04.10.2020, 14:37
War das...nein, das hatte sie sich sicher nur eingebildet. Er würde nach so kurzer Zeit nicht schon auftauen und freiwillig mit ihr spielen. Es fiel ihm vermutlich immer noch nicht leicht, dass ganze so einfach anzunehmen. Also widerstand sie der Versuchung zu glauben, er hätte gelächelt. Wenn Lucien schlechte Laune haben wollte, dann hatte er die auch, nicht wahr? Aber immerhin antwortete er ihr bereitwillig auf ihre Frage. Darüber musste sie lächeln, bevor sie nachdenklich an ihm vorbei sah. Vermisste sie ihre Kindheit? Eigentlich war das eine gute Frage.
„Ich vermisse das glückliche Gefühl zwischen uns. Die Geschichten, unsere Träume. Aber unsere Kindheit vermisse ich nicht. Kelekuna, unsere Familie, das Dorf...all das sind Gründe kein Kind mehr dort sein zu wollen, findest du nicht? Willst du dorthin zurück? Nach Kelekuna?“
Er hatte nicht spezifiziert, was genau er an ihrer gemeinsamen Kindheit vermisste. Aber es war genau das. Genau das, was sie beschrieb. Er dachte an die Zeit zurück, als sie noch so viel jünger gewesen waren, als ihr Vater ihn noch nicht mit zur See genommen und sie nur sich gehabt hatten. An die Geschichten, die er erfand, die er aus dem Seemannsgarn der alten Männer weiter spann, nur um ihr ein Lachen zu entlocken. Das Strahlen in ihren Augen, das er über alles auf dieser Welt liebte. Wehmut flackerte in seinem Blick auf. Dieses bedingungslose, endgültige, alles überstehende Vertrauen zwischen ihnen. Das vermisste er.
Doch ihre Frage lenkte ihn von diesem Gedanken ab, ließ ihn nur leicht den Kopf schütteln.
„Ganz bestimmt nicht. Ich will nicht zurück gehen... Aber ich werde.“
Er sah Talin nicht an, doch das leise Grollen in seiner Stimme verriet viel mehr, als er sagte. Es verriet die Gründe, weshalb er zurück gehen würde. Nur ein einziges Mal.
„Singst du noch so viel wie früher?“
Sie hatte es sich also doch nicht nur eingebildet! Ein wenig wurde er weicher. Und sei es nur, weil sie sehr genau wusste, was ihn beschäftigte. Das sie mit ihren Worten vielleicht genau das gesagt hat, was sie beide fühlten. Wieso also fiel es ihnen so schwer einfach wieder zu dem Punkt zurückzukommen, an dem sie sich so bedingungslos vertrauten? Wirklich weil zu viel geschehen war? Oder weil sie den jeweils anderen nicht mit ihren Geschichten beunruhigen wollten? Wie erzählte man seinem Bruder auch, was alles geschehen war? Und was mit ihm passiert war...konnte sie sich das wirklich vorstellen?
Seine Antwort riss sie aus diesen düsteren Gedanken, nur um sie ihren eigenen Erinnerungen zum Fraß vorzuwerfen. Seine Worte, seine Stimme, dass alles gab ihr ein ziemlich genaues Bild von dem Grund, aus dem er zurück wollte. Sie konnte es ihm nicht verübeln. Wenn er mehr wusste...würde er dann sofort zurück wollen, wo sie doch noch so nahe dran waren? Konnte sie ihn begleiten und sich ihren eigenen Dämonen stellen? Am liebsten hätte sie in dem Moment nach der Flasche gegriffen, um sich selbst zu betäuben, aber das hätte nur den falschen Eindruck vermittelt. Immerhin hatte er ihr ja auch eine Frage gestellt. Sie atmete tief ein und langsam wieder aus, um sich zu beruhigen.
„Momentan hab ich dazu recht wenig Gelegenheit. Im Bordell habe ich viel gesungen, um die Gäste zu unterhalten und mir meine Unterkunft zu verdienen. Ich glaube, mein Grund zu singen, hat sich verändert. Ich habe schon lange nicht mehr aus purer Freude gesungen.“ Sie lächelte wehmütig in Gedanken an die ausgelassenen Stimmungen von damals. „Willst du ihn so dringend umbringen?“ Sie sah Lucien ruhig in die Augen. Sie musste nicht genauer werden, er wusste genau, wen sie meinte.
