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I wish I was brave enough - Lucien Dravean - 18.08.2020

I wish I was brave enough
Kurz vor Ankunft in Silvestre in der Kapitänskajüte der Sphinx


Talin & Lucien
16. Mai 1822 | in der Nacht zum 17. Mai | Kapitänskajüte


Laue Abendluft umspielte Talins Haar, als sie nachdenklich auf das Meer hinaussah. Ihre Finger spielten am Verschluss der Flasche in ihren Händen herum, bevor sie diese schließlich fester fasste. Mit einem leisen Seufzer stieß sie sich von der Reling ab, wobei ihr verletzter Arm für einen Moment schmerzte. Sie ignorierte es. Dann ging sie hinunter in die Kajüte. Es war einer der wenigen Tage, an denen sie zusammen mit Lucien frei hatte. Wieso also nicht die Zeit einfach gemeinsam verbringen?
Als sie die Tür öffnete, sah sie ihn so, wie erwartet. Obwohl nach ihrem damaligen Gespräch sich die Stimmung gebessert hatte, schien irgendetwas ihn wieder zu schaffen zu machen. Er trank und das nicht zu knapp. Also wurde es Zeit, eine kleine nervige Schwester zu sein.

Ich bringe Nachschub, Brüderchen.“ Sie schwenkte die Rumflasche in ihrer Hand. „Was dagegen, wenn wir sie uns teilen?



Lucien ließ den Hinterkopf gegen die Schiffswand sinken, an der das blaue Sofa stand und schloss die Augen, genoss das sanfte Schwanken unter seinen Beinen, das sich nahtlos mit dem in seinem Kopf fortsetzte. Noch hielt sich seine Rastlosigkeit bei dem Gedanken an das nahende Land in Grenzen, doch er wusste, das sie kommen würde. Ein, zwei Tage nur, dann würde er wie der Gejagte, der er war, am Heck des Schiffes stehen und darauf warten, diese verfluchten Segel am Horizont zu sehen. Und er glaubte langsam, bei dem Gedanken daran durchzudrehen. Er hasste dieses Gefühl von Hilflosigkeit. Nichts tun zu können, außer zu warten.
Er setzte die Flasche an die Lippen, die bereits annähernd leer war – ausnahmsweise nur deshalb, weil er schon gestern Abend damit begonnen und auf der Hälfte eingeschlafen war – und ließ einen großzügigen Schluck seine Kehle hinab rinnen. Längst war sein Magen so taub, dass er die Schwere des Portweins nicht mehr spürte. Er hätte wahrscheinlich auch Wasser trinken können. Wurde Zeit für etwas Stärkeres.
Als hätte sie seine Gedanken gehört, öffnete sich in diesem Moment die Tür zur Kajüte. Talin.
Fast sofort verkrampfte sich etwas in seiner Brust, erinnerte ihn daran, wie verzweifelt er vor Sorge um sie vor nur wenigen Tagen noch gewesen war. Er setzte die Flasche ab, runzelte fragend die Stirn und richtete den Blick auf das, was sie in der Hand hatte.
Ihre Worte weckten sein Misstrauen. Und das mit gutem Grund.

Du willst was?



Ihr Blick huschte kurz über Lucien, um sich zu vergewissern, dass es ihm – bis auf den hohen Alkoholgehalt – gut ging. Die Besorgnis löste sich ein wenig in ihr, blieb aber nach wie vor vorhanden. Sie würde sich immer sorgen. Nach den Geschehnissen auf dieser verfluchten Insel war ihr das nur um so deutlicher bewusst geworden. Innerlich schüttelte sie den Kopf und verdrängte die Bilder von dieser Nacht. Die Wunden von damals heilten, dass war vorerst alles, was wichtig war. Luciens Frage riss sie schließlich wieder zurück und sie zog überrascht beide Augenbrauen in die Höhe, während sie zeitgleich schmunzeln musste.

Ist das denn jetzt so überraschend? Weil ich etwas mit dir trinken will?
Sie schwenkte noch einmal die Flasche, bevor sie sich neben ihn auf das Sofa setzte. Ein Bein angewinkelt und ihm zugewandt, entkorkte sie die Flasche und hielt sie zwischen sie beide.

Ich weiß, du verträgst wesentlich mehr als ich, aber ich habe auch einen Hintergedanken bei meinem Angebot – du kannst also auch ablehnen.“ Vielleicht. „Ich möchte das wir uns unterhalten. Wir stellen einander Fragen, über die drei Jahre, die uns verändert haben. Wer nicht antworten will, muss trinken. Das kann einem ganz schön in den Kopf schießen. Bist du dabei?



Weder ihre in die Höhe gezogenen Augenbrauen noch das Schmunzeln schafften es, sein Misstrauen auch nur ansatzweise zu mildern. Noch viel weniger aber schafften das ihre Worte. Er gab ein leises Schnauben von sich, begegnete ihrem Blick mit einer Mischung aus Schalk und Spott, bevor er die Flasche in seiner Hand noch einmal an die Lippen setzte und in einem Zug leerte. Dann stellte er sie neben seinem Fuß auf den Boden.

Das ist überraschend, weil du den Alkohol die letzten Male aus dem Fenster geworfen hast.

Was so nicht ganz stimmte, zugegeben. Es war nur ein Mal gewesen. Aber sie verstand schon, was er meinte.
Das Misstrauen blieb also, wenn sich auch eine Spur Neugier in seinen Blick mischte. Er setzte sich bequemer hin, sah seiner kleinen Schwester entgegen, während sie zu ihm kam und es sich bei ihm gemütlich machte.
Nur einen Herzschlag später wusste er, dass er sich nicht geirrt hatte. Neugier, Schalk und Spott verschwanden von seinen Zügen, machten einem Hauch Ärger Platz. Sein Blick lag unverwandt auf seiner Schwester, etwas unstet zwar, aber nach wie vor klar.

Du willst also ein Trinkspiel mit mir spielen, um mit mir über Dinge zu reden, über die ich nicht reden will? Verstehe ich das richtig?



Es war überraschend. Wenn sie all ihre eigenen Wehwehchen zur Seite stellte, konnte sie recht schnell wieder in Lucien lesen, so wie es ihr früher möglich gewesen war. Es zuckte kurz in ihren Mundwinkeln, bevor sie das Lächeln zurückhielt, während sie die Flasche sinken ließ. Sie folgte der Bewegung mit ihren Augen und dachte über seine Worte nach. Sie wusste, dass das Vertrauen zwischen ihnen schwer geschädigt war. Ein Band, dass nur noch durch ein paar Fäden zusammen gehalten wurde. Sie wollte dieses starke, reißfeste Band von damals zurück. Das, welches von niemandem zerstört werden konnte, weil sie sich nur auf einander verlassen konnten. Schließlich lächelte Talin doch, als sie wieder zu ihm aufsah, nur um dann einen Schluck aus der Flasche zunehmen.

Ich bin überrascht. Du verschwendest deine erste Frage gleich auf so etwas offensichtliches. Ich habe nur getrunken, weil es glaub ich keiner Antwort bedarf. Und weil ich den guten Rum nicht gleich wieder über Bord werfen will.“ Sie sah ihn vielsagend an. „Dann stelle ich dir jetzt eine Frage. Was trinkst du lieber: Portwein oder Rum?



Schon in dem Moment, in dem sie antwortete, wurde sein Ärger beinahe greifbar. Seine Augen verengten sich unwillkürlich. Sie spielte irgendwelche Spielchen mit ihm, hielt ihn zum Narren und das konnte er beim besten Willen auch alleine sehr gut. Doch der wirkliche Grund, weshalb er wütend wurde, war ein anderer. Nämlich die plötzliche Furcht, die ihre Finger nach ihm ausstreckte und das Bedürfnis, sich davor zu schützen. Ganz instinktiv. Weil Talin ihn zu etwas drängte, das er nicht wollte. Weil er sich davor fürchtete, was passieren konnte, wenn der Alkohol seine Zunge löste.
Warum bei allen Welten blieb er dann aber sitzen und starrte seine kleine Schwester an, statt aufzustehen und zu gehen?

Ich habe nicht gesagt, dass ich dieses Spiel mitspiele.“, warnte er sie, ohne auf die Frage einzugehen – oder den Alkohol.



Kleinen Schwestern schien das Talent, die großen Brüder aufzubringen, in die Wiege gelegt worden sein. Wie Hitze aus einem Ofen traf seine Wut sie im Gesicht. Wahrscheinlich wollte er sie gerade am liebsten erwürgen, aber er blieb sitzen. Er stürmte nicht einfach so davon. War er also wirklich so abgeneigt? Ohne ihn aus den Augen zu lassen, hob sie die Flasche wieder an und trank einen Schluck.

Dann trink ich eben für dich.“ Sie seufzte gespielt dramatisch, hielt die Leichtigkeit einfach aufrecht. Selbst wenn er nicht mit ihr dieses verrückte Spiel spielen wollte, dann sollte er vielleicht einfach explodieren? Fraglich, wie das dann enden würde.

Wieso solltest du nicht mitspielen wollen? Wovor hast du angst? Das ich dich Dinge frage, über die du nicht reden möchtest? Oder das du Dinge hörst, die du lieber nicht wissen willst? Oder hast du Angst vor dem Alkohol?



Er konnte keinen einzigen, klaren Gedanken fassen. Alkohol und Frust ließen sie glitschig werden wie frisch gefangene Fische. Talin nahm es so leicht, ließ das ganze hier wirken, als wäre es wirklich nur ein Spiel. Nur Spaß, über den sie am Ende gemeinsam lachten. Das war es für ihn nur nicht. Sein Herz schlug längst schneller, als es sollte, trieb das Verlangen, wegzulaufen, durch seine Adern. Längst schaltete sein Verstand auf Flucht. Sein Ärger war an dieser Stelle nur das Mittel der Wahl. Wie ein in die Ecke gedrängtes Tier.

Vor dem Alkohol sicher nicht.“, erwiderte er. Nur um ihr dann auszuweichen und den Blick in dem Wunsch, etwas Ablenkendes zu finden, durch den Raum schweifen zu lassen. Im Grunde hatte er ihr damit – unfreiwillig – tatsächlich geantwortet. Denn vor beidem fürchtete er sich. Und nichts anderes hatte in seinem Inneren gerade Platz, als die Angst vor Antworten. Seinen wie ihren.

Warum sollte ich mitmachen?



Er schlug um sich, wollte weglaufen. Sie sah es in seinen Augen, in der Anspannung seines Körpers. Und fast hätte sie es ihm erlaubt. Es tat ihr weh ihn so zu sehen. Aber er antwortete ihr. Sehr scharf, fast schneidend, aber er antwortete auf ihre Frage. Die innere Anspannung ließ ein wenig nach. Vielleicht war es keine Absicht gewesen, aber da war ein kleiner Riss in seiner wütenden Abwehrhaltung. Als er sie schließlich fragte, warum er mitspielen sollte, legte sie sanft eine Hand auf seine, bevor sie antwortete.

Weil du dem Alkohol nichts sagen kannst. Er hört deinen inneren Dämonen vielleicht zu, aber du sprichst die Worte nie aus, die dich belasten.“ Sie zuckte sacht mit den Schultern, sah ihm dann wieder in die Augen. „Ich zwinge dich nicht, mir auf jede Frage zu antworten. Du kannst trinken, wenn du das willst. Aber ich will das du weißt, dass ich dir zuhöre, wenn du reden willst. Ist das nicht ein Grund mitzumachen?



