage in dem klaren Blaugrün ihrer Augen lesen. Ihr Vater starb, er kam ins Gefängnis, wartete auf seine Verhandlung, wurde verurteilt, wartete auf das Schiff, das ihn nach Esmacil brachte. Das alles wusste sie. Jetzt fragte sie danach, wie sehr er verletzt worden war. Seelisch, nicht körperlich. Ob man ihn gebrochen hatte, wie Juan sie gebrochen hatte.
Er schwieg, schwankte zwischen trinken und ausweichen. Warf er ihr einen kleinen Brocken hin, ließ sie wahrscheinlich nicht locker. Gab er ihr gar nichts, beließ sie es vielleicht dabei. Oder bohrte weiter. Aber dann konnte er immer noch trinken. Trinken, bis die verdammte Flasche leer war.
Er griff danach, blieb nur einen Herzschlag länger an ihrem Blick hängen. Dann setzte er die Flasche an die Lippen und trank. Er hatte schon angefangen, sich zu fragen, wann sie diesen Punkt erreichten. Es wäre eine Schande gewesen, diesen Abend wieder nüchtern zu werden.
Als er die Flasche sinken ließ, richtete er die tiefgrünen Augen wieder auf Talin. Er war wieder dran.
„Und diese Narbe an deiner Hüfte? War das Juan?“
Sie wusste, was er tun würde, noch bevor er nach der Flasche griff. Es machte sie wütend, dass sie ihm diesen Ausweg angeboten hatte, aber anders hätte er wahrscheinlich gar nicht mit ihr geredet. Weil es ihm nicht wichtig war, was ihm geschehen war. Weil das alles nicht zählte. Weil es angeblich verdammt noch mal wichtiger war, wie es ihr ging. Sie unterdrückte nur mit Mühe einen abfälligen Laut, behielt ihn im Auge, als er die Flasche ansetzte. Aber immerhin hatte er sie wieder angesehen. Noch einmal strich Talin leicht über seine Wange, bevor sie die Hand sinken ließ. Fast im gleichen Moment ließ er die Flasche wieder sinken und sah sie wieder an. Bei seinen Worten hielt sie krampfhaft ihre Maske aufrecht. Sie unterdrückte den eiskalten Schauer, der ihr über den Rücken laufen wollte. Unterdrückte das Bedürfnis, die Arme um sie zu schließen. Der Verlust stach ihr ins Herz, nach drei Jahren fast immer noch so stark wie am ersten Tag. Aber sie ignorierte ihn, drängte ihn zurück, denn auch wenn Lucien das Gegenteil behauptete, war er ihr wichtig. Und er war noch am Leben. Sie würde es nicht verkraften, wenn auch er sie verließ. Sie leckte sich nur kurz über die trockenen Lippen, bevor sie schlicht antwortete:
„Ja. Er hat mir die Narbe zugefügt.“
Er hatte etwas zurückgelassen, nachdem er ihr etwas genommen hatte. Das war es gewesen, was sie ihn für immer hassen lassen würde.
„Woher hast du die Narben auf deinem Rücken?“
Es tat ihr weh, ihn zu bedrängen. Sie wollte das nicht. Sie wollte wieder auf die friedliche Oberflächlichkeit ihrer Beziehung zurück. Der große Bruder, die kleine Schwester. Aber ihre Bindung war nie nur oberflächlich gewesen und es tat weh, dass sie das wollte, damit sie weder sich noch ihm Schmerzen zufügen musste.
Ihre Stimmung änderte sich, schwankte von... was? Frustriert? Zu etwas anderem. Sie verspannte sich, ihre Züge wurden fast ausdruckslos. Er hatte einen Nerv getroffen. Juan war ein einziger Nerv. Ein rotes Tuch in ihrer beider Gedanken. Aber war da noch mehr? Der Gedanke verwirrte ihn, ließ ihn das neu aufwallende Rachebedürfnis sogar kurz vergessen. Doch wenn, dann verriet Talin ihm nichts davon. Sie beantwortete einfach seine Frage, ließ dabei die Hand sinken und er nickte nur zögernd, weil ihm nichts anderes übrig blieb, und platzierte die Flasche in der Lücke zwischen ihnen.
Dann sah er wieder zu ihr auf. Das, was sie nun wissen wollte, war einfach zu beantworten. Einfach, weil es nichts bedeutete.
„Aus dem Gefängnis in Linara.“ Seine Stimme blieb ruhig, fast gelassen. „Sie peitschen die Gefangenen vor ihren Verhandlungen aus. Manchmal bis zum Tag der Verhandlung selbst. In der Hoffnung, derjenige gesteht, was ihm vorgeworfen wird. Dann sparen sie sich den Richter. Mich hätte auf Esmacil mehr davon erwartet. Es wäre Teil meiner Strafe gewesen.“
Lucien verstummte, sah seiner Schwester unverwandt ins Gesicht, suchte nach Regungen, die ihm verrieten, was sie dachte. Und er zögerte, die nächste Frage zu stellen. Sie kam ihm einfach in den Kopf, nistete sich dort ein, blieb da und sein Kopf drehte nur immer wieder die Formulierung um, änderte einzelne Wörter, ohne dass sie ihren eigentlichen Sinn verlor.
„Wer bist du jetzt, Talin?“
Es überraschte sie, dass er ihre Frage beantwortete. Offensichtlich hatte sie damit keinen Nerv getroffen, der ihn zum Trinken animiert hätte. Nachdenklich legte sie den Kopf schief und betrachtete sein Gesicht. Aber eigentlich rief sie sich seinen Rücken in Erinnerung und der Hass auf die Marine stieg ins Unermessliche. Ihr konnten die anderen armen Teufel egal sein, denen so etwas noch geschehen war. Egal ob es jedem oder keinem weiter passierte – dass Lucien ausgepeitscht worden war, machte sie wütend. Aber er berichtete so darüber, als wäre das nichts gewesen. Als wäre es nicht einmal das schlimmste, was ihm zugestoßen war, seit sie getrennt wurden. Und vielleicht stimmte das sogar. Vielleicht aber überspielte er auch einfach nur den Schmerz, der sich mit jedem Peitschenhieb in seinen Rücken gefressen hatte. Sie konnte es nicht sagen, aber genau das Selbe hatte sie ja auch gerade getan. Sich vor ihm versteckt, ihm nicht gezeigt, ob hinter den Worten mehr war, als man zugeben wollte. Manche Wahrheiten würden noch mehr schmerzen.