Im Grunde hatte er schon damit gerechnet, dass seine Frage den Punkt streifen würde, an dem es unangenehm wurde. Ihre Antwort jedenfalls machte ihn... nicht besonders glücklich. Ohnehin wirkte er in diesem Augenblick alles andere als das. In ihm regte sich eine so hilflose Wut, dass er zunächst schlucken musste, bevor er etwas erwidern konnte.
„Brauchst du darauf wirklich eine Antwort?“
Lucien begegnete ihrem Blick. Nach außen hin nichts anderes zeigend, als ruhigen Ernst. Doch in seiner Brust ballte sich wütender Rachedurst zusammen. Wem er die Schuld daran gab, dass seine kleine Schwester sich so sehr verändert hatte, verändern musste, war unzweifelhaft offensichtlich und er konnte an nichts anderes denken, keine weitere Frage stellen, ehe er sich nicht wieder halbwegs unter Kontrolle hatte.
„Und nicht nur ihn.“
Die Stimmung schlug ziemlich schnell um, aber Talin behielt ihre Ruhe. Es überraschte sie selbst, wie wenig aufbrausend sie im Moment war. Statt also wütend zu werden, sah sie ihrem Bruder nur weiter ruhig in die Augen, bevor sich ein kleines Lächeln auf ihre Lippen stahl. So unendlich traurig. Es zerriss sie, wie diese Wut und der Hass Lucien auffraßen. Zumindest kam es ihr so vor.
„Du verabscheust sie so sehr. Ich kann es verstehen. Niemand dort war gut zu uns. Erst wollten sie uns alle tyrannisieren, dann uns flachlegen. Es ist schon lustig, dass sie uns begehrt haben. Vielleicht haben sie uns deshalb noch mehr gehasst? Aber was ihn angeht, musst du dir keine Gedanken machen. Im Grunde ist er ein wandelnder Leichnam. Was glaubst du, habe ich gemacht, als ich gegangen bin?“
Der Drang, nach der Flasche zu greifen, wurde übermächtig verlockend. Nicht etwa, weil er auf irgendetwas nichts erwidern wollte, sondern schlicht und ergreifend, weil er seinem Wunsch nach Rache irgendein Ventil geben musste. Und da es im Moment niemanden gab, den er umbringen konnte, blieb nur das.
Er begegnete Talins dagegen so erstaunlich ruhigen Blick und sah schließlich zur Seite, schüttelte nur den Kopf. Ihre Vermutung, dass sich sein Hass gegen jeden auf der Insel richtete, stellte er jedoch nicht richtig.
„Nicht uns, Talin. Was sie dir angetan haben, das ist der Grund. Und nur das.“
Er selbst war sich dabei doch so vollkommen egal. Was sie mit ihm getan hatten, war ihm egal. Selbst die Tyrannei auf der Mytilus, von der seine Schwester nichts ahnte, war ihm egal.
Mit einem leisen Seufzen schloss er die Augen, sah dann auf, zögerte. Nicht sicher, ob er nachfragen wollte. Ob er es wissen wollte. Ob er bereit war für Antworten.
„Was hast du mit ihm gemacht?“
Sie verengte bei seiner Antwort die Augen, denn sie musste stark an sich halten, ihn nicht einfach anzufauchen. Hatte sie ihm denn nicht erklärt, dass er nicht unwichtig war? Hatte sie denn nicht von ihm verlangt, dass er auf sich achten musste, weil er ihr wichtig war? Statt es ihm aber zu sagen, kniff sie den Mund leicht zusammen und begann ihre Fingernägel an einander zu klicken. Hoch runter, hoch runter. Es beruhigte sie, denn es kam nur wenig später die Frage, die sie von ihm verlangte. Wieso nur musste sie so mutig sein? Wieso musste sie ihnen beiden etwas aufzwingen, vor dem sie beide davon laufen wollten? Weil sie das eben nicht mehr tun sollten. Talin atmete noch einmal tief ein, beruhigte ihr wild schlagendes Herz und sah dann ihrem Bruder wieder in die Augen.
„Die Nacht in der ich abgereist bin, kam er vollkommen betrunken ins Haus. Er fiel aufs Bett und schlief sofort ein, nahm nicht einmal wahr, dass etwas anders war. Ich hatte schneller ein Messer in der Hand als ich denken konnte. All der Hass, den ich für ihn empfand...im ersten Augenblick wollte ich ihn für alles töten. Ein Leben für ein Leben. Aber als ich zustechen wollte, erkannte ich, dass er dann nicht mehr würde leiden können. Für gar nichts. Das es einfach so vorbei wäre. Also habe ich ihm das genommen, was ihn doch zu einem so wichtigen Mann machte. Ich habe ihm seine Männlichkeit abgeschnitten und rannte davon, noch während er schrie.“ Ein Lächeln der Genugtuung schlich sich auf ihre Lippen. „Was hättest du getan?“
Lucien bemerkte ihren Ärger durchaus – ignorierte ihn jedoch. Einerseits weil er ihrem Ultimatum zwar letztlich zugestimmt hatte, ihm das aber deshalb noch lange nicht schmecken musste. Und andererseits, weil dieser Hass und die Gründe dafür weit älter waren, als diese kleine Abmachung zwischen ihnen. Er lag in seiner Kindheit begründet und in den ersten Tagen nach seiner Rettung von der Morgenwind. Und den würde er sich auch nicht nehmen lassen.