Seine erste Reaktion war ein leises, spöttisches „ts“. Doch er stand noch immer nicht auf und ging, sondern blieb und versuchte, seine Gedanken und Emotionen in dem unsteten Alkoholnebel zu sortieren. Sie sprangen wie wild von einem Punkt zum nächsten, seine Wut verebbte so schnell, wie sie gekommen war und hinterließ nichts als resignierten Frust. Zustimmen konnte er Talin nicht. Gerade die Tatsache, nicht zu reden, war schließlich das, was ihn zum Alkohol trieb. Aber widersprechen konnte er ebenso wenig.
Wenn er nicht antworten wollte, konnte er immer noch trinken. Bis er vielleicht so verflucht besoffen war, dass er sich an gar nichts mehr erinnerte. Vielleicht gar keine so schlechte Idee.

Ich weiß, dass du zuhören würdest. Das musst du mir nicht beweisen.

Die tiefgrünen Augen kehrten zu seiner Schwester zurück, als sie sacht die Hand über seine legte. Musterten sie einen langen, trotzigen Augenblick lang ernst. Das Misstrauen blieb und es wog schwer. Allein, weil sie es war, der er misstraute. Etwas, das es zwischen ihnen nie zuvor gegeben hatte. Vielleicht war es auch das, was sie hierzu veranlasste. Dass alles so anders war.
Lucien stieß leise die Luft aus, schloss kurz die Augen und schüttelte den Kopf.

Kommt drauf an.“, meinte er schließlich und scheinbar ganz aus dem Zusammenhang gerissen. „Manchmal ist Portwein nicht stark genug und manchmal ist Rum hinterher nicht schmerzhaft genug.“ Er begegnete erneut ihrem Blick. „Was ist, wenn mir keine Frage einfällt?“ Das 'die ich auch stellen will' verschluckte er kurzerhand.



Es herrschte ein angespannte Stille, die schwanger war von Misstrauen. Das Gefühl schnitt wie kleine Messer in ihre Haut, aber sie schwieg, ließ Lucien über ihre Worte nachdenken und sich entscheiden, wie er mit ihrem Angebot umgehen wollte. Das seine Blicke sie verletzten, ignorierte sie und sperrte es tief in ihrem Inneren ein. Immerhin war sie selbst schuld. Sie und ihr Egoismus. Ihr Blick glitt zu der Flasche in ihrer Hand und sie ließ nachdenklich den Finger über die Öffnung gleiten, als Lucien völlig unzusammenhängend auf ihre Frage antworte. Eine Frage, die sie ihm vorhin gestellt hatte, nicht gerade erst jetzt. Sie sah etwas überrumpelt wieder zu ihm auf und lächelte schließlich sacht. Sie nickte bei seiner Antwort, verstand zum Teil, warum er den jeweiligen Alkohol wählte.

Eine Mischung wäre schon praktisch. Auch wenn ich glaube, dass es sowohl beim Trinken, als auch am nächsten Morgen schmerzhaft wäre.“ Sie neigte leicht den Kopf, bevor sie die Flasche schließlich zwischen sie beide stellte. Damit konnte jeder danach greifen, wenn er nicht antworten wollte.

"Wenn dir keine Frage einfällt, dann...", sie grinste leicht, "dann fragst du etwas, was dich so interessiert. Ich hab dich nach deinem Alkohol gefragt, weil ich nicht weiß, was du lieber magst. Genau so könnte ich dich fragen, welche Farbe du jetzt magst, was du jetzt am liebsten tun würdest...Dinge die sich in drei Jahren ändern können, das kann man fragen. Das ist doch leicht, oder nicht?"



Lucien erwiderte auf ihre Zusammenfassung seiner Alkoholvorlieben nichts, beobachtete sie nur mit dem gleichen, ernsthaften Ausdruck in den Augen wie zuvor. Sie stellte die Flasche zwischen ihnen beiden auf das Polster des Sofas und begegnete erneut seinem Blick.
Doch auch ihr Lächeln erwiderte er nicht, stieß nur leise die Luft aus und senkte den Blick auf die Öffnung der Flasche vor sich – als überlege er, danach zu greifen und sich ihren gesamten Inhalt hinter die Binde zu kippen. Der Gedanke war tatsächlich verlockend.

Dafür bin ich eindeutig noch nicht betrunken genug“, stellte er leise fest, hob die Hand und rieb sich über die Augen. Etwas, das ihn einfach so interessierte? Das war leichter gesagt, als getan. Jede Frage an sie führte unweigerlich zu dieser einen Wahrheit, die er nicht sehen wollte. Sie war nicht mehr das Mädchen von damals. Und damit konnte er immer noch nicht umgehen – hauptsächlich deshalb wahrscheinlich, weil er es leugnete. Ihm fiel schlicht und ergreifend keine Frage ein, die belanglos genug war, um die Antwort ertragen zu können.

Also schön“, meinte er, hob den Blick und klang dabei fast etwas trotzig. „Welche Farbe magst du jetzt am liebsten?



Er zögerte immer noch? War er denn gar nicht neugierig? Wollte er nichts über sie wissen? Es kränkte sie schon ein wenig, dass er nicht mitmachen wollte. Aber andererseits...im Gegensatz zu ihm hatte sie den ganzen Tag Zeit, um sich darauf einzustellen Antworten zu hören, die sie nicht hören wollte und Fragen gestellt zu bekommen, die sie nicht beantworten wollte. Also musste sie sein Zögern eigentlich verstehen und nachvollziehen. Die Frage die er ihr aber schließlich stellte, ließ sie ihm einen Blick zuwerfen, der besagte: 'Ist das dein Ernst?' Er konnte auch einfach sagen, wenn er keine Lust darauf hatte. Statt ihm aber das vorzuschlagen, verdrehte sie die Augen und sah ihn dann wieder an.

Immer noch Grün, daran hat sich nichts geändert. Vermisst du unsere Kindheit?“ Sie schoss die Frage direkt ihrer Antwort hinterher.



Ihr Augenverdrehen hätte ihm vielleicht ein Schmunzeln entlocken können. Doch in diesem Moment empfand er dabei nur spöttische Genugtuung. Sie durfte ruhig wissen, wie viel er von dieser Situation hielt und dass er ebenso in der Lage war, Spielchen zu spielen, wie sie.
Doch ihre Antwort vertrieb dieses trotzige Gefühl schließlich restlos und mit einer Geste milden Spotts, wie sie wohl nur große Brüder beherrschten, hob er eine Augenbraue.
Grün. Natürlich. Immer grün.
Der Hauch eines Lächelns stahl sich auf seine Lippen und er verbarg ihn rasch, indem er den Blick senkte und nur ein einziges Mal nickte.

Meistens. Nicht alles davon. Aber das meiste – und oft.“ Er sah wieder zu Talin auf. „Und du?



RE: I wish I was brave enough - Lucien Dravean - 04.10.2020

War das...nein, das hatte sie sich sicher nur eingebildet. Er würde nach so kurzer Zeit nicht schon auftauen und freiwillig mit ihr spielen. Es fiel ihm vermutlich immer noch nicht leicht, dass ganze so einfach anzunehmen. Also widerstand sie der Versuchung zu glauben, er hätte gelächelt. Wenn Lucien schlechte Laune haben wollte, dann hatte er die auch, nicht wahr? Aber immerhin antwortete er ihr bereitwillig auf ihre Frage. Darüber musste sie lächeln, bevor sie nachdenklich an ihm vorbei sah. Vermisste sie ihre Kindheit? Eigentlich war das eine gute Frage.

Ich vermisse das glückliche Gefühl zwischen uns. Die Geschichten, unsere Träume. Aber unsere Kindheit vermisse ich nicht. Kelekuna, unsere Familie, das Dorf...all das sind Gründe kein Kind mehr dort sein zu wollen, findest du nicht? Willst du dorthin zurück? Nach Kelekuna?



Er hatte nicht spezifiziert, was genau er an ihrer gemeinsamen Kindheit vermisste. Aber es war genau das. Genau das, was sie beschrieb. Er dachte an die Zeit zurück, als sie noch so viel jünger gewesen waren, als ihr Vater ihn noch nicht mit zur See genommen und sie nur sich gehabt hatten. An die Geschichten, die er erfand, die er aus dem Seemannsgarn der alten Männer weiter spann, nur um ihr ein Lachen zu entlocken. Das Strahlen in ihren Augen, das er über alles auf dieser Welt liebte. Wehmut flackerte in seinem Blick auf. Dieses bedingungslose, endgültige, alles überstehende Vertrauen zwischen ihnen. Das vermisste er.
Doch ihre Frage lenkte ihn von diesem Gedanken ab, ließ ihn nur leicht den Kopf schütteln.

Ganz bestimmt nicht. Ich will nicht zurück gehen... Aber ich werde.

Er sah Talin nicht an, doch das leise Grollen in seiner Stimme verriet viel mehr, als er sagte. Es verriet die Gründe, weshalb er zurück gehen würde. Nur ein einziges Mal.

Singst du noch so viel wie früher?



Sie hatte es sich also doch nicht nur eingebildet! Ein wenig wurde er weicher. Und sei es nur, weil sie sehr genau wusste, was ihn beschäftigte. Das sie mit ihren Worten vielleicht genau das gesagt hat, was sie beide fühlten. Wieso also fiel es ihnen so schwer einfach wieder zu dem Punkt zurückzukommen, an dem sie sich so bedingungslos vertrauten? Wirklich weil zu viel geschehen war? Oder weil sie den jeweils anderen nicht mit ihren Geschichten beunruhigen wollten? Wie erzählte man seinem Bruder auch, was alles geschehen war? Und was mit ihm passiert war...konnte sie sich das wirklich vorstellen?
Seine Antwort riss sie aus diesen düsteren Gedanken, nur um sie ihren eigenen Erinnerungen zum Fraß vorzuwerfen. Seine Worte, seine Stimme, dass alles gab ihr ein ziemlich genaues Bild von dem Grund, aus dem er zurück wollte. Sie konnte es ihm nicht verübeln. Wenn er mehr wusste...würde er dann sofort zurück wollen, wo sie doch noch so nahe dran waren? Konnte sie ihn begleiten und sich ihren eigenen Dämonen stellen? Am liebsten hätte sie in dem Moment nach der Flasche gegriffen, um sich selbst zu betäuben, aber das hätte nur den falschen Eindruck vermittelt. Immerhin hatte er ihr ja auch eine Frage gestellt. Sie atmete tief ein und langsam wieder aus, um sich zu beruhigen.

Momentan hab ich dazu recht wenig Gelegenheit. Im Bordell habe ich viel gesungen, um die Gäste zu unterhalten und mir meine Unterkunft zu verdienen. Ich glaube, mein Grund zu singen, hat sich verändert. Ich habe schon lange nicht mehr aus purer Freude gesungen.“ Sie lächelte wehmütig in Gedanken an die ausgelassenen Stimmungen von damals. „Willst du ihn so dringend umbringen?“ Sie sah Lucien ruhig in die Augen. Sie musste nicht genauer werden, er wusste genau, wen sie meinte.