Für einen kurzen Moment herrschte Stille zwischen ihnen, während Lucien ihr Gesicht betrachtete. Mit leichter Belustigung in den Augen ließ sie die Musterung über sich ergehen, bis er ihr eine Frage stellte, die sie völlig überraschte. Die erste Antwort, die ihr durch den Kopf schoss, wäre die einfachste. ‚Ich bin die, die ich immer war‘. Es wäre die schnellste, die einfachste und die, die am weitesten entfernt war von der Wahrheit. Also schluckte Talin sie herunter. Stattdessen runzelte sie leicht die Stirn, überlegte wirklich, wie sie diese Frage beantworten konnte.
„Ich bin...“, sie sah kurz weg, schloss die Augen und ein kleines Lächeln huschte über ihre Lippen. Dann sah sie wieder zu ihm auf. „Ich bin Talin, deine kleine Schwester. Mit dem Kopf in den Wolken und den Füßen fest auf dem Boden. Mein Wunsch ist es, die beste Fechterin aller sieben Welten zu werden und die Noten der Verdammten zu finden.“ Sie berührte wieder seine Wange, das Lächeln blieb. „Und ich bin Talin, die ihren großen Bruder verloren hat, der ihr mehr als alles andere in jeder beschissenen Welt bedeutet. Um ihn wiederzufinden habe ich alles ertragen, was mir passiert ist und bin daran gewachsen. Ich habe Dinge gefunden und verloren, Freundschaften geschlossen und Feinde gewonnen. Aber alles ist bedeutungslos, denn ich habe meinen Bruder wieder. Die Welt kann mir gestohlen bleiben.“
Forschend ließ sie den Blick über sein Gesicht gleiten, bis sie ihm wieder in die Augen sah.
„Was ist es, was du brauchst?“, fragte sie leise.
Die Unverblümtheit seiner Antwort überraschte sie. Sie hatte wohl nicht damit gerechnet, dass es ihm so leicht fiel, darüber zu reden, aber für ihn waren das tatsächlich nur Narben. Sicher, auch jetzt erinnerte er sich mit aller Klarheit an den überwältigenden Schmerz, wenn die Peitsche auf seine Haut knallte. An das Gefühl, als würde ihm das Fleisch von den Knochen platzen. An gleißendes, blindes Weiß und die selige Dunkelheit der Bewusstlosigkeit.
Aber als man ihn das erste Mal zu einem ‚Verhör‘ holte, hatte er die Peitsche und die Spuren, die sie hinterlassen würde, geradezu herbei gesehnt. Er war dankbar dafür gewesen, weil sie den hässlichen Schnitt in seinem Nacken wirksamer verbargen, als seine Haare oder ein Halstuch. Er hatte sich sogar gewünscht, der verdammte Folterknecht hätte nur ein oder zwei Mal mit der Peitsche seinen Nacken getroffen, um die Erinnerung auszulöschen, zu überlagern, andere Zeichen darüber zu malen. Leider war er verdammt geschickt in seinem Handwerk gewesen und ging nie das Risiko ein, den Kopf zu treffen. Aber es reichte, um jene einzelne Narbe mit dem Geflecht auf seinem Rücken verschmelzen zu lassen. Zumindest auf einen ersten Blick hin.
Nichts davon würde er Talin verraten. Selbst dann nicht, wenn sie nachbohrte. Und zunächst war ohnehin er dran. Seine Frage war wichtig. Wie sehr, verstand er erst, als sie sie beantwortete. Hätte sie ihm jetzt erzählt, sie wäre die gleiche, wie früher, hätte er ihr kein Wort geglaubt. Und vielleicht das ohnehin brüchige Vertrauen in dieses Spielchen verloren. Aber sie überlegte sich gut, was sie sagte, entlockte ihm damit sogar ein sachtes Lächeln. Flüchtig, traurig, aber ein Lächeln. Wärme breitete sich in ihm aus, ließ sein Herz schneller schlagen. Was sie sagte, klang so sehr nach dem Mädchen, das er zurück gelassen hatte. Das er so abgöttisch liebte. Aber auch ganz anders, verändert, verletzt und gestärkt. War sie das jetzt? Eine verletzte, aber gestärkte Version der Talin aus seinen Erinnerungen? Immer noch die gleiche, nur ein bisschen anders?
Er spürte ihre Finger an seiner Wange, sah wieder zu ihr auf und bemerkte dadurch erst, dass sein Blick ins Leere gegangen war. Leise stieß er die Luft aus, schloss die Augen, zögerte. Dann lehnte er den Kopf ihrer Hand entgegen, schmiegte sich in ihre Berührung.
„Du warst immer schon stärker als ich“, erwiderte er sehr leise, mehr zu sich selbst als zu ihr. Aber er gab ihr auch keine Zeit, ihm zu widersprechen, sondern antwortete stattdessen auf ihre Frage.
„Ich brauche dich.“ Wieder sah er sie an, begegnete ihrem Blick und der Ausdruck in den tiefgrünen Augen wurde unendlich sanft. „Ich habe immer nur dich gebraucht. Ich brauche dein Lachen, deine Wärme, das Leuchten in deinen Augen. Die unbeschwerte Kindlichkeit, die dich mit den anderen Kindern aus dem Dorf ums Feuer hat tanzen lassen. Und ich habe Angst, dass Juan all das zerstört hat. Dass unsere Eltern das zerstört haben.“
Zum ersten Mal, seid sie dieses Spiel spielten, hatte er wirklich gelächelt. Nicht abfällig, sondern sachte, flüchtig und ein wenig traurig. Es war nicht viel, aber es ließ sich ihr Herz ein wenig entkrampfen. Und sie schmolz ein wenig mehr dahin, als er sich in ihre Berührung schmiegte. Ihr entging dabei keineswegs, dass er gezögert hatte, aber in seiner Erschöpfung lehnte er sich an sie und das gab ihr ein gutes Gefühl und verstärkte den Wunsch ihn zu trösten. Sanft fuhr sie mit den Fingern über seine Schläfe, betrachtete sein Gesicht, während er die Augen geschlossen hielt. Das Lächeln auf ihren Lippen verschwand allerdings bei seinen Worten und sie wollte heftig protestieren, bekam dazu aber keine Gelegenheit. Er sprach einfach weiter. Für einen kurzen Augenblick überlegte sie, ihm über den Mund zu fahren, dass er sich selbst nicht so abtun sollte. Aber sie blieb still, denn sie hatte das Gefühl, er würde sonst sein Bedürfnis wieder in sich verschließen, ihr nicht verraten, was er brauchte.