Er wartete also nur ab und mit jeder Sekunde, die verging, wuchs der Druck in seiner Brust, die Angst vor einer Antwort, während im gleichen Maße seine Bereitschaft sank, zuzuhören. Hätte Talin nicht in diesem Moment tief Luft geholt, hätte ihr Bruder sie nur eine Sekunde später gebeten, doch nicht zu antworten. Jetzt jedoch hatte er keine Wahl mehr – und griff kurzerhand nach der Flasche. Als sie zu erzählen begann, brannte sich der Alkohol bereits scharf seine Speiseröhre hinab. Gut so... das hier war eindeutig nicht der Augenblick für Portwein.
In den tiefgrünen Augen wechselten sich mordlustiger Hass und zutiefst verzweifelte Schuldgefühle ab, doch als er die Flasche absetzte, erschien zumindest der Hauch eines Lächelns auf seinen Lippen. Ein bitteres Lächeln mit einem Anflug von Genugtuung darin.
„Ihn umgebracht.“, erwiderte Lucien schlicht und stellte die Flasche wieder zwischen ihnen beiden auf die Couch. „Und das werde ich auch noch tun, wenn er in dieser Nacht nicht verblutet ist. Aber der Gedanke, dass du ihn bis dahin mit einem elendigen Leben als verstümmelter Eunuch bestraft hast, ist irgendwie... tröstlich.“
Sein Blick ruhte noch immer auf der Flasche, während seine Gedanken zu jener Insel und jenen Menschen wanderten, die ihr ihre Kindheit genommen hatten.
Seine Worte waren schlicht, ließen Talin freudlos auflachen. Ihn umgebracht. Ja, natürlich. Sie beobachtete ihren Bruder, wie er die Flasche, aus der er gerade getrunken hatte, zwischen ihnen betrachtete. Er schien weit weg zu sein, vermutlich irgendwo auf einer kleinen Insel, die sie mit zu dem gemacht hatte, was sie heute waren. Aber sie wusste auch, dass es da noch mehr gab. Dinge, über die er nicht reden wollte, wie zum Beispiel die Narbe in seinem Nacken, die Schatten in seinen Augen. Talin seufzte leise, hielt die Hände still, bevor sie ihre Finger sanft über die seinen gleiten ließ.
„Du hast keine Frage gestellt“, erwiderte sie sanft. „Dann möchte ich dir noch eine stellen.“ Eigentlich hätte sie noch Abermillionen Fragen und sie wusste, die meisten würde er mit der Flasche beantworten, statt mit Worten. „Du bist nicht schuld an dem, was mir passiert ist. Du hattest jedes Recht, noch warten zu wollen. Ich war zu jung, um dir auf einem Schiff irgendeine Hilfe zu sein. Du konntest nicht wissen, dass du nicht zurückkehren würdest.“ Sie fuhr sich mit der Hand nervös durch die Haare. „Du konntest nicht wissen, was dir passieren würde. Kannst du dir irgendwann verzeihen? Kannst du irgendwann mit mir darüber reden?“
Als ihre Finger sacht über die seinen strichen, hob Lucien den Kopf und begegnete wieder dem Blick seiner Schwester. Richtig, er hatte keine Frage gestellt, aber bevor er sich in frustrierter Resignation über ihren Starrsinn ergehen konnte, kam sie ihm zuvor. Als sie zu reden begann, war er sich noch nicht sicher, worauf sie überhaupt hinaus wollte. Erst den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie ihre Frage tatsächlich stellte, ahnte Lucien, was kommen würde.
Er schwieg, sah Talin über die Flasche hinweg nur lange an. Sehr lange. Und in den tiefgrünen Augen lag ein Ausdruck, der sie die Antwort darauf wissen ließ. Selbst wenn er kein Wort sagte. Er trank nicht, er sagte nichts. Er sah sie nur an.