Im Grunde hatte er schon damit gerechnet, dass seine Frage den Punkt streifen würde, an dem es unangenehm wurde. Ihre Antwort jedenfalls machte ihn... nicht besonders glücklich. Ohnehin wirkte er in diesem Augenblick alles andere als das. In ihm regte sich eine so hilflose Wut, dass er zunächst schlucken musste, bevor er etwas erwidern konnte.

Brauchst du darauf wirklich eine Antwort?

Lucien begegnete ihrem Blick. Nach außen hin nichts anderes zeigend, als ruhigen Ernst. Doch in seiner Brust ballte sich wütender Rachedurst zusammen. Wem er die Schuld daran gab, dass seine kleine Schwester sich so sehr verändert hatte, verändern musste, war unzweifelhaft offensichtlich und er konnte an nichts anderes denken, keine weitere Frage stellen, ehe er sich nicht wieder halbwegs unter Kontrolle hatte.

Und nicht nur ihn.



Die Stimmung schlug ziemlich schnell um, aber Talin behielt ihre Ruhe. Es überraschte sie selbst, wie wenig aufbrausend sie im Moment war. Statt also wütend zu werden, sah sie ihrem Bruder nur weiter ruhig in die Augen, bevor sich ein kleines Lächeln auf ihre Lippen stahl. So unendlich traurig. Es zerriss sie, wie diese Wut und der Hass Lucien auffraßen. Zumindest kam es ihr so vor.

Du verabscheust sie so sehr. Ich kann es verstehen. Niemand dort war gut zu uns. Erst wollten sie uns alle tyrannisieren, dann uns flachlegen. Es ist schon lustig, dass sie uns begehrt haben. Vielleicht haben sie uns deshalb noch mehr gehasst? Aber was ihn angeht, musst du dir keine Gedanken machen. Im Grunde ist er ein wandelnder Leichnam. Was glaubst du, habe ich gemacht, als ich gegangen bin?



Der Drang, nach der Flasche zu greifen, wurde übermächtig verlockend. Nicht etwa, weil er auf irgendetwas nichts erwidern wollte, sondern schlicht und ergreifend, weil er seinem Wunsch nach Rache irgendein Ventil geben musste. Und da es im Moment niemanden gab, den er umbringen konnte, blieb nur das.
Er begegnete Talins dagegen so erstaunlich ruhigen Blick und sah schließlich zur Seite, schüttelte nur den Kopf. Ihre Vermutung, dass sich sein Hass gegen jeden auf der Insel richtete, stellte er jedoch nicht richtig.

Nicht uns, Talin. Was sie dir angetan haben, das ist der Grund. Und nur das.

Er selbst war sich dabei doch so vollkommen egal. Was sie mit ihm getan hatten, war ihm egal. Selbst die Tyrannei auf der Mytilus, von der seine Schwester nichts ahnte, war ihm egal.
Mit einem leisen Seufzen schloss er die Augen, sah dann auf, zögerte. Nicht sicher, ob er nachfragen wollte. Ob er es wissen wollte. Ob er bereit war für Antworten.

Was hast du mit ihm gemacht?



Sie verengte bei seiner Antwort die Augen, denn sie musste stark an sich halten, ihn nicht einfach anzufauchen. Hatte sie ihm denn nicht erklärt, dass er nicht unwichtig war? Hatte sie denn nicht von ihm verlangt, dass er auf sich achten musste, weil er ihr wichtig war? Statt es ihm aber zu sagen, kniff sie den Mund leicht zusammen und begann ihre Fingernägel an einander zu klicken. Hoch runter, hoch runter. Es beruhigte sie, denn es kam nur wenig später die Frage, die sie von ihm verlangte. Wieso nur musste sie so mutig sein? Wieso musste sie ihnen beiden etwas aufzwingen, vor dem sie beide davon laufen wollten? Weil sie das eben nicht mehr tun sollten. Talin atmete noch einmal tief ein, beruhigte ihr wild schlagendes Herz und sah dann ihrem Bruder wieder in die Augen.

Die Nacht in der ich abgereist bin, kam er vollkommen betrunken ins Haus. Er fiel aufs Bett und schlief sofort ein, nahm nicht einmal wahr, dass etwas anders war. Ich hatte schneller ein Messer in der Hand als ich denken konnte. All der Hass, den ich für ihn empfand...im ersten Augenblick wollte ich ihn für alles töten. Ein Leben für ein Leben. Aber als ich zustechen wollte, erkannte ich, dass er dann nicht mehr würde leiden können. Für gar nichts. Das es einfach so vorbei wäre. Also habe ich ihm das genommen, was ihn doch zu einem so wichtigen Mann machte. Ich habe ihm seine Männlichkeit abgeschnitten und rannte davon, noch während er schrie.“ Ein Lächeln der Genugtuung schlich sich auf ihre Lippen. „Was hättest du getan?



Lucien bemerkte ihren Ärger durchaus – ignorierte ihn jedoch. Einerseits weil er ihrem Ultimatum zwar letztlich zugestimmt hatte, ihm das aber deshalb noch lange nicht schmecken musste. Und andererseits, weil dieser Hass und die Gründe dafür weit älter waren, als diese kleine Abmachung zwischen ihnen. Er lag in seiner Kindheit begründet und in den ersten Tagen nach seiner Rettung von der Morgenwind. Und den würde er sich auch nicht nehmen lassen.
Er wartete also nur ab und mit jeder Sekunde, die verging, wuchs der Druck in seiner Brust, die Angst vor einer Antwort, während im gleichen Maße seine Bereitschaft sank, zuzuhören. Hätte Talin nicht in diesem Moment tief Luft geholt, hätte ihr Bruder sie nur eine Sekunde später gebeten, doch nicht zu antworten. Jetzt jedoch hatte er keine Wahl mehr – und griff kurzerhand nach der Flasche. Als sie zu erzählen begann, brannte sich der Alkohol bereits scharf seine Speiseröhre hinab. Gut so... das hier war eindeutig nicht der Augenblick für Portwein.
In den tiefgrünen Augen wechselten sich mordlustiger Hass und zutiefst verzweifelte Schuldgefühle ab, doch als er die Flasche absetzte, erschien zumindest der Hauch eines Lächelns auf seinen Lippen. Ein bitteres Lächeln mit einem Anflug von Genugtuung darin.

Ihn umgebracht.“, erwiderte Lucien schlicht und stellte die Flasche wieder zwischen ihnen beiden auf die Couch. „Und das werde ich auch noch tun, wenn er in dieser Nacht nicht verblutet ist. Aber der Gedanke, dass du ihn bis dahin mit einem elendigen Leben als verstümmelter Eunuch bestraft hast, ist irgendwie... tröstlich.

Sein Blick ruhte noch immer auf der Flasche, während seine Gedanken zu jener Insel und jenen Menschen wanderten, die ihr ihre Kindheit genommen hatten.



Seine Worte waren schlicht, ließen Talin freudlos auflachen. Ihn umgebracht. Ja, natürlich. Sie beobachtete ihren Bruder, wie er die Flasche, aus der er gerade getrunken hatte, zwischen ihnen betrachtete. Er schien weit weg zu sein, vermutlich irgendwo auf einer kleinen Insel, die sie mit zu dem gemacht hatte, was sie heute waren. Aber sie wusste auch, dass es da noch mehr gab. Dinge, über die er nicht reden wollte, wie zum Beispiel die Narbe in seinem Nacken, die Schatten in seinen Augen. Talin seufzte leise, hielt die Hände still, bevor sie ihre Finger sanft über die seinen gleiten ließ.

Du hast keine Frage gestellt“, erwiderte sie sanft. „Dann möchte ich dir noch eine stellen.“ Eigentlich hätte sie noch Abermillionen Fragen und sie wusste, die meisten würde er mit der Flasche beantworten, statt mit Worten. „Du bist nicht schuld an dem, was mir passiert ist. Du hattest jedes Recht, noch warten zu wollen. Ich war zu jung, um dir auf einem Schiff irgendeine Hilfe zu sein. Du konntest nicht wissen, dass du nicht zurückkehren würdest.“ Sie fuhr sich mit der Hand nervös durch die Haare. „Du konntest nicht wissen, was dir passieren würde. Kannst du dir irgendwann verzeihen? Kannst du irgendwann mit mir darüber reden?



Als ihre Finger sacht über die seinen strichen, hob Lucien den Kopf und begegnete wieder dem Blick seiner Schwester. Richtig, er hatte keine Frage gestellt, aber bevor er sich in frustrierter Resignation über ihren Starrsinn ergehen konnte, kam sie ihm zuvor. Als sie zu reden begann, war er sich noch nicht sicher, worauf sie überhaupt hinaus wollte. Erst den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie ihre Frage tatsächlich stellte, ahnte Lucien, was kommen würde.
Er schwieg, sah Talin über die Flasche hinweg nur lange an. Sehr lange. Und in den tiefgrünen Augen lag ein Ausdruck, der sie die Antwort darauf wissen ließ. Selbst wenn er kein Wort sagte. Er trank nicht, er sagte nichts. Er sah sie nur an.
Und nach einer gefühlten Ewigkeit wandte er den Blick ab, sah hinüber zum Bett, zum Zuber, dem Paravent, der die Sicht darauf verbarg, ohne all das wirklich wahrzunehmen.

Nichts gewusst zu haben, ändert nichts daran, dass es passiert ist.

Vielleicht hatte sie Recht, vielleicht konnte er nichts dafür. Aber er behauptete ja auch nicht, dass die Schuld, die er auf sich geladen hatte, auf rationalen Gründen beruhte. Also nein, er würde sich nicht vergeben. Und nein, er würde nicht mit ihr darüber reden. Weder das eine noch das andere wollte er überhaupt.

Und jetzt war er wieder an der Reihe. Er sah zurück zu seiner Schwester, zögerte, dann: „Nachdem du Kelekuna verlassen hast - hattest du da je jemand anderen? Nach... ihm?

Allein die Art, wie er ‚jemand anderen‘ sagte, machte klar, was genau er meinte. Jemanden, mit dem sie im Bett gelandet war.



Er sah sie mit einer Intensität an, die ihr sehr deutlich machte, was die Antwort auf ihre Frage sein würde. Es schmerzte sie, ihn so zu sehen.
Seit sie damals getrennt worden waren, war das einzige, was sie wirklich wollte, ihn wieder zu finden. Ihren großen Bruder, der so viel Hass auf ganz Kelekuna verspürte, Talin allerdings ohne wenn und aber liebte. Der sich immer gegen die Gemeinheiten der anderen gewehrt hatte und sich an ihnen dafür rächte. Sie hatte ihren Bruder gefunden, aber der Hass saß tiefer, der Rachedurst und eine Härte, die sie vorher nicht gekannt hatte, traten öfter in seine Augen. Und genau das war es, was sie um ihn fürchten ließ. Das war es, was ihr eine Gänsehaut über den Körper jagte und Sorge jede Freude darüber, dass er zurück war, vertrieb. Sie wollte ihn nicht verändern, wollte ihn nicht wieder zu diesem Jungen von damals machen, denn das würde sein jetziges, stärkeres Ich beleidigen. Es würde beleidigen, was er bis jetzt überlebt hatte. Aber sie wollte, dass er die Leichtigkeit wiederfand, dass er... verdammt noch mal, sie wollte, dass er sich besser fühlte. Und doch lehnte sein Blick all das ab, verweigerte die Zusage, schon bevor er den Mund aufmachte.
Talin wich seinem Blick schließlich aus, sah auf die Flasche hinab und seufzte leise. So ein Sturkopf. Sie sah wieder zu ihm hoch, wollte ihm mit Blicken sagen, was sie von seiner Antwort hielt, aber da stellte er ihr eine Frage. Ein paar Mal blinzelte sie überrascht und dann wurde es still in ihr. Sie konnte nach der Flasche greifen und trinken, konnte die Antwort verweigern, aber... sie hatte ihm und sich selbst versprochen, offen zu ihm zu sein. Also ließ sie ihre Hand auf seiner und die Flasche links liegen.