Sie sah wieder in die grünen Augen, die so viel verschlossen hielten, dass sie ihr ein wenig dunkler vorkamen. Aber wenn er sie ansah, dann stand dort nichts als Sanftheit und Wärme und das ließ Talin dahin schmelzen. Sie wollte sich vorbeugen, ihn umarmen. Stattdessen lächelte sie nur sanft und streichelte erneut von seiner Schläfe bis hinunter zu seinem Kinn.
„Meine Unbeschwertheit haben sie mir nicht genommen. Ich habe sie… unterdrückt, habe versucht, sie zu schützen und sie für eine Weile verloren, aber sie ist noch da.“ Sie schüttelte leicht den Kopf. „Aber sag bitte nicht, dass du auch meine Kindlichkeit vermisst. Ich war furchtbar naiv, Lucien. Ich habe mich voll und ganz auf dich verlassen, in allem was ich tat, und habe dir damit meine Verantwortung aufgedrückt. Das will ich nicht mehr, weil du es nicht verdient hast.“ Sie hob auch die andere Hand und umfasste sein Gesicht, spürte seine Wärme. „Auch wenn ich das ganze Dorf nicht leiden kann, sobald die Musik spielt, bin ich eine der ersten, die mit ihnen tanzen wird. Das wird sich auch niemals ändern.“ Ein kurzes Zögern. „Glaubst du mir?“
Ihre Liebkosung schenkte ihm einen Hauch Frieden. Vertrieb die Schwärze. Und ihre Worte verdrängten den Hass. Zumindest für den Moment. Ließen ihn erneut kurz lächeln, weil sie Kindlichkeit mit kindisch sein verwechselte. Aber Lucien korrigierte seine kleine Schwester nicht, hörte nur zu, sah sie an, als sie die andere Hand ebenfalls an sein Gesicht legte. Sanfte Sehnsucht flackerte in dem tiefen Grün seiner Augen auf. Der Wunsch, sie möge nicht mehr loslassen, würde nicht aufhören, ihn zu berühren. Ihr Licht gegen seine Schatten.
Wieder stieß er leise die Luft aus, senkte den Blick, der sich auf der reflektierenden Oberfläche der Glasflasche wiederfand, während er über ihre Frage nachdachte. Was sie gesagt hatte, gab ihm Hoffnung. Dass sie doch noch das Mädchen war, das er so sehr vermisste. Nur stärker. Damit konnte er vielleicht leben, auch wenn es ihm Angst machte. Was, wenn sie ihn dann nicht mehr brauchte? Wenn sie ihren eigenen Weg ging, ohne ihn? Holte ihn seine Dunkelheit dann doch wieder ein?
Doch für den Augenblick verdrängte Lucien diese Gedanken. Er nahm den Arm von der Lehne des Sofas, griff nach der Flasche – aber nicht, um zu trinken, sondern um sie aus dem Weg zu haben – und streckte sich mit einer von Erschöpfung gekennzeichneten Langsamkeit auf der Sitzfläche aus, bis er den Kopf auf Talins Oberschenkel betten konnte. Auch wenn er sich damit zunächst der Berührung ihrer Hände entzog. Jetzt so zu liegen, war ihm das wert.
Die Flasche stellte er vor seinem Bauch ab, schloss dabei die Augen.
„Ich möchte es glauben“, antwortete er letzten Endes leise. „Gib mir ein bisschen Zeit, es selbst zu sehen, in Ordnung?“ Er blinzelte, wandte dann leicht den Kopf, sah zu seiner Schwester auf und lächelte eine Spur amüsiert. Aber nach wie vor unendlich sanft. „Sind wir eigentlich bald durch mit diesem Spiel? Oder hast du immer noch Fragen?“
Sie musste hören, dass er ihr glaubte. Denn wenn er es nicht tat, wusste sie nicht, was sie noch tun sollte. Sie hatte Angst, ihn zu verlieren. Angst, dass er ihr entglitt und deshalb musste er ihr einfach glauben, ihr vertrauen. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was sie tun würde, wenn sie ihn für immer verlor. Deshalb wartete sie wie verrückt auf seine Antwort. Und verkrampfte sich, als er nach der Flasche griff. Talin dachte wirklich, er würde ihr nichts sagen, doch stattdessen machte er sich lang und lag nur wenig später mit seinem Kopf auf ihrem Oberschenkel. Völlig verdutzt und überfallen lachte die Blonde auf und ließ eine Hand auf seine Schulter, die andere auf seinen Kopf sinken, wobei sie sofort anfing, ihm sanft übers Haar zu streicheln. Für einen Moment verharrte sie still, während sie seinen Worten lauschte. Sie antwortete ihm ebenso leise und unendlich sanft.
„In Ordnung.“
Für den Augenblick musste es reichen. Sie würde ihm so viel Zeit geben, wie er brauchte, um ihr wieder zu vertrauen, um ihr zu glauben. Immerhin trug sie eine Mitschuld an der verfahrenen Situation.
Als er den Kopf leicht drehte, ließ sie die Hand an seinem Haar, fuhr immer und immer wieder hindurch. Sie sah ihm in die Augen und Belustigung funkelte in ihrem Blick.
„Natürlich habe ich noch Fragen. Aber jetzt fällt es mir schwer sie dir zu stellen. Ich habe Angst, du springst gleich wieder auf.“
Talin hob die Hand von seiner Schulter und fuhr seine Gesichtszüge nach, hinunter zu seinem Kinn, dann seinen Hals und schließlich andeutungsweise zu seinem Nacken. Die Belustigung war aus ihrem Blick verschwunden, aber die Sanftheit immer noch da.