Und nach einer gefühlten Ewigkeit wandte er den Blick ab, sah hinüber zum Bett, zum Zuber, dem Paravent, der die Sicht darauf verbarg, ohne all das wirklich wahrzunehmen.
„Nichts gewusst zu haben, ändert nichts daran, dass es passiert ist.“
Vielleicht hatte sie Recht, vielleicht konnte er nichts dafür. Aber er behauptete ja auch nicht, dass die Schuld, die er auf sich geladen hatte, auf rationalen Gründen beruhte. Also nein, er würde sich nicht vergeben. Und nein, er würde nicht mit ihr darüber reden. Weder das eine noch das andere wollte er überhaupt.
Und jetzt war er wieder an der Reihe. Er sah zurück zu seiner Schwester, zögerte, dann: „Nachdem du Kelekuna verlassen hast - hattest du da je jemand anderen? Nach... ihm?“
Allein die Art, wie er ‚jemand anderen‘ sagte, machte klar, was genau er meinte. Jemanden, mit dem sie im Bett gelandet war.
Er sah sie mit einer Intensität an, die ihr sehr deutlich machte, was die Antwort auf ihre Frage sein würde. Es schmerzte sie, ihn so zu sehen.
Seit sie damals getrennt worden waren, war das einzige, was sie wirklich wollte, ihn wieder zu finden. Ihren großen Bruder, der so viel Hass auf ganz Kelekuna verspürte, Talin allerdings ohne wenn und aber liebte. Der sich immer gegen die Gemeinheiten der anderen gewehrt hatte und sich an ihnen dafür rächte. Sie hatte ihren Bruder gefunden, aber der Hass saß tiefer, der Rachedurst und eine Härte, die sie vorher nicht gekannt hatte, traten öfter in seine Augen. Und genau das war es, was sie um ihn fürchten ließ. Das war es, was ihr eine Gänsehaut über den Körper jagte und Sorge jede Freude darüber, dass er zurück war, vertrieb. Sie wollte ihn nicht verändern, wollte ihn nicht wieder zu diesem Jungen von damals machen, denn das würde sein jetziges, stärkeres Ich beleidigen. Es würde beleidigen, was er bis jetzt überlebt hatte. Aber sie wollte, dass er die Leichtigkeit wiederfand, dass er... verdammt noch mal, sie wollte, dass er sich besser fühlte. Und doch lehnte sein Blick all das ab, verweigerte die Zusage, schon bevor er den Mund aufmachte.
Talin wich seinem Blick schließlich aus, sah auf die Flasche hinab und seufzte leise. So ein Sturkopf. Sie sah wieder zu ihm hoch, wollte ihm mit Blicken sagen, was sie von seiner Antwort hielt, aber da stellte er ihr eine Frage. Ein paar Mal blinzelte sie überrascht und dann wurde es still in ihr. Sie konnte nach der Flasche greifen und trinken, konnte die Antwort verweigern, aber... sie hatte ihm und sich selbst versprochen, offen zu ihm zu sein. Also ließ sie ihre Hand auf seiner und die Flasche links liegen.
„Es gab jemanden. Wenn man es genau nimmt, gab es zwei, aber der zweite ist unwichtig.“
Sie hielt den Blick auf seine grünen Augen gerichtet und obwohl sie seine Frage beantwortet hatte, spürte sie, wie ein Knoten sich löste, der sie daran hätte hindern können, weiter zu reden.
„Er hat mich gebrochen“, sagte sie sehr leise und wich seinem Blick schließlich aus. „Ich war nicht mehr ich selbst, als ich ging. Hätte mich in dieser Zeit jemand angefasst, ich hätte ihn umgebracht. Dass es überhaupt jemanden gab, habe ich Rasiria Tarlenn zu verdanken.“
Ein kleines Lächeln huschte über ihre Lippen und sie sah ihm in die Augen. Wenn er sie noch so gut kannte wie früher, dann hätte er die Frage, die ihr auf der Seele brannte, darin lesen können. Sie wollte nicht wissen, ob er jemand anderen hatte. Wie denn auch, wenn er gefangen war? Sie wollte wissen, ob ihm das gleiche wie ihr angetan wurde. Ob auch er von jemand anderem gebrochen wurde. Aber sie wusste, er würde es ihr nicht sagen, würde trinken. Stattdessen fragte sie:
„Willst du mehr wissen?“
Er hatte gefragt. Er war so dumm und hatte gefragt. Aber er rechnete nicht mit dem Gefühl, das sich mit jedem ihrer Worte durch seinen Körper fraß. Dann hätte er sich vielleicht damit zurück gehalten. Dumm. Wirklich dumm. Reinste, egoistische Eifersucht brodelte in ihm, doch sie war nichts gegen was, was sich da noch regte. Was er fühlte, war kein Hass. Hass war dafür zu seicht. Es war ein tiefes, dunkles Loch, das alles Positive um sich herum einzusaugen schien. Diese Dunkelheit lebte in ihm – immer schon. Beiros hatte sie gesehen. Sie war immer schon da gewesen. Talin verdankte er es, dass sie ihn nicht vollkommen verschluckte. Sie war sein Licht. Und Juan hatte sie verletzt, sie gebrochen, hatte Schatten über sein Licht gelegt – und Lucien war nicht da gewesen, um es zu verhindern. Bei allen Welten, nein. Er würde ihn nicht einfach umbringen. Er würde ihn auf eine Weise leiden lassen, die er sich nicht einmal ausmalen konnte.