Es gab jemanden. Wenn man es genau nimmt, gab es zwei, aber der zweite ist unwichtig.

Sie hielt den Blick auf seine grünen Augen gerichtet und obwohl sie seine Frage beantwortet hatte, spürte sie, wie ein Knoten sich löste, der sie daran hätte hindern können, weiter zu reden.

Er hat mich gebrochen“, sagte sie sehr leise und wich seinem Blick schließlich aus. „Ich war nicht mehr ich selbst, als ich ging. Hätte mich in dieser Zeit jemand angefasst, ich hätte ihn umgebracht. Dass es überhaupt jemanden gab, habe ich Rasiria Tarlenn zu verdanken.

Ein kleines Lächeln huschte über ihre Lippen und sie sah ihm in die Augen. Wenn er sie noch so gut kannte wie früher, dann hätte er die Frage, die ihr auf der Seele brannte, darin lesen können. Sie wollte nicht wissen, ob er jemand anderen hatte. Wie denn auch, wenn er gefangen war? Sie wollte wissen, ob ihm das gleiche wie ihr angetan wurde. Ob auch er von jemand anderem gebrochen wurde. Aber sie wusste, er würde es ihr nicht sagen, würde trinken. Stattdessen fragte sie:

Willst du mehr wissen?



Er hatte gefragt. Er war so dumm und hatte gefragt. Aber er rechnete nicht mit dem Gefühl, das sich mit jedem ihrer Worte durch seinen Körper fraß. Dann hätte er sich vielleicht damit zurück gehalten. Dumm. Wirklich dumm. Reinste, egoistische Eifersucht brodelte in ihm, doch sie war nichts gegen was, was sich da noch regte. Was er fühlte, war kein Hass. Hass war dafür zu seicht. Es war ein tiefes, dunkles Loch, das alles Positive um sich herum einzusaugen schien. Diese Dunkelheit lebte in ihm – immer schon. Beiros hatte sie gesehen. Sie war immer schon da gewesen. Talin verdankte er es, dass sie ihn nicht vollkommen verschluckte. Sie war sein Licht. Und Juan hatte sie verletzt, sie gebrochen, hatte Schatten über sein Licht gelegt – und Lucien war nicht da gewesen, um es zu verhindern. Bei allen Welten, nein. Er würde ihn nicht einfach umbringen. Er würde ihn auf eine Weise leiden lassen, die er sich nicht einmal ausmalen konnte.
Der 21-Jährige schloss die Augen, wandte das Gesicht zur Seite und entzog Talin seine Hand. Dann lehnte er sich seitlich gegen das Sofa, legte den Arm auf die Lehne und fuhr sich kurz über die Augen, ehe er sie blinzelnd wieder öffnete. Ohne Talin anzusehen. Aber die Ruhe in seinen Bewegungen täuschte nur über das hinweg, was in ihm brodelte.
Er dachte nach. Fragte sich, ob er mehr wissen wollte. Juan hatte sie gebrochen; danach hatte sie jemanden gehabt, um es zu überwinden. Sofern man das überwinden konnte. Letzten Endes war man nicht mehr der selbe Mensch, der man davor gewesen war. Man war ein anderer. Der, der erlebt hatte, was er erlebt hatte. Aber Talin war stark, stärker als er. Immer schon. Sie hatte das geschafft, oder nicht? Sie hatte das beste daraus gemacht, nicht wahr? War das dann nicht alles, was er wissen musste? Wissen wollte?

Wie stehst du zu ihr? Zu Rasiria Tarlenn?

Es war die indirekte Frage danach, wie Rasiria ihr geholfen hatte. Aber eigentlich wollte er es gar nicht wissen. Er war nicht bereit dazu, mehr zu wissen. Mehr Schuld, mehr Eifersucht, mehr Rachsucht und Dunkelheit. Irgendwann gäbe es keinen Platz mehr für Licht und dann wäre er nicht mehr zu retten. Nur ein kleiner Teil in ihm wusste, sie konnte erst dann wieder sein Licht werden, wenn er sich endlich dem stellte, was aus ihr geworden war. Sie neu kennen lernte.



Ein Stich durchfuhr sie, als er ihre Hand losließ. Für einen kurzen Moment überlegte sie, ob es besser gewesen wäre, nach der Flasche zu greifen. Wann gab es wohl zu viel Offenheit zwischen ihnen? Ihr Blick ruhte weiterhin auf Lucien, der sich zurücklehnte, Abstand zu ihr suchte, ohne aufzusehen. Dabei spürte sie die Mauer zwischen ihnen, auch ohne, dass er sich bewegte. Aber sie behielt ihn im Blick, folgte jeder seiner Bewegungen und runzelte die Stirn. Was auch immer in ihm vorging, er wirkte ruhig. Zu ruhig. Diese Ruhe stand in einem ziemlichen Gegensatz zu seinem Verhalten. Aber sie sagte immer noch nichts. Wartete nur, bis er schließlich wieder sprach. Er stellte eine Frage, klang dabei aber, als würde es ihn gar nicht interessieren. Ruhig, so ruhig…
Talin nahm die Flasche, die zwischen ihnen stand, und nutzte den frei gewordenen Platz, um näher zu rutschen. Ihr eines Knie berührte seinen Oberschenkel. Die Flasche stellte sie in eine kleine Lücke zwischen ihnen beiden. Während sie eine Hand hob, antwortete sie:

Rasiria war meine Feindin, dann meine Freundin und schließlich meine Geliebte. Sagen wir, vieles, was ich heute im Bett kann, habe ich von ihr.

Ihre Finger berührten seine Wange, wollten ihn auffordern, sie wieder anzusehen. Seine Ruhe kratzte an ihren Nerven, ließ sie frustriert und unzufrieden zurück. Sie spürte, wie ihre kaum vorhandene Geduld gegen ihre Impulsivität kämpfte – wie sie es schon das ganze Gespräch über taten. Und schließlich gewann letzteres.

Was ist geschehen, nachdem ihr gefangen genommen wurdet? Was ist dir geschehen?



RE: I wish I was brave enough - Lucien Dravean - 13.10.2020

Als sie sich bewegte, huschte sein Blick wieder zu Talin zurück. Allerdings nicht zu ihrem Gesicht, sondern nach unten, auf ihre Hand. Sie griff nach der Flasche und im ersten Moment glaubte Lucien tatsächlich, sie wolle nicht antworten. Doch sie rutschte nur näher, klemmte den Alkohol wieder zwischen sie und erzählte.
Dieses Mal gab es da nur Eifersucht, kindisch und unkontrollierbar. Die leise Dankbarkeit in ihm verlor dagegen, verblasste rasch. Dabei sollte er dankbar sein. Weil weil Rasiria ihr geholfen hatte. Aber er konnte einfach nicht dankbar sein.
Der Dunkelhaarige stieß leise die Luft aus, schloss die Augen, wollte sie nicht mehr ansehen. Doch dann spürte er ihre Fingerspitzen an seiner Wange und hob doch den Blick, begegnete dem ihren. Und es wurde still in ihm. Endlos still. Dunkel. Er wusste, was sie eigentlich wissen wollte, konnte die Frage in dem klaren Blaugrün ihrer Augen lesen. Ihr Vater starb, er kam ins Gefängnis, wartete auf seine Verhandlung, wurde verurteilt, wartete auf das Schiff, das ihn nach Esmacil brachte. Das alles wusste sie. Jetzt fragte sie danach, wie sehr er verletzt worden war. Seelisch, nicht körperlich. Ob man ihn gebrochen hatte, wie Juan sie gebrochen hatte.
Er schwieg, schwankte zwischen trinken und ausweichen. Warf er ihr einen kleinen Brocken hin, ließ sie wahrscheinlich nicht locker. Gab er ihr gar nichts, beließ sie es vielleicht dabei. Oder bohrte weiter. Aber dann konnte er immer noch trinken. Trinken, bis die verdammte Flasche leer war.
Er griff danach, blieb nur einen Herzschlag länger an ihrem Blick hängen. Dann setzte er die Flasche an die Lippen und trank. Er hatte schon angefangen, sich zu fragen, wann sie diesen Punkt erreichten. Es wäre eine Schande gewesen, diesen Abend wieder nüchtern zu werden.
Als er die Flasche sinken ließ, richtete er die tiefgrünen Augen wieder auf Talin. Er war wieder dran.

Und diese Narbe an deiner Hüfte? War das Juan?



Sie wusste, was er tun würde, noch bevor er nach der Flasche griff. Es machte sie wütend, dass sie ihm diesen Ausweg angeboten hatte, aber anders hätte er wahrscheinlich gar nicht mit ihr geredet. Weil es ihm nicht wichtig war, was ihm geschehen war. Weil das alles nicht zählte. Weil es angeblich verdammt noch mal  wichtiger war, wie es ihr ging. Sie unterdrückte nur mit Mühe einen abfälligen Laut, behielt ihn im Auge, als er die Flasche ansetzte. Aber immerhin hatte er sie wieder angesehen. Noch einmal strich Talin leicht über seine Wange, bevor sie die Hand sinken ließ. Fast im gleichen Moment ließ er die Flasche wieder sinken und sah sie wieder an. Bei seinen Worten hielt sie krampfhaft ihre Maske aufrecht. Sie unterdrückte den eiskalten Schauer, der ihr über den Rücken laufen wollte. Unterdrückte das Bedürfnis, die Arme um sie zu schließen. Der Verlust stach ihr ins Herz, nach drei Jahren fast immer noch so stark wie am ersten Tag. Aber sie ignorierte ihn, drängte ihn zurück, denn auch wenn Lucien das Gegenteil behauptete, war er ihr wichtig. Und er war noch am Leben. Sie würde es nicht verkraften, wenn auch er sie verließ. Sie leckte sich nur kurz über die trockenen Lippen, bevor sie schlicht antwortete:

Ja. Er hat mir die Narbe zugefügt.

Er hatte etwas zurückgelassen, nachdem er ihr etwas genommen hatte. Das war es gewesen, was sie ihn für immer hassen lassen würde.

Woher hast du die Narben auf deinem Rücken?

Es tat ihr weh, ihn zu bedrängen. Sie wollte das nicht. Sie wollte wieder auf die friedliche Oberflächlichkeit ihrer Beziehung zurück. Der große Bruder, die kleine Schwester. Aber ihre Bindung war nie nur oberflächlich gewesen und es tat weh, dass sie das wollte, damit sie weder sich noch ihm Schmerzen zufügen musste.