„Diese Narbe hier… stammt sie auch aus deinen ‚Verhören‘?“
Ihr Lachen brachte ihn zum Lächeln; ihre Finger in seinem Haar dazu, die Augen wieder zu schließen. Beides zusammen verhinderte, dass er – wie sie zunächst befürchtete – sofort wieder auf Distanz ging. Zurück wich und gar aufstand. Als ihre Hand über sein Kinn bis zu seinem Hals glitt, drehte er nur den Kopf wieder zur Seite, erlaubte ihr damit sogar einen direkten Blick auf die Narbe, die sie ansprach. Nicht ganz freiwillig, aber er konnte nicht ewig zu ihr hinauf sehen, ohne sich dabei das Genick zu verdrehen. Ein kalter Schauder rann ihm über den Rücken, als ihre Finger die wulstige Haut streiften, obwohl er die Berührung selbst kaum spürte.
„Ah... Ich hätte nicht nachfragen sollen...“
Er lächelte immer noch, doch seine Stimme verriet auch zynische Bitterkeit. Noch konnte er antworten, aber er bezweifelte, dass es so blieb, wenn sie weiter bohrte.
„Nein. Die stammt von der Renaissance.“
Fast augenblicklich rührten sich an den Rändern seines Bewusstseins Erinnerungen, drängten sich ihm auf. Eine leise Stimme, die ihm krankhaft zärtlich versicherte, dass er überleben würde. Sein Puls beschleunigte sich, sein Herz krampfte. Er holte tief Luft, öffnete die Augen, starrte geradeaus in die Kajüte. Talins und seine Kajüte. Auf der Sphinx. Er war wieder dran.
„Wenn ich dir verspreche, bei jeder anderen Frage artig liegen zu bleiben… stellst du dann keine weiteren Fragen zu dem, was auf diesem Schiff passiert ist?“
Ihre Fingerspitzen glitten über die wulstige Narbe in seinem Nacken und eine leichte Gänsehaut überzog ihre Arme. Die Erinnerungen an den Abend, als sie zum ersten Mal darüber gestrichen hatte, stieg in ihr hoch und sie verfluchte sich innerlich selbst, dass sie damals zurückgezuckt war. Weil er sich verändert hatte. Es war so ein dummer Grund, ihn nicht zu akzeptieren, wie er geworden war. Weder sie noch er hätten das, was ihnen passiert war, unbeschadet überstehen können. Was auch immer ihm passiert war.
Talin sah hinab auf Luciens Gesicht und konnte sein Lächeln sehen, auch wenn es sich nicht im Ton seiner Worte spiegelte. Bitterkeit. Ja, sie kam der Sache wohl wirklich näher. Die junge Frau schluckte leise und war kurz davor, gleich eine weitere Frage zu stellen. Zumindest bis ihr einfiel, dass sie gar nicht damit dran war, sondern Lucien. Sie biss sich auf die Unterlippe, während ihre Hand weiter über seinen Kopf kraulte. Die andere hatte sie aus seinem Nacken gezogen und fuhr sanft die Linien seiner Ohrmuschel nach. Als er schließlich seine Frage stellte, schloss sie für einen Moment die Augen, bevor sie mit einem traurigen Lächeln zu ihm hinab sah.
„Das kann ich dir nicht versprechen“, erklärte sie sanft. Sie blickte auf die Flasche, die vor seinem Bauch stand. „Wir haben gesagt, eine Flasche lang kann jeder die Fragen stellen, die er stellen möchte. Und auch, wenn es mir das Herz zerreißt, möchte ich mit dir darüber reden. Selbst wenn du wählst, mir keine Antwort zu geben.“
Sie atmete tief durch und schaute auf ihre Hände hinab.
„Warum hat jemand auf diesem Schiff dich gefoltert?“
Denn als etwas anderes konnte man diese Narbe nicht bezeichnen. Die Wulst hatte nie die Zeit gehabt, gänzlich zu heilen. Zumindest nicht so, wie sie es hätte tun sollen.
Es hätte angenehm sein können, in ihrem Schoß zu liegen, ihre Berührungen zu genießen. Das sanfte Streichen entlang seines Ohres, das ihm eine sachte Gänsehaut über die Arme jagte. Ihre Finger, die beständig durch sein Haar strichen und versuchten, ihn zu beruhigen. Doch ihre Antwort ließ ihn sich nur anspannen, ließ ihn tief seufzen und wie auch Talins Blick huschte der seine zu der Flasche, die an seinem Bauch lehnte. Er hatte kein Recht, jetzt enttäuscht zu sein, dass sie ihn nicht vom Haken ließ… war es aber trotzdem. Aber das war ihre Vereinbarung gewesen, nicht wahr? Jeder durfte seine Frage stellen, jeder musste ehrlich antworten – oder trinken. Er hatte sich darauf eingelassen und konnte jetzt nicht so tun, als gelte die Absprache für ihn nicht, nur weil die Fragen unangenehm wurden. Er hatte nur nicht damit gerechnet, dass Talin das durchzog. Statt, wie bisher, locker zu lassen, wenn sie spürte, dass er sich verkrampfte.
Seine Hand ging zur Flasche, hielt sich an ihr fest, zögerte aber. Es wäre jetzt so einfach gewesen. Er hätte ihr einfach erzählen können, was passiert war. Ein Teil von ihm wollte es erzählen – irgendjemandem. Aber die Antwort war nicht einfach. ‚Ich weiß es nicht‘ wäre eine Möglichkeit gewesen. Doch sie entspräche nur zur Hälfte der Wahrheit. Er wusste nicht, was in einem kranken Hirn vor sich ging. Nur, was Grund und Ziel dieser Folter gewesen war. Aber das offenbarte Dinge, die er Talin nicht sehen lassen wollte. Und jede weitere, ausweichende Antwort hätte zu mehr Fragen geführt. Und mehr Dingen, die er sie nicht sehen lassen wollte.