Der 21-Jährige schloss die Augen, wandte das Gesicht zur Seite und entzog Talin seine Hand. Dann lehnte er sich seitlich gegen das Sofa, legte den Arm auf die Lehne und fuhr sich kurz über die Augen, ehe er sie blinzelnd wieder öffnete. Ohne Talin anzusehen. Aber die Ruhe in seinen Bewegungen täuschte nur über das hinweg, was in ihm brodelte.
Er dachte nach. Fragte sich, ob er mehr wissen wollte. Juan hatte sie gebrochen; danach hatte sie jemanden gehabt, um es zu überwinden. Sofern man das überwinden konnte. Letzten Endes war man nicht mehr der selbe Mensch, der man davor gewesen war. Man war ein anderer. Der, der erlebt hatte, was er erlebt hatte. Aber Talin war stark, stärker als er. Immer schon. Sie hatte das geschafft, oder nicht? Sie hatte das beste daraus gemacht, nicht wahr? War das dann nicht alles, was er wissen musste? Wissen wollte?
„Wie stehst du zu ihr? Zu Rasiria Tarlenn?“
Es war die indirekte Frage danach, wie Rasiria ihr geholfen hatte. Aber eigentlich wollte er es gar nicht wissen. Er war nicht bereit dazu, mehr zu wissen. Mehr Schuld, mehr Eifersucht, mehr Rachsucht und Dunkelheit. Irgendwann gäbe es keinen Platz mehr für Licht und dann wäre er nicht mehr zu retten. Nur ein kleiner Teil in ihm wusste, sie konnte erst dann wieder sein Licht werden, wenn er sich endlich dem stellte, was aus ihr geworden war. Sie neu kennen lernte.
Ein Stich durchfuhr sie, als er ihre Hand losließ. Für einen kurzen Moment überlegte sie, ob es besser gewesen wäre, nach der Flasche zu greifen. Wann gab es wohl zu viel Offenheit zwischen ihnen? Ihr Blick ruhte weiterhin auf Lucien, der sich zurücklehnte, Abstand zu ihr suchte, ohne aufzusehen. Dabei spürte sie die Mauer zwischen ihnen, auch ohne, dass er sich bewegte. Aber sie behielt ihn im Blick, folgte jeder seiner Bewegungen und runzelte die Stirn. Was auch immer in ihm vorging, er wirkte ruhig. Zu ruhig. Diese Ruhe stand in einem ziemlichen Gegensatz zu seinem Verhalten. Aber sie sagte immer noch nichts. Wartete nur, bis er schließlich wieder sprach. Er stellte eine Frage, klang dabei aber, als würde es ihn gar nicht interessieren. Ruhig, so ruhig…
Talin nahm die Flasche, die zwischen ihnen stand, und nutzte den frei gewordenen Platz, um näher zu rutschen. Ihr eines Knie berührte seinen Oberschenkel. Die Flasche stellte sie in eine kleine Lücke zwischen ihnen beiden. Während sie eine Hand hob, antwortete sie:
„Rasiria war meine Feindin, dann meine Freundin und schließlich meine Geliebte. Sagen wir, vieles, was ich heute im Bett kann, habe ich von ihr.“
Ihre Finger berührten seine Wange, wollten ihn auffordern, sie wieder anzusehen. Seine Ruhe kratzte an ihren Nerven, ließ sie frustriert und unzufrieden zurück. Sie spürte, wie ihre kaum vorhandene Geduld gegen ihre Impulsivität kämpfte – wie sie es schon das ganze Gespräch über taten. Und schließlich gewann letzteres.
„Was ist geschehen, nachdem ihr gefangen genommen wurdet? Was ist dir geschehen?“