31.07.2020, 15:04
Der schockierte Ausdruck auf den Zügen seines Gegenübers war nicht zwingend erbaulich. Liam konnte es ihm nicht verübeln, dass er sich der überschaubaren Chancen bewusst war, die sie gegen diesen Berg von Menschen hatten, doch er war kein Freund davon, aufzugeben. Wenn das das einzige war, was ihnen übrig blieb, mussten sie es probieren und das beste daraus machen. Dass sie zusätzlich in der Unterzahl waren, bedeutete lediglich, dass sie geschickter vorgehen oder auf großes, großes Glück hoffen mussten. Hätte man ihm die Wahl gelassen, hätte er sich auch weitaus lieber für eine andere Alternative entschieden. Eine mit ein bisschen weniger Aussichtslosigkeit, aber was wollte er schon tun? Es war nicht so, dass er fortan zwingend die Auseinandersetzung suchen würde – aber er würde sie nicht scheuen, hoffend, den richtigen Augenblick zu erwischen, um möglichst glimpflich hier herauszukommen.
Die Tatsache, dass man sie nicht entwaffnet hatte, beruhigte seine Entschlossenheit allerdings wieder. Flint würde unmöglich davon ausgehen, dass sie zu ehrenhaft waren, als dass sie sich nicht auch mit Dolchen und Messern verteidigen würden – oder? Konnte, nein, würde er sie derart naiv unterschätzen? Unschlüssig runzelte er die Stirn, während er sich davon vergewisserte, dass er seinen Dolch tatsächlich nicht in ihrem Kämmerchen des Bordells zurückgelassen hatte. Dann drangen Stimmen an seine Ohren, denen er aufmerksam Gehör schenkte. Seine linke Hand verblieb vorerst auf dem Knauf seines Dolches, allein, weil es ihm ein trügerisches Gefühl von Sicherheit gab, während er leisen und langsamen Schrittes näher an das Tor trat, um sie besser verstehen zu können. Die Anspannung zwang ihn in eine flachere Atmung, während er einen kurzen Blick mit Nathan tauschte, der sich wohl ebenso erhoffte, die ein oder andere Information aufschnappen zu können. Und dann mischte er sich ein. Liam schwieg, bedachte den Blondschopf lediglich abwartend und wartete bereitwillig darauf, die Idee zu verstehen, die ihn offenbar gepackt hatte. Was hatten sie schon zu verlieren? Entweder es klappte und brachte sie tatsächlich hier heraus – oder es beendete das Ganze vielleicht vorläufig. Alles war besser, als brav darauf zu warten, bis irgendein Dahergelaufener meinte, es wäre Zeit, über sie zu richten.
Die zweite Stimme vor der Tür schwieg noch immer. Wenn er sich nicht täuschte, hatte ihn die Einstellung seines Kollegen ein wenig eingeschüchtert. Vermutlich also eher Ehrfurcht als bedingungsloser Gehorsam, die sie beide an Flint kettete. Der Erste blaffte allerdings unverblümt zurück und wies Nathan dazu, zu schweigen, wenn ihm seine körperliche Unversehrtheit lieb war. Doch der Blondschopf ließ sich nicht einschüchtern. Ob das dumm oder gut für sie war, würde sich in wenigen Sekunden vermutlich herausstellen. Die Stimme von draußen ließ nicht wirklich darauf schließen, ob Nathan in ein Wespennest gestochen hatte oder sie tatsächlich einfach nur Leid waren, sich mit Dingen herumzuschlagen, die eigentlich nicht ihr Problem waren.
Sich herauskaufen. Auch eine Möglichkeit. Also noch ein Vorteil, den sie daraus zogen, dass Flint seine Münzen nicht zurückgewollt hatte. Viel beizusteuern hatte der Lockenkopf allerdings nicht. Die Reste, die sich in seinem Lederbeutel befanden, reichten nicht im entferntesten, um einen Wohlhabenden zu irgendetwas zu überreden. Vor der Tür allerdings kehrte eine kurze Ruhe ein. Liam bildete sich ein, die Blicke förmlich hören zu können, die man sich vor dem Tor zuwarf. Der Dunkelhaarige nickte zuversichtlich, als Nathan sich mit einem Blick an ihn wandte und ermutigte ihn, mit seinem Versuch fortzufahren. Den Blick, den er kurz darauf vom Jüngeren auffing, quittierte er mit einem blassen, aber sichtbar amüsierten Lächeln. So unwahr war seine Aussage nämlich leider nicht. Diese Stoffe wogen sich vermutlich wirklich weitaus teuer als ihrer beider Leben. Verwerfliche Welt. ‚Flint‘ und ‚dankbar‘ in einem Satz allerdings klang fast schon wieder zu optimistisch. Nathan endete. Draußen blieb es still. Angespannt vergaß Liam für einen Sekundenbruchteil sogar zu atmen. Und plötzlich erklang ein leises Schnauben, bei dem sich der Lockenkopf nicht ganz sicher war, wie er es zu verstehen hatte – amüsiert oder gar widerstrebend?
„Pah. Mittellos aus dem Meer gefischt hat er dich. Mit welchem Gold willst du uns schon bezahlen.“, spuckte der Redseligere ihnen durch das Holz des Tores entgegen.
Liams Züge verdunkelten sich, als der Hauch von Hoffnung drohte, sich in Luft aufzulösen.
„Und dein Kumpel sieht auch mehr aus wie ein Herumtreiber als ein wohlhabendes Bürschchen.“, mischte sich die zweite Stimme skeptisch mit ein. „Hältst du uns wirklich für so dumm, für so eine offensichtliche Lüge Flints Zorn auf uns zu ziehen, der eigentlich euch gebührt? Pah.“ Er lachte. Mit einem Deut an Unsicherheit, bis der zweite mit einstieg. „Da müsst ihr euch schon etwas besseres überlegen.“
„Gut. Wir haben sie gewarnt.“, entgegnete Liam laut genug und zuckte mit den Schultern. Ein letzter Versuch, vielleicht doch noch Erfolg zu haben mit ein paar Psychospielchen, die ihm definitiv nicht lagen. „Wenn die Hündchen lieber brav Platz machen, bis ihr Herrchen zurückkommt… Hoffen wir, dass sie’s nicht bereuen werden.“
Er wandte sich ab und seine Schritte führten ihn wieder tiefer in die Scheune hinein. Vor der Tür wurden die Stimmen leiser. Offensichtlich sollten sie sie nicht hören.
„Was, wenn ihre Leute wirklich kommen? Gegen eine ganze Mannschaft sind wir machtlos.“ - „Ach! Lass sie kommen! Woher soll er denn plötzlich eine Mannschaft haben. Und der andere ist ein Herumtreiber, nichts weiter.“ Trotzdem schien sich ein bisschen Unsicherheit vor der Tür breitzumachen.