Also setzte er die Flasche an die Lippen und trank einen großzügigen Schluck. Warm rollte sich der Alkohol in seinem Bauch zusammen, doch er hatte den Rum schon wieder zurück gestellt, bevor mehr davon folgen konnte. Sein Kopf sank wieder auf ihren Schenkel und er blinzelte in das schummrige Zwielicht der Kajüte.
„Wie hast du das, was du erlebt hast, hinter dir gelassen? Ich meine… wie hast du es überwunden? Durch Rasiria?“
Es tat ihr weh, die Anspannung in seinem Körper zu spüren. Sie wollte zurückrudern, wollte ihn in Ruhe lassen. Aber wer, wenn nicht sie, würde ihm denn helfen wollen? Selbst wenn sie jeden einzelnen aus der Crew durchging, war Lucien ihr am wichtigsten und niemandem sonst. Wie also könnte sie ihn mit seinen Schmerzen allein lassen?
Noch bevor er nach den Flaschen griff, wusste sie, er würde trinken. Aber sie ließ es ihm schweigend durchgehen. Ihre Frage war gemein gewesen, das wusste sie nur zu gut. Dass er allerdings nicht mehr trank, das verwunderte sie. Ebenso wie die Tatsache, dass er nicht aufsprang, sondern sich wieder auf ihren Schoß zurückfallen ließ. Ein paar Mal blinzelte sie, strich dann aber wieder durch seine Haare und sein Ohr entlang über seinen Kiefer. Wann hatte sie ihn schon einmal in so schmusiger Stimmung? Sie lächelte noch einen Augenblick, bis seine Frage zu ihr durch drang. Ach ja. Nachdenklich legte Talin den Kopf schräg.
„Überwunden… ich weiß nicht einmal, ob ich es wirklich überwunden habe. Manchmal überfällt es mich immer noch… Aber nein, es war nicht nur Rasiria. Sie hat mir geholfen, dass ich Berührungen wieder zu lassen konnte, ohne einen Schreikrampf zu kriegen. Es gab auch noch Hibhe, sie war die Inhaberin eines Bordells. Sie war wie die Mutter, die wir uns als Kinder gewünscht haben. Dann gab es noch die Musik. Ich habe wann immer es ging gesungen, sobald ich mich dazu aufraffen konnte. Und dann gab es dich. Jeder einzelne Tag begann und endete schließlich mit dir. Ich wollte dich so unbedingt finden, dass mich das am Leben erhalten hat.“
Kurz holte sie tief Luft, versuchte die Enge in ihrer Brust zu vertreiben und beugte sich schließlich vor, um ihm einen Kuss auf die Schläfe zu drücken. Seinen vertrauten Geruch einzuatmen beruhigte sie.
„Wer hat dich so gefoltert?“
Also hatte sie es gar nicht ‚überwunden‘. Würde es vielleicht gar nicht. Vielleicht überwand man so etwas nie. Es blieben Erinnerungen, die Spuren hinterließen. Und trotzdem war sie noch seine kleine Schwester. Immer noch kindlich mit dem Kopf in den Wolken. Immer noch bereit zu lachen, Glück zu empfinden, ihren Weg zu gehen – obwohl Juan sie gebrochen hatte.
Lucien schloss mit einem lautlosen Seufzen die Augen. Nur bis zu ihrer nächsten Frage. Nur so lange wollte er genießen, dass sie ihn berührte und ihre Nähe den Zorn verdrängte, der irgendwo in ihm schlummerte. Er war zu müde, zu erschöpft, um wütend zu sein. Der Alkohol tat seinen Dienst.
Über ihm beugte Talin sich zu ihm hinunter, hauchte ihm einen Kuss auf die Schläfe und sanfte Wärme breitete sich in seinem Bauch aus. Er hätte gelächelt, hätte sie in diesem Moment nicht gefragt und ihn dazu gebracht, die Augen zu öffnen. Ließ er sie geschlossen, rutschte er ab. Auch wenn er nicht antworten würde. Er gab einen unwilligen Laut von sich, griff nach der Flasche und gönnte sich einen großen Schluck. Einen, nicht mehr. Auch wenn ihm kurz der Gedanke kam, alles auszutrinken – dann wäre die Fragerunde vorbei. Aber er wollte nicht unfair sein.
Wieder sank er zurück auf Talins Schoß, spürte einen Moment lang dem warmen Gefühl nach, das der Rum in ihm hinterließ und fühlte bereits diesen flüchtigen Schwebezustand, der auf die ersten Gläser folgte.
„Und jetzt? Rasiria ist nicht mehr da; diese Frau, Hibhe, ist auch nicht hier. Du kommst nicht dazu, Musik zu machen und mich hast du bereits gefunden. Was hilft dir jetzt, damit zu leben?“
Ein leiser Seufzer entrang sich ihr, als er wieder nach der Flasche griff und einen Schluck trank. Natürlich hatte sie gewusst, dass er ihr nicht so einfach antworten würde. Wenn er ihr schon auf die Wieso-Frage nicht antwortete, warum dann auf das wer? Dafür aber hatte sie seinen unwilligen Laut sehr deutlich gehört. Entweder es störte ihn, dass sie fragte oder aber es missfiel ihm, sich von ihrem Bein aufzurichten und nach der Flasche zu greifen. So oder so brachte er sie zum Schmunzeln. Auch wenn das Thema absolut nicht erfreulich war und es sie frustrierte, dass er nicht antwortete.
Als er wieder lag, fuhr sie sofort damit fort, ihm mit den Fingern durchs Haar zu kämmen, sanft über seine Kopfhaut zu kratzen. Bei seiner Frage allerdings hielt sie mit dem Kraulen verwundert inne und sah auf ihn hinunter. Fragte er das gerade wirklich? Ein leises Glucksen entkam ihr, bevor sie überrascht auflachte. Sanft streichelte sie ihn wieder.