Ihre Stimmung änderte sich, schwankte von... was? Frustriert? Zu etwas anderem. Sie verspannte sich, ihre Züge wurden fast ausdruckslos. Er hatte einen Nerv getroffen. Juan war ein einziger Nerv. Ein rotes Tuch in ihrer beider Gedanken. Aber war da noch mehr? Der Gedanke verwirrte ihn, ließ ihn das neu aufwallende Rachebedürfnis sogar kurz vergessen. Doch wenn, dann verriet Talin ihm nichts davon. Sie beantwortete einfach seine Frage, ließ dabei die Hand sinken und er nickte nur zögernd, weil ihm nichts anderes übrig blieb, und platzierte die Flasche in der Lücke zwischen ihnen.
Dann sah er wieder zu ihr auf. Das, was sie nun wissen wollte, war einfach zu beantworten. Einfach, weil es nichts bedeutete.

Aus dem Gefängnis in Linara.“ Seine Stimme blieb ruhig, fast gelassen. „Sie peitschen die Gefangenen vor ihren Verhandlungen aus. Manchmal bis zum Tag der Verhandlung selbst. In der Hoffnung, derjenige gesteht, was ihm vorgeworfen wird. Dann sparen sie sich den Richter. Mich hätte auf Esmacil mehr davon erwartet. Es wäre Teil meiner Strafe gewesen.

Lucien verstummte, sah seiner Schwester unverwandt ins Gesicht, suchte nach Regungen, die ihm verrieten, was sie dachte. Und er zögerte, die nächste Frage zu stellen. Sie kam ihm einfach in den Kopf, nistete sich dort ein, blieb da und sein Kopf drehte nur immer wieder die Formulierung um, änderte einzelne Wörter, ohne dass sie ihren eigentlichen Sinn verlor.

Wer bist du jetzt, Talin?



Es überraschte sie, dass er ihre Frage beantwortete. Offensichtlich hatte sie damit keinen Nerv getroffen, der ihn zum Trinken animiert hätte. Nachdenklich legte sie den Kopf schief und betrachtete sein Gesicht. Aber eigentlich rief sie sich seinen Rücken in Erinnerung und der Hass auf die Marine stieg ins Unermessliche. Ihr konnten die anderen armen Teufel egal sein, denen so etwas noch geschehen war. Egal ob es jedem oder keinem weiter passierte – dass Lucien ausgepeitscht worden war, machte sie wütend. Aber er berichtete so darüber, als wäre das nichts gewesen. Als wäre es nicht einmal das schlimmste, was ihm zugestoßen war, seit sie getrennt wurden. Und vielleicht stimmte das sogar. Vielleicht aber überspielte er auch einfach nur den Schmerz, der sich mit jedem Peitschenhieb in seinen Rücken gefressen hatte. Sie konnte es nicht sagen, aber genau das Selbe hatte sie ja auch gerade getan. Sich vor ihm versteckt, ihm nicht gezeigt, ob hinter den Worten mehr war, als man zugeben wollte. Manche Wahrheiten würden noch mehr schmerzen.
Für einen kurzen Moment herrschte Stille zwischen ihnen, während Lucien ihr Gesicht betrachtete. Mit leichter Belustigung in den Augen ließ sie die Musterung über sich ergehen, bis er ihr eine Frage stellte, die sie völlig überraschte. Die erste Antwort, die ihr durch den Kopf schoss, wäre die einfachste. ‚Ich bin die, die ich immer war‘. Es wäre die schnellste, die einfachste und die, die am weitesten entfernt war von der Wahrheit. Also schluckte Talin sie herunter. Stattdessen runzelte sie leicht die Stirn, überlegte wirklich, wie sie diese Frage beantworten konnte.

Ich bin...“, sie sah kurz weg, schloss die Augen und ein kleines Lächeln huschte über ihre Lippen. Dann sah sie wieder zu ihm auf. „Ich bin Talin, deine kleine Schwester. Mit dem Kopf in den Wolken und den Füßen fest auf dem Boden. Mein Wunsch ist es, die beste Fechterin aller sieben Welten zu werden und die Noten der Verdammten zu finden.“ Sie berührte wieder seine Wange, das Lächeln blieb. „Und ich bin Talin, die ihren großen Bruder verloren hat, der ihr mehr als alles andere in jeder beschissenen Welt bedeutet. Um ihn wiederzufinden habe ich alles ertragen, was mir passiert ist und bin daran gewachsen. Ich habe Dinge gefunden und verloren, Freundschaften geschlossen und Feinde gewonnen. Aber alles ist bedeutungslos, denn ich habe meinen Bruder wieder. Die Welt kann mir gestohlen bleiben.

Forschend ließ sie den Blick über sein Gesicht gleiten, bis sie ihm wieder in die Augen sah.

Was ist es, was du brauchst?“, fragte sie leise.



Die Unverblümtheit seiner Antwort überraschte sie. Sie hatte wohl nicht damit gerechnet, dass es ihm so leicht fiel, darüber zu reden, aber für ihn waren das tatsächlich nur Narben. Sicher, auch jetzt erinnerte er sich mit aller Klarheit an den überwältigenden Schmerz, wenn die Peitsche auf seine Haut knallte. An das Gefühl, als würde ihm das Fleisch von den Knochen platzen. An gleißendes, blindes Weiß und die selige Dunkelheit der Bewusstlosigkeit.
Aber als man ihn das erste Mal zu einem ‚Verhör‘ holte, hatte er die Peitsche und die Spuren, die sie hinterlassen würde, geradezu herbei gesehnt. Er war dankbar dafür gewesen, weil sie den hässlichen Schnitt in seinem Nacken wirksamer verbargen, als seine Haare oder ein Halstuch. Er hatte sich sogar gewünscht, der verdammte Folterknecht hätte nur ein oder zwei Mal mit der Peitsche seinen Nacken getroffen, um die Erinnerung auszulöschen, zu überlagern, andere Zeichen darüber zu malen. Leider war er verdammt geschickt in seinem Handwerk gewesen und ging nie das Risiko ein, den Kopf zu treffen. Aber es reichte, um jene einzelne Narbe mit dem Geflecht auf seinem Rücken verschmelzen zu lassen. Zumindest auf einen ersten Blick hin.
Nichts davon würde er Talin verraten. Selbst dann nicht, wenn sie nachbohrte. Und zunächst war ohnehin er dran. Seine Frage war wichtig. Wie sehr, verstand er erst, als sie sie beantwortete. Hätte sie ihm jetzt erzählt, sie wäre die gleiche, wie früher, hätte er ihr kein Wort geglaubt. Und vielleicht das ohnehin brüchige Vertrauen in dieses Spielchen verloren. Aber sie überlegte sich gut, was sie sagte, entlockte ihm damit sogar ein sachtes Lächeln. Flüchtig, traurig, aber ein Lächeln. Wärme breitete sich in ihm aus, ließ sein Herz schneller schlagen. Was sie sagte, klang so sehr nach dem Mädchen, das er zurück gelassen hatte. Das er so abgöttisch liebte. Aber auch ganz anders, verändert, verletzt und gestärkt. War sie das jetzt? Eine verletzte, aber gestärkte Version der Talin aus seinen Erinnerungen? Immer noch die gleiche, nur ein bisschen anders?
Er spürte ihre Finger an seiner Wange, sah wieder zu ihr auf und bemerkte dadurch erst, dass sein Blick ins Leere gegangen war. Leise stieß er die Luft aus, schloss die Augen, zögerte. Dann lehnte er den Kopf ihrer Hand entgegen, schmiegte sich in ihre Berührung.

Du warst immer schon stärker als ich“, erwiderte er sehr leise, mehr zu sich selbst als zu ihr. Aber er gab ihr auch keine Zeit, ihm zu widersprechen, sondern antwortete stattdessen auf ihre Frage.

Ich brauche dich.“ Wieder sah er sie an, begegnete ihrem Blick und der Ausdruck in den tiefgrünen Augen wurde unendlich sanft. „Ich habe immer nur dich gebraucht. Ich brauche dein Lachen, deine Wärme, das Leuchten in deinen Augen. Die unbeschwerte Kindlichkeit, die dich mit den anderen Kindern aus dem Dorf ums Feuer hat tanzen lassen. Und ich habe Angst, dass Juan all das zerstört hat. Dass unsere Eltern das zerstört haben.



Zum ersten Mal, seid sie dieses Spiel spielten, hatte er wirklich gelächelt. Nicht abfällig, sondern sachte, flüchtig und ein wenig traurig. Es war nicht viel, aber es ließ sich ihr Herz ein wenig entkrampfen. Und sie schmolz ein wenig mehr dahin, als er sich in ihre Berührung schmiegte. Ihr entging dabei keineswegs, dass er gezögert hatte, aber in seiner Erschöpfung lehnte er sich an sie und das gab ihr ein gutes Gefühl und verstärkte den Wunsch ihn zu trösten. Sanft fuhr sie mit den Fingern über seine Schläfe, betrachtete sein Gesicht, während er die Augen geschlossen hielt. Das Lächeln auf ihren Lippen verschwand allerdings bei seinen Worten und sie wollte heftig protestieren, bekam dazu aber keine Gelegenheit. Er sprach einfach weiter. Für einen kurzen Augenblick überlegte sie, ihm über den Mund zu fahren, dass er sich selbst nicht so abtun sollte. Aber sie blieb still, denn sie hatte das Gefühl, er würde sonst sein Bedürfnis wieder in sich verschließen, ihr nicht verraten, was er brauchte.
Sie sah wieder in die grünen Augen, die so viel verschlossen hielten, dass sie ihr ein wenig dunkler vorkamen. Aber wenn er sie ansah, dann stand dort nichts als Sanftheit und Wärme und das ließ Talin dahin schmelzen. Sie wollte sich vorbeugen, ihn umarmen. Stattdessen lächelte sie nur sanft und streichelte erneut von seiner Schläfe bis hinunter zu seinem Kinn.

Meine Unbeschwertheit haben sie mir nicht genommen. Ich habe sie… unterdrückt, habe versucht, sie zu schützen und sie für eine Weile verloren, aber sie ist noch da.“ Sie schüttelte leicht den Kopf. „Aber sag bitte nicht, dass du auch meine Kindlichkeit vermisst. Ich war furchtbar naiv, Lucien. Ich habe mich voll und ganz auf dich verlassen, in allem was ich tat, und habe dir damit meine Verantwortung aufgedrückt. Das will ich nicht mehr, weil du es nicht verdient hast.“ Sie hob auch die andere Hand und umfasste sein Gesicht, spürte seine Wärme. „Auch wenn ich das ganze Dorf nicht leiden kann, sobald die Musik spielt, bin ich eine der ersten, die mit ihnen tanzen wird. Das wird sich auch niemals ändern.“ Ein kurzes Zögern. „Glaubst du mir?