„Ich bin etwas verwirrt, dass du das fragst. Ja, weder Rasiria noch Hibhe sind hier. Ja, ich kann gerade nicht singen und ich habe dich schon gefunden… aber wieso denkst du, dass ich die Menschen, die Musik oder eine Aufgabe als Ablenkung brauche, wenn du doch hier bist? Ich weiß, dass du wieder bei mir bist. Ich schlafe jeden Abend mit dem Wissen ein, dass du in der Nähe bist und wache damit auf. Deine Anwesenheit hat schon immer die Schatten von mir fortgewischt.“
Sie schmunzelte noch leicht, aber es verschwand wieder, weil sie daran dachte, dass sie nun fragen musste. Sie wollte nicht. Sie wollte nicht weiter in ihn dringen und sie beide zwingen, aber… verdammt noch mal, er musste doch sehen, dass sie es wissen wollte, um ihm zu helfen! Sehr leise stieß sie die Luft aus.
„Was hat dir derjenige noch angetan?“
Das angenehme Kraulen ließ Lucien sanft erschauern. Er genoss dieses Gefühl. Doch Talins leises Lachen brachte ihn dazu, den Kopf leicht zu ihr zu drehen und zu ihr aufzusehen. Noch während sie sprach, hob er flüchtig die Augenbrauen. Es wirkte überrascht. Überrascht, weil er nie auf den Gedanken gekommen war, er könnte die gleiche Wirkung auf sie haben, wie sie auf ihn. Für ihn hatte sie immer… aus sich heraus gestrahlt. Unerschütterlich. Sie brauchte niemanden dafür. Schon gar nicht ihn.
Mit einem leisen, müden Seufzen drehte er sich vorsichtig auf den Rücken, hielt mit einer Hand nur die Flasche fest, damit sie nicht vom Sofa fiel. Er wurde stiller, nach und nach. Erwiderte nicht mehr viel auf das, was sie sagte. Auch in ihm wurde es stiller. Er zog sich in sich selbst zurück.
Die tiefgrünen Augen huschten über ihre Züge, als suche er nach etwas. Ohne zu wissen, was. Wärme, tiefe Zärtlichkeit lag in seinem Blick, als er die Linke hob, sie sacht an ihre Wange legte. „Talin...“ Nicht mehr als ein Flüstern. Sie wollte ihm nur helfen, er wusste das. Und vielleicht hätte sie ihm helfen können. Aber er ließ sie nicht. Er hatte das, was ihn verfolgte, selbst getan. Also würde er selbst damit zurecht kommen müssen. Es war nicht für sie bestimmt.
Ohne hinzusehen griff er wieder nach dem Rum. Er setzte ihn an die Lippen, trank und sein Blick entglitt ihr, huschte zur Decke, dann ins Leere. Nur um ihr auszuweichen. Und dieses Mal nahm er mehr. Mehr, um die Erinnerung zu vertreiben. Aber die Flasche war noch fast voll und er konnte sie unmöglich in einem Zug leeren. Also musste er sie absetzen. Und das Spiel ging weiter.
„Was willst du wirklich, Talin? Was wünschst du dir von mir?“
Flackernd richteten sich die grünen Augen wieder auf das Gesicht seiner Schwester, hielten ihren Blick fest, und seine Hand lag noch immer an ihrer Wange.
Auch jetzt wusste sie wieder, er würde ihr keine Antwort geben. Sie erwartete eher das selbe Bild wie die letzten beiden Fragen. Seufzen, schweigen, einen Schluck trinken, sich hinlegen und eine Frage stellen. Doch stattdessen drehte er sich um. Talin blinzelte überrascht und ließ ihre Hand auf seinem Haar ruhen, während er sich auf den Rücken legte und dann zu ihr aufsah. Ein fragender Ausdruck legte sich in ihre Augen, bis sie die Sanftheit in seinem Blick erkannte und er seine Hand an ihre Wange legte, er ihren Namen sagte. Für einen Moment wurde sie schwach. Sie wollte sich vorbeugen, ihn umarmen, ihm sagen und gleichzeitig selbst glauben, dass alles wieder gut werden würde. Sie spürte, wie sie sich ein winziges Stück in seine Richtung bewegte, sich diesem Sog ergeben wollte, als er nach der Flasche griff und trank.
Die Blonde fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen, zeigte es aber nicht. Sie stieß nur ein leises Seufzen aus. Dass er ihr eine Frage stellte, machte es nicht besser. Sie konnte seinen Blick nicht mehr ausweichen. Krampfhaft schluckte sie, während sie sich geradezu in seinem Haar festkrallte.
„Ich habe dir ein Versprechen gegeben und ich werde mich daran halten. Ich wünsche mir, dass wir einander wieder bedingungslos vertrauen können, dass du mir vertraust, der Talin, die ich geworden bin. Dass du mir sagst, was dich beschäftigt. Dass du mir sagst, was dir geschehen ist.“ Ihre Stimme wurde sehr leise. „Denn ich glaube nicht, dass Alkohol und Frauen dir dabei helfen, damit fertig zu werden. Egal, was dir passiert ist, ich werde dich nicht verlassen oder dir sagen, dass du jetzt ein abscheulicher Mensch bist.“
Ihr Blick glitt von seinen Augen zu ihrer verkrampften Hand in seinen Haaren. Unter größter Anstrengung löste sie die Muskeln und streichelte wieder sanft über sein Haar. Sie musste eine Frage stellen. Irgendeine, die sie von diesem Gefühlschaos wegzog, damit sie nicht irgendetwas Dummes tat. Sie hätte weitere Fragen über das Schiff stellen sollen, aber alles war wie leer gefegt. Bis auf diese eine Sache.
„Vertraust du mir denn nicht mehr?“
Seine Gedanken wurden fahriger, unsteter und doch ahnte er, was die Antwort sein würde. Seine Hand löste sich von ihrer Wange, ein unschlüssiges Zögern. Seine Mauern bekamen Risse. Er stieß leise, halb zynisch, halb resignierend die Luft aus und berührte sie wieder. Strich sanft über ihre Haut bis seine Finger ihren Haaransatz streiften und sich goldene Wellen über seine Hand ergossen.