Ihre Liebkosung schenkte ihm einen Hauch Frieden. Vertrieb die Schwärze. Und ihre Worte verdrängten den Hass. Zumindest für den Moment. Ließen ihn erneut kurz lächeln, weil sie Kindlichkeit mit kindisch sein verwechselte. Aber Lucien korrigierte seine kleine Schwester nicht, hörte nur zu, sah sie an, als sie die andere Hand ebenfalls an sein Gesicht legte. Sanfte Sehnsucht flackerte in dem tiefen Grün seiner Augen auf. Der Wunsch, sie möge nicht mehr loslassen, würde nicht aufhören, ihn zu berühren. Ihr Licht gegen seine Schatten.
Wieder stieß er leise die Luft aus, senkte den Blick, der sich auf der reflektierenden Oberfläche der Glasflasche wiederfand, während er über ihre Frage nachdachte. Was sie gesagt hatte, gab ihm Hoffnung. Dass sie doch noch das Mädchen war, das er so sehr vermisste. Nur stärker. Damit konnte er vielleicht leben, auch wenn es ihm Angst machte. Was, wenn sie ihn dann nicht mehr brauchte? Wenn sie ihren eigenen Weg ging, ohne ihn? Holte ihn seine Dunkelheit dann doch wieder ein?
Doch für den Augenblick verdrängte Lucien diese Gedanken. Er nahm den Arm von der Lehne des Sofas, griff nach der Flasche – aber nicht, um zu trinken, sondern um sie aus dem Weg zu haben – und streckte sich mit einer von Erschöpfung gekennzeichneten Langsamkeit auf der Sitzfläche aus, bis er den Kopf auf Talins Oberschenkel betten konnte. Auch wenn er sich damit zunächst der Berührung ihrer Hände entzog. Jetzt so zu liegen, war ihm das wert.
Die Flasche stellte er vor seinem Bauch ab, schloss dabei die Augen.

Ich möchte es glauben“, antwortete er letzten Endes leise. „Gib mir ein bisschen Zeit, es selbst zu sehen, in Ordnung?“ Er blinzelte, wandte dann leicht den Kopf, sah zu seiner Schwester auf und lächelte eine Spur amüsiert. Aber nach wie vor unendlich sanft. „Sind wir eigentlich bald durch mit diesem Spiel? Oder hast du immer noch Fragen?



Sie musste hören, dass er ihr glaubte. Denn wenn er es nicht tat, wusste sie nicht, was sie noch tun sollte. Sie hatte Angst, ihn zu verlieren. Angst, dass er ihr entglitt und deshalb musste er ihr einfach glauben, ihr vertrauen. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was sie tun würde, wenn sie ihn für immer verlor. Deshalb wartete sie wie verrückt auf seine Antwort. Und verkrampfte sich, als er nach der Flasche griff. Talin dachte wirklich, er würde ihr nichts sagen, doch stattdessen machte er sich lang und lag nur wenig später mit seinem Kopf auf ihrem Oberschenkel. Völlig verdutzt und überfallen lachte die Blonde auf und ließ eine Hand auf seine Schulter, die andere auf seinen Kopf sinken, wobei sie sofort anfing, ihm sanft übers Haar zu streicheln. Für einen Moment verharrte sie still, während sie seinen Worten lauschte. Sie antwortete ihm ebenso leise und unendlich sanft.

In Ordnung.

Für den Augenblick musste es reichen. Sie würde ihm so viel Zeit geben, wie er brauchte, um ihr wieder zu vertrauen, um ihr zu glauben. Immerhin trug sie eine Mitschuld an der verfahrenen Situation.
Als er den Kopf leicht drehte, ließ sie die Hand an seinem Haar, fuhr immer und immer wieder hindurch. Sie sah ihm in die Augen und Belustigung funkelte in ihrem Blick.

Natürlich habe ich noch Fragen. Aber jetzt fällt es mir schwer sie dir zu stellen. Ich habe Angst, du springst gleich wieder auf.

Talin hob die Hand von seiner Schulter und fuhr seine Gesichtszüge nach, hinunter zu seinem Kinn, dann seinen Hals und schließlich andeutungsweise zu seinem Nacken. Die Belustigung war aus ihrem Blick verschwunden, aber die Sanftheit immer noch da.

Diese Narbe hier… stammt sie auch aus deinen ‚Verhören‘?



Ihr Lachen brachte ihn zum Lächeln; ihre Finger in seinem Haar dazu, die Augen wieder zu schließen. Beides zusammen verhinderte, dass er – wie sie zunächst befürchtete – sofort wieder auf Distanz ging. Zurück wich und gar aufstand. Als ihre Hand über sein Kinn bis zu seinem Hals glitt, drehte er nur den Kopf wieder zur Seite, erlaubte ihr damit sogar einen direkten Blick auf die Narbe, die sie ansprach. Nicht ganz freiwillig, aber er konnte nicht ewig zu ihr hinauf sehen, ohne sich dabei das Genick zu verdrehen. Ein kalter Schauder rann ihm über den Rücken, als ihre Finger die wulstige Haut streiften, obwohl er die Berührung selbst kaum spürte.

Ah... Ich hätte nicht nachfragen sollen...

Er lächelte immer noch, doch seine Stimme verriet auch zynische Bitterkeit. Noch konnte er antworten, aber er bezweifelte, dass es so blieb, wenn sie weiter bohrte.

Nein. Die stammt von der Renaissance.

Fast augenblicklich rührten sich an den Rändern seines Bewusstseins Erinnerungen, drängten sich ihm auf. Eine leise Stimme, die ihm krankhaft zärtlich versicherte, dass er überleben würde. Sein Puls beschleunigte sich, sein Herz krampfte. Er holte tief Luft, öffnete die Augen, starrte geradeaus in die Kajüte. Talins und seine Kajüte. Auf der Sphinx. Er war wieder dran.

Wenn ich dir verspreche, bei jeder anderen Frage artig liegen zu bleiben… stellst du dann keine weiteren Fragen zu dem, was auf diesem Schiff passiert ist?



Ihre Fingerspitzen glitten über die wulstige Narbe in seinem Nacken und eine leichte Gänsehaut überzog ihre Arme. Die Erinnerungen an den Abend, als sie zum ersten Mal darüber gestrichen hatte, stieg in ihr hoch und sie verfluchte sich innerlich selbst, dass sie damals zurückgezuckt war. Weil er sich verändert hatte. Es war so ein dummer Grund, ihn nicht zu akzeptieren, wie er geworden war. Weder sie noch er hätten das, was ihnen passiert war, unbeschadet überstehen können. Was auch immer ihm passiert war.
Talin sah hinab auf Luciens Gesicht und konnte sein Lächeln sehen, auch wenn es sich nicht im Ton seiner Worte spiegelte. Bitterkeit. Ja, sie kam der Sache wohl wirklich näher. Die junge Frau schluckte leise und war kurz davor, gleich eine weitere Frage zu stellen. Zumindest bis ihr einfiel, dass sie gar nicht damit dran war, sondern Lucien. Sie biss sich auf die Unterlippe, während ihre Hand weiter über seinen Kopf kraulte. Die andere hatte sie aus seinem Nacken gezogen und fuhr sanft die Linien seiner Ohrmuschel nach. Als er schließlich seine Frage stellte, schloss sie für einen Moment die Augen, bevor sie mit einem traurigen Lächeln zu ihm hinab sah.

Das kann ich dir nicht versprechen“, erklärte sie sanft. Sie blickte auf die Flasche, die vor seinem Bauch stand. „Wir haben gesagt, eine Flasche lang kann jeder die Fragen stellen, die er stellen möchte. Und auch, wenn es mir das Herz zerreißt, möchte ich mit dir darüber reden. Selbst wenn du wählst, mir keine Antwort zu geben.

Sie atmete tief durch und schaute auf ihre Hände hinab.

Warum hat jemand auf diesem Schiff dich gefoltert?

Denn als etwas anderes konnte man diese Narbe nicht bezeichnen. Die Wulst hatte nie die Zeit gehabt, gänzlich zu heilen. Zumindest nicht so, wie sie es hätte tun sollen.



Es hätte angenehm sein können, in ihrem Schoß zu liegen, ihre Berührungen zu genießen. Das sanfte Streichen entlang seines Ohres, das ihm eine sachte Gänsehaut über die Arme jagte. Ihre Finger, die beständig durch sein Haar strichen und versuchten, ihn zu beruhigen. Doch ihre Antwort ließ ihn sich nur anspannen, ließ ihn tief seufzen und wie auch Talins Blick huschte der seine zu der Flasche, die an seinem Bauch lehnte. Er hatte kein Recht, jetzt enttäuscht zu sein, dass sie ihn nicht vom Haken ließ… war es aber trotzdem. Aber das war ihre Vereinbarung gewesen, nicht wahr? Jeder durfte seine Frage stellen, jeder musste ehrlich antworten – oder trinken. Er hatte sich darauf eingelassen und konnte jetzt nicht so tun, als gelte die Absprache für ihn nicht, nur weil die Fragen unangenehm wurden. Er hatte nur nicht damit gerechnet, dass Talin das durchzog. Statt, wie bisher, locker zu lassen, wenn sie spürte, dass er sich verkrampfte.
Seine Hand ging zur Flasche, hielt sich an ihr fest, zögerte aber. Es wäre jetzt so einfach gewesen. Er hätte ihr einfach erzählen können, was passiert war. Ein Teil von ihm wollte es erzählen – irgendjemandem. Aber die Antwort war nicht einfach. ‚Ich weiß es nicht‘ wäre eine Möglichkeit gewesen. Doch sie entspräche nur zur Hälfte der Wahrheit. Er wusste nicht, was in einem kranken Hirn vor sich ging. Nur, was Grund und Ziel dieser Folter gewesen war. Aber das offenbarte Dinge, die er Talin nicht sehen lassen wollte. Und jede weitere, ausweichende Antwort hätte zu mehr Fragen geführt. Und mehr Dingen, die er sie nicht sehen lassen wollte.
Also setzte er die Flasche an die Lippen und trank einen großzügigen Schluck. Warm rollte sich der Alkohol in seinem Bauch zusammen, doch er hatte den Rum schon wieder zurück gestellt, bevor mehr davon folgen konnte. Sein Kopf sank wieder auf ihren Schenkel und er blinzelte in das schummrige Zwielicht der Kajüte.

Wie hast du das, was du erlebt hast, hinter dir gelassen? Ich meine… wie hast du es überwunden? Durch Rasiria?



Es tat ihr weh, die Anspannung in seinem Körper zu spüren. Sie wollte zurückrudern, wollte ihn in Ruhe lassen. Aber wer, wenn nicht sie, würde ihm denn helfen wollen? Selbst wenn sie jeden einzelnen aus der Crew durchging, war Lucien ihr am wichtigsten und niemandem sonst. Wie also könnte sie ihn mit seinen Schmerzen allein lassen?
Noch bevor er nach den Flaschen griff, wusste sie, er würde trinken. Aber sie ließ es ihm schweigend durchgehen. Ihre Frage war gemein gewesen, das wusste sie nur zu gut. Dass er allerdings nicht mehr trank, das verwunderte sie. Ebenso wie die Tatsache, dass er nicht aufsprang, sondern sich wieder auf ihren Schoß zurückfallen ließ. Ein paar Mal blinzelte sie, strich dann aber wieder durch seine Haare und sein Ohr entlang über seinen Kiefer. Wann hatte sie ihn schon einmal in so schmusiger Stimmung? Sie lächelte noch einen Augenblick, bis seine Frage zu ihr durch drang. Ach ja. Nachdenklich legte Talin den Kopf schräg.

Überwunden… ich weiß nicht einmal, ob ich es wirklich überwunden habe. Manchmal überfällt es mich immer noch… Aber nein, es war nicht nur Rasiria. Sie hat mir geholfen, dass ich Berührungen wieder zu lassen konnte, ohne einen Schreikrampf zu kriegen. Es gab auch noch Hibhe, sie war die Inhaberin eines Bordells. Sie war wie die Mutter, die wir uns als Kinder gewünscht haben. Dann gab es noch die Musik. Ich habe wann immer es ging gesungen, sobald ich mich dazu aufraffen konnte. Und dann gab es dich. Jeder einzelne Tag begann und endete schließlich mit dir. Ich wollte dich so unbedingt finden, dass mich das am Leben erhalten hat.

Kurz holte sie tief Luft, versuchte die Enge in ihrer Brust zu vertreiben und beugte sich schließlich vor, um ihm einen Kuss auf die Schläfe zu drücken. Seinen vertrauten Geruch einzuatmen beruhigte sie.

Wer hat dich so gefoltert?



Also hatte sie es gar nicht ‚überwunden‘. Würde es vielleicht gar nicht. Vielleicht überwand man so etwas nie. Es blieben Erinnerungen, die Spuren hinterließen. Und trotzdem war sie noch seine kleine Schwester. Immer noch kindlich mit dem Kopf in den Wolken. Immer noch bereit zu lachen, Glück zu empfinden, ihren Weg zu gehen – obwohl Juan sie gebrochen hatte.
Lucien schloss mit einem lautlosen Seufzen die Augen. Nur bis zu ihrer nächsten Frage. Nur so lange wollte er genießen, dass sie ihn berührte und ihre Nähe den Zorn verdrängte, der irgendwo in ihm schlummerte. Er war zu müde, zu erschöpft, um wütend zu sein. Der Alkohol tat seinen Dienst.
Über ihm beugte Talin sich zu ihm hinunter, hauchte ihm einen Kuss auf die Schläfe und sanfte Wärme breitete sich in seinem Bauch aus. Er hätte gelächelt, hätte sie in diesem Moment nicht gefragt und ihn dazu gebracht, die Augen zu öffnen. Ließ er sie geschlossen, rutschte er ab. Auch wenn er nicht antworten würde. Er gab einen unwilligen Laut von sich, griff nach der Flasche und gönnte sich einen großen Schluck. Einen, nicht mehr. Auch wenn ihm kurz der Gedanke kam, alles auszutrinken – dann wäre die Fragerunde vorbei. Aber er wollte nicht unfair sein.
Wieder sank er zurück auf Talins Schoß, spürte einen Moment lang dem warmen Gefühl nach, das der Rum in ihm hinterließ und fühlte bereits diesen flüchtigen Schwebezustand, der auf die ersten Gläser folgte.

Und jetzt? Rasiria ist nicht mehr da; diese Frau, Hibhe, ist auch nicht hier. Du kommst nicht dazu, Musik zu machen und mich hast du bereits gefunden. Was hilft dir jetzt, damit zu leben?



Ein leiser Seufzer entrang sich ihr, als er wieder nach der Flasche griff und einen Schluck trank. Natürlich hatte sie gewusst, dass er ihr nicht so einfach antworten würde. Wenn er ihr schon auf die Wieso-Frage nicht antwortete, warum dann auf das wer? Dafür aber hatte sie seinen unwilligen Laut sehr deutlich gehört. Entweder es störte ihn, dass sie fragte oder aber es missfiel ihm, sich von ihrem Bein aufzurichten und nach der Flasche zu greifen. So oder so brachte er sie zum Schmunzeln. Auch wenn das Thema absolut nicht erfreulich war und es sie frustrierte, dass er nicht antwortete.
Als er wieder lag, fuhr sie sofort damit fort, ihm mit den Fingern durchs Haar zu kämmen, sanft über seine Kopfhaut zu kratzen. Bei seiner Frage allerdings hielt sie mit dem Kraulen verwundert inne und sah auf ihn hinunter. Fragte er das gerade wirklich? Ein leises Glucksen entkam ihr, bevor sie überrascht auflachte. Sanft streichelte sie ihn wieder.

Ich bin etwas verwirrt, dass du das fragst. Ja, weder Rasiria noch Hibhe sind hier. Ja, ich kann gerade nicht singen und ich habe dich schon gefunden… aber wieso denkst du, dass ich die Menschen, die Musik oder eine Aufgabe als Ablenkung brauche, wenn du doch hier bist? Ich weiß, dass du wieder bei mir bist. Ich schlafe jeden Abend mit dem Wissen ein, dass du in der Nähe bist und wache damit auf. Deine Anwesenheit hat schon immer die Schatten von mir fortgewischt.

Sie schmunzelte noch leicht, aber es verschwand wieder, weil sie daran dachte, dass sie nun fragen musste. Sie wollte nicht. Sie wollte nicht weiter in ihn dringen und sie beide zwingen, aber… verdammt noch mal, er musste doch sehen, dass sie es wissen wollte, um ihm zu helfen! Sehr leise stieß sie die Luft aus.

Was hat dir derjenige noch angetan?



Das angenehme Kraulen ließ Lucien sanft erschauern. Er genoss dieses Gefühl. Doch Talins leises Lachen brachte ihn dazu, den Kopf leicht zu ihr zu drehen und zu ihr aufzusehen. Noch während sie sprach, hob er flüchtig die Augenbrauen. Es wirkte überrascht. Überrascht, weil er nie auf den Gedanken gekommen war, er könnte die gleiche Wirkung auf sie haben, wie sie auf ihn. Für ihn hatte sie immer… aus sich heraus gestrahlt. Unerschütterlich. Sie brauchte niemanden dafür. Schon gar nicht ihn.
Mit einem leisen, müden Seufzen drehte er sich vorsichtig auf den Rücken, hielt mit einer Hand nur die Flasche fest, damit sie nicht vom Sofa fiel. Er wurde stiller, nach und nach. Erwiderte nicht mehr viel auf das, was sie sagte. Auch in ihm wurde es stiller. Er zog sich in sich selbst zurück.
Die tiefgrünen Augen huschten über ihre Züge, als suche er nach etwas. Ohne zu wissen, was. Wärme, tiefe Zärtlichkeit lag in seinem Blick, als er die Linke hob, sie sacht an ihre Wange legte. „Talin...“ Nicht mehr als ein Flüstern. Sie wollte ihm nur helfen, er wusste das. Und vielleicht hätte sie ihm helfen können. Aber er ließ sie nicht. Er hatte das, was ihn verfolgte, selbst getan. Also würde er selbst damit zurecht kommen müssen. Es war nicht für sie bestimmt.
Ohne hinzusehen griff er wieder nach dem Rum. Er setzte ihn an die Lippen, trank und sein Blick entglitt ihr, huschte zur Decke, dann ins Leere. Nur um ihr auszuweichen. Und dieses Mal nahm er mehr. Mehr, um die Erinnerung zu vertreiben. Aber die Flasche war noch fast voll und er konnte sie unmöglich in einem Zug leeren. Also musste er sie absetzen. Und das Spiel ging weiter.

Was willst du wirklich, Talin? Was wünschst du dir von mir?

Flackernd richteten sich die grünen Augen wieder auf das Gesicht seiner Schwester, hielten ihren Blick fest, und seine Hand lag noch immer an ihrer Wange.



Auch jetzt wusste sie wieder, er würde ihr keine Antwort geben. Sie erwartete eher das selbe Bild wie die letzten beiden Fragen. Seufzen, schweigen, einen Schluck trinken, sich hinlegen und eine Frage stellen. Doch stattdessen drehte er sich um. Talin blinzelte überrascht und ließ ihre Hand auf seinem Haar ruhen, während er sich auf den Rücken legte und dann zu ihr aufsah. Ein fragender Ausdruck legte sich in ihre Augen, bis sie die Sanftheit in seinem Blick erkannte und er seine Hand an ihre Wange legte, er ihren Namen sagte. Für einen Moment wurde sie schwach. Sie wollte sich vorbeugen, ihn umarmen, ihm sagen und gleichzeitig selbst glauben, dass alles wieder gut werden würde. Sie spürte, wie sie sich ein winziges Stück in seine Richtung bewegte, sich diesem Sog ergeben wollte, als er nach der Flasche griff und trank.
Die Blonde fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen, zeigte es aber nicht. Sie stieß nur ein leises Seufzen aus. Dass er ihr eine Frage stellte, machte es nicht besser. Sie konnte seinen Blick nicht mehr ausweichen. Krampfhaft schluckte sie, während sie sich geradezu in seinem Haar festkrallte.

Ich habe dir ein Versprechen gegeben und ich werde mich daran halten. Ich wünsche mir, dass wir einander wieder bedingungslos vertrauen können, dass du mir vertraust, der Talin, die ich geworden bin. Dass du mir sagst, was dich beschäftigt. Dass du mir sagst, was dir geschehen ist.“ Ihre Stimme wurde sehr leise. „Denn ich glaube nicht, dass Alkohol und Frauen dir dabei helfen, damit fertig zu werden. Egal, was dir passiert ist, ich werde dich nicht verlassen oder dir sagen, dass du jetzt ein abscheulicher Mensch bist.

Ihr Blick glitt von seinen Augen zu ihrer verkrampften Hand in seinen Haaren. Unter größter Anstrengung löste sie die Muskeln und streichelte wieder sanft über sein Haar. Sie musste eine Frage stellen. Irgendeine, die sie von diesem Gefühlschaos wegzog, damit sie nicht irgendetwas Dummes tat. Sie hätte weitere Fragen über das Schiff stellen sollen, aber alles war wie leer gefegt. Bis auf diese eine Sache.

Vertraust du mir denn nicht mehr?



Seine Gedanken wurden fahriger, unsteter und doch ahnte er, was die Antwort sein würde. Seine Hand löste sich von ihrer Wange, ein unschlüssiges Zögern. Seine Mauern bekamen Risse. Er stieß leise, halb zynisch, halb resignierend die Luft aus und berührte sie wieder. Strich sanft über ihre Haut bis seine Finger ihren Haaransatz streiften und sich goldene Wellen über seine Hand ergossen.

In deinen Augen werde ich nie ein abscheulicher Mensch sein, nicht wahr? Ganz egal, was ich tue oder getan habe.“ Ein Lächeln huschte über seine Lippen und die tiefgrünen Augen wanderten mit einem unendlich sanften Ausdruck über ihre Züge. Lucien verstummte und senkte den Blick, suchte nach Worten. Nach Antworten, die er ihr geben konnte. Er wollte ihr vertrauen. Ein kleiner Teil in ihm, das Kind, das er fast umgebracht hatte, wollte sich ihr anvertrauen. Und er kam gegen dieses Gefühl nicht an.

Ich…“ Er stockte und begann von neuem: „Bei jeder Frage, die ich nicht beantworten wollte, geht es nicht darum, was mir angetan wurde. Sondern darum, was ich getan habe. Ich… habe etwas getan – auf diesem Schiff – wofür ich mich verabscheue. Etwas, das ich nicht einfach abstreifen kann. Und diese Narbe erinnert mich daran. Jeden Tag. Jede Nacht. Mit jeder Berührung. Ich ertränke die Bilder, die sie wachruft. Mit Alkohol. Mit Frauen. Aber ich kann sie nicht vergessen. Und du kannst mir nicht helfen.