„In deinen Augen werde ich nie ein abscheulicher Mensch sein, nicht wahr? Ganz egal, was ich tue oder getan habe.“ Ein Lächeln huschte über seine Lippen und die tiefgrünen Augen wanderten mit einem unendlich sanften Ausdruck über ihre Züge. Lucien verstummte und senkte den Blick, suchte nach Worten. Nach Antworten, die er ihr geben konnte. Er wollte ihr vertrauen. Ein kleiner Teil in ihm, das Kind, das er fast umgebracht hatte, wollte sich ihr anvertrauen. Und er kam gegen dieses Gefühl nicht an.
„Ich…“ Er stockte und begann von neuem: „Bei jeder Frage, die ich nicht beantworten wollte, geht es nicht darum, was mir angetan wurde. Sondern darum, was ich getan habe. Ich… habe etwas getan – auf diesem Schiff – wofür ich mich verabscheue. Etwas, das ich nicht einfach abstreifen kann. Und diese Narbe erinnert mich daran. Jeden Tag. Jede Nacht. Mit jeder Berührung. Ich ertränke die Bilder, die sie wachruft. Mit Alkohol. Mit Frauen. Aber ich kann sie nicht vergessen. Und du kannst mir nicht helfen.“
Wieder huschten die grünen Augen zu ihr zurück, baten sie stumm darum, es einfach nicht länger zu versuchen. Seine Hand schmiegte sich an ihre Wange, mit dem Daumen fuhr er sanft die Linie ihrer Braue nach.
„Ich kann dir nicht mehr erzählen. Diese Dinge sind nicht für dich bestimmt. Aber das heißt nicht, dass ich dir nicht vertraue.“
In ihrem Kopf herrschte Chaos, ihre Gefühle überschlugen sich und seine Berührung verschwand. Beinahe hätte Talin ein leises Wimmern von sich gegeben, aber sie hielt sich zurück, weil seine Hand nur kurz darauf wieder bei ihr war. Die Blonde schloss die Augen und folgte seiner Berührung, jedem entfachten Nerv in ihrem Gesicht. Ihr wollten die Tränen kommen, doch sie wusste nicht, wieso. Auf seine rhethorische Frage hin schüttelte sie nur heftiger den Kopf, denn es war ja nun einmal wirklich so. In ihren Augen konnte er nichts falsch machen. Wie sollte er auch? Das Schlimmste, was sie ihm jemals hätte vorwerfen können, war, dass er eine Vorliebe dafür hatte, mit Frauen zu schlafen, mit denen sie auf irgendeine Art und Weise befreundet war. Aber daran war er niemals allein Schuld, also wollte sie ihm das nicht vorhalten. Aber er schien das anders zu sehen.
Talin öffnete langsam die Augen und hielt ihren Blick auf sein Gesicht gerichtet, folgte jeder einzelnen Regung. Er sah weg, überlegte, was er ihr sagte und ihr Herz setzte einen Schlag aus, bevor es wütend davon galoppierte. Er verabscheute sich für etwas, was er auf diesem Schiff getan hatte? Wofür? Dafür, dass er überlebt hatte, im Gegensatz zu allen anderen? Dafür, dass er zu ihr zurückgekehrt war? Ihr Blick fiel auf seinen Hals, aber eigentlich sah sie die Narbe in seinem Nacken. Tiefer, noch nie zuvor gekannter Hass – noch schlimmer als für Juan – durchfuhr sie und ihr ganzer Körper spannte sich an. Ihre Hand hatte sich aus seinem Haar gelöst. Sie wollte losstürmen und dieses Schiff jagen.
Wer immer dieser Mensch war, der ihrem Bruder das Gefühl gegeben hatte, nichts mehr wert zu sein, obwohl er überlebt hatte – sie wollte ihn finden und umbringen. Auch seine Berührung half ihr nicht, sich wieder zu beruhigen. Sie hörte seine Worte, wie durch ein Rauschen, aber trotzdem wusste sie, was er ihr sagen wollte. Das, was auf diesem Schiff passiert war, hatte kaputt gehen lassen, was zwischen ihnen so kostbar war.
Ihr Blick glitt an Luciens Kopf vorbei und sie sah, dass sie einen ihrer Dolche in der Hand hielt. Als wollte sie sofort auf jemanden einstechen. Während ihr Blick zu seinem Gesicht zurückglitt, griff sie nach der Hand, die die Flasche hielt und streichelte sanft darüber. Er konnte nichts dafür, egal, was er ihr sagte. Sie würde ihm niemals die Schuld dafür geben, was ihm zugestoßen war und dass sich dadurch alles zwischen ihnen verändert hatte. Deshalb trat in die Kälte in ihrem Blick auch eine überragende Sanftheit, als sie ihm wieder in die Augen sah. Aber sie würde niemals diesem Monster verzeihen. Weder seinem noch ihrem. Und sie hasste diese beiden Schatten, die ihnen jeweils ihr Zeichen aufgedrückt hatten.
„Es reicht mir. Ich werde erst einmal nicht weiter bohren. Es tut mir so leid, großer Bruder. Es tut mir leid, dass dir das passiert ist, dass dich das gezeichnet hat und dass ich vor der Narbe in deinem Nacken zurückgezuckt bin.“ Sie schwieg kurz, bewegte langsam ihren linken Arm. „Aber noch mehr tut es mir weh, dass es dich nicht los lässt. Das derjenige immer noch so eine Macht über dich hat. Ich glaube“, ihre Stimme wurde wieder sehr leise und sie wusste, sie würde gleich etwas sehr dummes und impulsives tun, „Ich glaube, ich will nicht, dass wir beide Narben haben, die uns nur an unsere Albträume erinnern.“
Damit ließ sie ihren Arm nach vorn schnellen und schnitt einmal sowohl über ihren als auch über seinen Handrücken.
Er hatte zu viel gesagt. Viel zu viel. Noch während er sprach, verdunkelte sich ihr Blick. Auf ihrem Gesicht lag ein Zorn, den er von ihr nicht kannte, den er noch nie gesehen hatte. In ihren Augen lag eine Kälte, die ihn erschaudern ließ.