Wieder huschten die grünen Augen zu ihr zurück, baten sie stumm darum, es einfach nicht länger zu versuchen. Seine Hand schmiegte sich an ihre Wange, mit dem Daumen fuhr er sanft die Linie ihrer Braue nach.

Ich kann dir nicht mehr erzählen. Diese Dinge sind nicht für dich bestimmt. Aber das heißt nicht, dass ich dir nicht vertraue.



In ihrem Kopf herrschte Chaos, ihre Gefühle überschlugen sich und seine Berührung verschwand. Beinahe hätte Talin ein leises Wimmern von sich gegeben, aber sie hielt sich zurück, weil seine Hand nur kurz darauf wieder bei ihr war. Die Blonde schloss die Augen und folgte seiner Berührung, jedem entfachten Nerv in ihrem Gesicht. Ihr wollten die Tränen kommen, doch sie wusste nicht, wieso. Auf seine rhethorische Frage hin schüttelte sie nur heftiger den Kopf, denn es war ja nun einmal wirklich so. In ihren Augen konnte er nichts falsch machen. Wie sollte er auch? Das Schlimmste, was sie ihm jemals hätte vorwerfen können, war, dass er eine Vorliebe dafür hatte, mit Frauen zu schlafen, mit denen sie auf irgendeine Art und Weise befreundet war. Aber daran war er niemals allein Schuld, also wollte sie ihm das nicht vorhalten. Aber er schien das anders zu sehen.
Talin öffnete langsam die Augen und hielt ihren Blick auf sein Gesicht gerichtet, folgte jeder einzelnen Regung. Er sah weg, überlegte, was er ihr sagte und ihr Herz setzte einen Schlag aus, bevor es wütend davon galoppierte. Er verabscheute sich für etwas, was er auf diesem Schiff getan hatte? Wofür? Dafür, dass er überlebt hatte, im Gegensatz zu allen anderen? Dafür, dass er zu ihr zurückgekehrt war? Ihr Blick fiel auf seinen Hals, aber eigentlich sah sie die Narbe in seinem Nacken. Tiefer, noch nie zuvor gekannter Hass – noch schlimmer als für Juan – durchfuhr sie und ihr ganzer Körper spannte sich an. Ihre Hand hatte sich aus seinem Haar gelöst. Sie wollte losstürmen und dieses Schiff jagen.
Wer immer dieser Mensch war, der ihrem Bruder das Gefühl gegeben hatte, nichts mehr wert zu sein, obwohl er überlebt hatte – sie wollte ihn finden und umbringen. Auch seine Berührung half ihr nicht, sich wieder zu beruhigen. Sie hörte seine Worte, wie durch ein Rauschen, aber trotzdem wusste sie, was er ihr sagen wollte. Das, was auf diesem Schiff passiert war, hatte kaputt gehen lassen, was zwischen ihnen so kostbar war.
Ihr Blick glitt an Luciens Kopf vorbei und sie sah, dass sie einen ihrer Dolche in der Hand hielt. Als wollte sie sofort auf jemanden einstechen. Während ihr Blick zu seinem Gesicht zurückglitt, griff sie nach der Hand, die die Flasche hielt und streichelte sanft darüber. Er konnte nichts dafür, egal, was er ihr sagte. Sie würde ihm niemals die Schuld dafür geben, was ihm zugestoßen war und dass sich dadurch alles zwischen ihnen verändert hatte. Deshalb trat in die Kälte in ihrem Blick auch eine überragende Sanftheit, als sie ihm wieder in die Augen sah. Aber sie würde niemals diesem Monster verzeihen. Weder seinem noch ihrem. Und sie hasste diese beiden Schatten, die ihnen jeweils ihr Zeichen aufgedrückt hatten.

Es reicht mir. Ich werde erst einmal nicht weiter bohren. Es tut mir so leid, großer Bruder. Es tut mir leid, dass dir das passiert ist, dass dich das gezeichnet hat und dass ich vor der Narbe in deinem Nacken zurückgezuckt bin.“ Sie schwieg kurz, bewegte langsam ihren linken Arm. „Aber noch mehr tut es mir weh, dass es dich nicht los lässt. Das derjenige immer noch so eine Macht über dich hat. Ich glaube“, ihre Stimme wurde wieder sehr leise und sie wusste, sie würde gleich etwas sehr dummes und impulsives tun, „Ich glaube, ich will nicht, dass wir beide Narben haben, die uns nur an unsere Albträume erinnern.

Damit ließ sie ihren Arm nach vorn schnellen und schnitt einmal sowohl über ihren als auch über seinen Handrücken.



Er hatte zu viel gesagt. Viel zu viel. Noch während er sprach, verdunkelte sich ihr Blick. Auf ihrem Gesicht lag ein Zorn, den er von ihr nicht kannte, den er noch nie gesehen hatte. In ihren Augen lag eine Kälte, die ihn erschaudern ließ.

Talin...“, flehte er, kaum hörbar, und wusste nicht, worum er sie anflehte oder was er ihr sagen wollte. Nicht wütend zu sein? Seine Worte zu vergessen? Dass er sich wünschte, er hätte sich damals für den Tod entschieden, statt die Dinge zu tun, die er hatte tun müssen, um zu leben? Ihr Zorn richtete sich nicht gegen ihn, das wusste er. Das sagte ihm diese unendliche Sanftheit, mit der sie seinen Blick erwiderte. Aber er konnte nicht damit umgehen, das sie seinetwegen so wütend, so hasserfüllt wurde. Hass war etwas, das zu ihm gehörte. Nicht zu ihr.
Er gab einen Laut von sich, als wollte er das Wort ergreifen, stockte dann jedoch. Sie kam ihm zuvor und er hätte ohnehin nicht gewusst, was er sagen sollte. Also schwieg er, sah nur zu ihr auf und schloss schließlich hilflos die Augen. Seine Hand sank von ihrer Wange und er stieß den angehaltenen Atem aus.
Sie verdammte ihn zum Zuhören und in ihm regte sich Unmut. Er wollte sie aufhalten, ihr den Mund verbieten. Sie sollte aufhören, zu sagen, das es ihr Leid tat. Nichts davon war ihre Schuld, sondern seine. Seine Entscheidung.
Lucien holte Luft, sah wieder zu ihr auf. Doch bevor er wirklich realisierte, was sie da gesagt hatte, bevor er auch nur auf die Idee kam, was sie tun könnte, schoss ein scharfer Schmerz durch seine Hand.

Ah, verdammt!

Aus purem Reflex riss er die Hand zurück, stieß damit die Flasche um, die noch auf dem Sofa umkippte und ihren Inhalt auf die Planken ergoss, bevor sie ihm mit einem dumpfen ‚Klonk‘ dorthin folgte. Er setzte sich ruckartig auf und hob die Hand, um sich anzusehen, was sie getan hatte. Blut sickerte über die Wundränder eines langen, geraden Schnitts und rann sein Handgelenk hinunter. Sein Herz schlug plötzlich schneller und sein Blick huschte zu seiner Schwester hinüber. Verwirrt, nicht zornig.

Warum...?

Dann erst sickerte zu ihm durch, was sie zuletzt gesagt hatte. Was sie mit diesem Schnitt bezweckt hatte. Langsam ließ er die Hand sinken und sah sie an. Schließlich schüttelte er leicht den Kopf und seufzte.

Zeig mir deine Hand.



Kaum hatte sie die Waffe zurückgezogen, als auch schon Blut aus der Wunde floß. Als die Rumflasche auf den Boden landete, meldete sich der Schmerz in ihrer Hand und sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Talin presste die Lippen auf einander und ließ sich gegen die Rückenlehne sinken, gerade als Lucien sich aufrichtete. Doch sie sah ihn gar nicht. Ihr Blick war starr auf ihren blutenden Handrücken gerichtet und sie hieß den Schmerz willkommen. Es lenkte sie von der Wut ab, die immer noch durch sie raste, wie ein Flächenbrand. Aber diese Wunde... sie würde eine Narbe bilden und diese Narbe würde nur ihnen beiden gehören.
Für einen Moment schloss sie die Augen, als Lucien schließlich zu ihr sprach. Mit ruhigen Blick sah sie zu ihm auf, auch wenn ein paar Tränen darin schimmerten. Es überraschte sie ein wenig, dass er nicht sauer wurde. Wahrscheinlich wäre sie wütend auf ihn, wenn er sie einfach so mit seinem Dolch verletzt hätte. Aber er blieb ruhig und machte sich sogar sorgen. Ein kleines belustigtes, aber sanftes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen und sie hielt die Hand auf Höhe ihres Gesichts hoch. Fast sofort spürte sie, wie das Blut nach unten floss.

Wahrscheinlich war das einer meiner dümmeren Ideen. Aber es wird eine Narbe sein, die nur uns beiden gehört.“ Sie musste schlucken, denn was sie sagen würde, passte ihr nicht, aber sie musste ihn beruhigen. „Ich...ich verstehe vielleicht nicht alles. Aber das hier. Das kann uns keiner nehmen. Und so lange ich weiß, dass auch du diese Wunde hast, kann ich immer an dich denken und die Dunkelheit damit verscheuchen.

Zaghaft lächelte sie ihn wieder an und hielt Lucien dann schließlich ihre Hand hin.

Ich liebe dich, großer Bruder. Das werde ich immer tun.



Lucien seufzte nur tief. Er lächelte nicht, wirkte ernst, aber er konnte seiner kleinen Schwester in diesem Augenblick auch nicht böse sein. Nicht bei dem, was sie sagte. Eine Narbe, die nur ihnen beiden gehörte. Er sah noch einmal hinab auf seine Hand, auf den blutigen Schnitt, der sich nun quer über den Handrücken zog. Eine Narbe, die weder sie noch er mit etwas Schlechtem verband. Sondern mit etwas Gutem. Miteinander.

Oh Talin...“, stieß er leise, fast resignierend aus.

Mit der unverletzten Hand löste er das Band, das den Kragen seines Hemdes zusammenhielt, streifte sich das Kleidungsstück vom Kopf und schüttelte sich kurz die daraufhin zerzausten Haare aus dem Gesicht. Sein Blut hinterließ Spuren auf dem hellen Stoff des Ärmels, doch auf seine eigene Hand achtete er nicht weiter, richtete seine Aufmerksamkeit stattdessen auf die seiner Schwester.
Sanft umfasste er ihr Handgelenk, damit sie bei der Berührung nicht zurück zuckte und wischte mit einem sauberen Stück Stoff vorsichtig, unendlich zärtlich das Blut von ihrer Haut. Etwas, das er schon hunderte Male getan hatte, wenn sie sich als Kind verletzte. Wenn sie sich die Hände am Waschbrett wund geschrubbt oder beim Beeren Sammeln an den Dornen hängen geblieben war. Nicht anders als früher.
Vorsichtig wickelte er sein Hemd ein, zwei Mal um ihre Hand. Nur damit nicht noch mehr Blut aus der Wunde trat, bis sie den Schnitt richtig versorgen konnten. Dann sah er wieder zu ihr auf, begegnete ihrem Blick und  in den tiefgrünen Augen einen halb strafenden, halb sanften Ausdruck.

Du bist unmöglich.