„Talin...“, flehte er, kaum hörbar, und wusste nicht, worum er sie anflehte oder was er ihr sagen wollte. Nicht wütend zu sein? Seine Worte zu vergessen? Dass er sich wünschte, er hätte sich damals für den Tod entschieden, statt die Dinge zu tun, die er hatte tun müssen, um zu leben? Ihr Zorn richtete sich nicht gegen ihn, das wusste er. Das sagte ihm diese unendliche Sanftheit, mit der sie seinen Blick erwiderte. Aber er konnte nicht damit umgehen, das sie seinetwegen so wütend, so hasserfüllt wurde. Hass war etwas, das zu ihm gehörte. Nicht zu ihr.
Er gab einen Laut von sich, als wollte er das Wort ergreifen, stockte dann jedoch. Sie kam ihm zuvor und er hätte ohnehin nicht gewusst, was er sagen sollte. Also schwieg er, sah nur zu ihr auf und schloss schließlich hilflos die Augen. Seine Hand sank von ihrer Wange und er stieß den angehaltenen Atem aus.
Sie verdammte ihn zum Zuhören und in ihm regte sich Unmut. Er wollte sie aufhalten, ihr den Mund verbieten. Sie sollte aufhören, zu sagen, das es ihr Leid tat. Nichts davon war ihre Schuld, sondern seine. Seine Entscheidung.
Lucien holte Luft, sah wieder zu ihr auf. Doch bevor er wirklich realisierte, was sie da gesagt hatte, bevor er auch nur auf die Idee kam, was sie tun könnte, schoss ein scharfer Schmerz durch seine Hand.
„Ah, verdammt!“
Aus purem Reflex riss er die Hand zurück, stieß damit die Flasche um, die noch auf dem Sofa umkippte und ihren Inhalt auf die Planken ergoss, bevor sie ihm mit einem dumpfen ‚Klonk‘ dorthin folgte. Er setzte sich ruckartig auf und hob die Hand, um sich anzusehen, was sie getan hatte. Blut sickerte über die Wundränder eines langen, geraden Schnitts und rann sein Handgelenk hinunter. Sein Herz schlug plötzlich schneller und sein Blick huschte zu seiner Schwester hinüber. Verwirrt, nicht zornig.
„Warum...?“
Dann erst sickerte zu ihm durch, was sie zuletzt gesagt hatte. Was sie mit diesem Schnitt bezweckt hatte. Langsam ließ er die Hand sinken und sah sie an. Schließlich schüttelte er leicht den Kopf und seufzte.
„Zeig mir deine Hand.“
Kaum hatte sie die Waffe zurückgezogen, als auch schon Blut aus der Wunde floß. Als die Rumflasche auf den Boden landete, meldete sich der Schmerz in ihrer Hand und sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Talin presste die Lippen auf einander und ließ sich gegen die Rückenlehne sinken, gerade als Lucien sich aufrichtete. Doch sie sah ihn gar nicht. Ihr Blick war starr auf ihren blutenden Handrücken gerichtet und sie hieß den Schmerz willkommen. Es lenkte sie von der Wut ab, die immer noch durch sie raste, wie ein Flächenbrand. Aber diese Wunde... sie würde eine Narbe bilden und diese Narbe würde nur ihnen beiden gehören.
Für einen Moment schloss sie die Augen, als Lucien schließlich zu ihr sprach. Mit ruhigen Blick sah sie zu ihm auf, auch wenn ein paar Tränen darin schimmerten. Es überraschte sie ein wenig, dass er nicht sauer wurde. Wahrscheinlich wäre sie wütend auf ihn, wenn er sie einfach so mit seinem Dolch verletzt hätte. Aber er blieb ruhig und machte sich sogar sorgen. Ein kleines belustigtes, aber sanftes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen und sie hielt die Hand auf Höhe ihres Gesichts hoch. Fast sofort spürte sie, wie das Blut nach unten floss.
„Wahrscheinlich war das einer meiner dümmeren Ideen. Aber es wird eine Narbe sein, die nur uns beiden gehört.“ Sie musste schlucken, denn was sie sagen würde, passte ihr nicht, aber sie musste ihn beruhigen. „Ich...ich verstehe vielleicht nicht alles. Aber das hier. Das kann uns keiner nehmen. Und so lange ich weiß, dass auch du diese Wunde hast, kann ich immer an dich denken und die Dunkelheit damit verscheuchen.“
Zaghaft lächelte sie ihn wieder an und hielt Lucien dann schließlich ihre Hand hin.
„Ich liebe dich, großer Bruder. Das werde ich immer tun.“
Lucien seufzte nur tief. Er lächelte nicht, wirkte ernst, aber er konnte seiner kleinen Schwester in diesem Augenblick auch nicht böse sein. Nicht bei dem, was sie sagte. Eine Narbe, die nur ihnen beiden gehörte. Er sah noch einmal hinab auf seine Hand, auf den blutigen Schnitt, der sich nun quer über den Handrücken zog. Eine Narbe, die weder sie noch er mit etwas Schlechtem verband. Sondern mit etwas Gutem. Miteinander.
„Oh Talin...“, stieß er leise, fast resignierend aus.
Mit der unverletzten Hand löste er das Band, das den Kragen seines Hemdes zusammenhielt, streifte sich das Kleidungsstück vom Kopf und schüttelte sich kurz die daraufhin zerzausten Haare aus dem Gesicht. Sein Blut hinterließ Spuren auf dem hellen Stoff des Ärmels, doch auf seine eigene Hand achtete er nicht weiter, richtete seine Aufmerksamkeit stattdessen auf die seiner Schwester.
Sanft umfasste er ihr Handgelenk, damit sie bei der Berührung nicht zurück zuckte und wischte mit einem sauberen Stück Stoff vorsichtig, unendlich zärtlich das Blut von ihrer Haut. Etwas, das er schon hunderte Male getan hatte, wenn sie sich als Kind verletzte. Wenn sie sich die Hände am Waschbrett wund geschrubbt oder beim Beeren Sammeln an den Dornen hängen geblieben war. Nicht anders als früher.
Vorsichtig wickelte er sein Hemd ein, zwei Mal um ihre Hand. Nur damit nicht noch mehr Blut aus der Wunde trat, bis sie den Schnitt richtig versorgen konnten. Dann sah er wieder zu ihr auf, begegnete ihrem Blick und in den tiefgrünen Augen einen halb strafenden, halb sanften Ausdruck.
„Du bist unmöglich.“