Als wartete sie, längst zur Flucht bereit, voller Spannung auf den letzten Mann und die letzte Frau ihrer Besatzung, zog die Sphinx knarzend an den straff gespannten Tauen, die sie in jener Nacht an der Kaimauer hielten. Innerhalb der nächsten Minuten fanden auch Talin und Skadi ihren Weg zurück aufs Schiff: Die Jägerin mit Scortias' leblosem Körper in den Armen und Talin darüber wachend, dass der unerwartet zurückhaltende Trevor nicht erneut davon stürzte, um sich auf die Suche nach verbliebenen Crewmitgliedern zu machen.
Und in dem Wissen, dass dieses Schiff, seine Mannschaft und deren Wohlwollen inzwischen ihre letzte Möglichkeit war, um die Insel mehr oder weniger unbehelligt zu verlassen, halfen auch die drei Fremden Tarón, Zairym und Rúnar jeder auf seine Weise so gut sie konnten. Bis auch Liam in Begleitung Josiahs und eines weiteren Unbekannten den Hafen erreichte. Von diesem Moment an blieb ihnen nichts anderes übrig, als abzuwarten – denn zwei Mitglieder ihrer Besatzung fehlten noch.
Entgegen Gregorys Bedenken kehrte schließlich Lucien zwar sichtbar mitgenommen, aber umso entschlossener an Deck zurück, schickte Shanaya ohne Umschweife auf ihren Posten und Zairym verzog sich unter den wachsamen Blicken Ceallaghs hoch ins Krähennest, um Ausschau zu halten.
Er war es auch, der die beiden Gestalten zu erst entdeckte, die eine der breiten Gassen entlang auf das Schiff zu stürmten. Rauch quoll längst zwischen den Häusern hindurch, machte ihre Gesichter zunächst unkenntlich. Doch als sie die offene Fläche zwischen den Lagerhäusern und dem Hafenbecken erreichten, erkannten die an Deck ausharrenden Crewmitglieder – darunter auch Elian – die Züge Aspens und Taranis', die einander auf ihrer Flucht durch die Stadt begegnet waren. Ihre Mienen verrieten allerdings, dass sie in Schwierigkeiten steckten und nur Augenblicke später vernahmen auch die Piraten auf der Sphinx das unangenehm bekannte Rattern der gewaltigen Maschine, der sie sich am Marktplatz gegenüber gesehen hatten. Noch während die beiden Männer rannten, gab Lucien jedem aufkeimenden Widerstand zum Trotz den Befehl, die Taue zu lösen – denn für die Kugeln aus diesen Kanonen gab der Dreimaster ein viel zu leichtes Ziel ab. Alles, was sie für Aspen und Taranis tun konnten, war, ein Netz bereit zu halten, um die beiden aus dem Wasser zu fischen.
So weit sollte es jedoch nicht kommen. Lange bevor sich der Umriss des Kriegsgeräts aus dem Rauch schälte, spie der weiße Dunst eine Hand voll Kopfgeldjäger in den Hafen hinaus. Erst einer, dann ein zweiter fiel Zairyms Gewehr zum Opfer, noch bevor sie wussten, wie ihnen geschah. Gleichzeitig jedoch eröffneten sie das Feuer auf die beiden Männer, die den Kai entlang auf ihr Schiff zuhielten. Eine Kugel streifte Taranis an der Wade, brachte ihn ins Taumeln. Die folgenden fanden ihre Ziele, zerfetzten Stoff, drangen in Fleisch ein, zerschlugen Knochen und Nerven. Die beiden Männer wurden langsamer, blieben schließlich stolpernd stehen – und brachen nur wenige Schritte von der Stelle entfernt zusammen, an der die Planke zum rettenden Schiff auf die Wasseroberfläche klatschte, als die Strömung die Sphinx in Richtung des offenen Meeres zog.
Weitere Schüsse sausten über das Deck, zwangen jeden Mann und jede Frau in Deckung, bis das Schiff aus dem Windschatten der verdammten Insel trat und sie die wenigen Seile durchtrennten, die die Segel an ihren Masten hielten. Blutrot im Flammenschein spannten sich die gerippten Flügel, drehten sich vor den Wind und ein sanfter Ruck ging durch die Löwin, die sich dem offenen Meer zuwandte.
Die nächsten Tage auf See verbrachte die Mannschaft damit, ihre Verletzungen zu versorgen und – jeder auf seine Weise – mit den Verlusten umzugehen.
Greos Zustand schien zunächst weder wirklich besser noch massiv schlechter zu werden. Für jeden, der ihn zu Gesicht bekam, wirkte er gefangen zwischen Traum und Wirklichkeit. Mal wissend, wo er sich befand, mal ganz und gar im Delirium, während sein Körper gegen starkes Fieber kämpfte, das sich noch tagelang hinziehen sollte. Lucien hingegen hatte auf dem Weg zurück zum Schiff zwar viel Blut verloren, erholte sich aber mit ausreichend Schlaf und genug zu Essen relativ schnell. Und auch wie sich die vier Fremden machen würden sollte sich in dieser Zeit bereits zeigen. Lediglich Aidan kündete an, die Mannschaft auf der nächstgrößeren Insel zu verlassen und handelte mit den Captains eine Überfahrt aus.
Zunächst zwang ihre Proviantknappheit sie jedoch dazu, auf einer weiteren kleinen Insel am äußersten Rand des Freien Herzogtums Halt zu machen. Zu klein, um auf den allgemeinen Karten der Ersten Welt verzeichnet zu sein und allemal klein genug, um für Kopfgeldjäger uninteressant zu wirken. Weitere vier Tage blieb die Sphinx dort im Hafen – in Sicherheit, zunächst.
In der dritten Nacht jedoch holte Shanaya erneut ihre Vergangenheit ein. Die Piratin wurde angegriffen und schwer verwundet, schaffte es mit letzter Kraft zurück aufs Schiff und verlor dort das Bewusstsein.
Gregory nahm sich ihrer an, entfernte eine Kugel aus ihrem Oberschenkel und nähte ihre Wunden. Zwei Tage später, wieder auf See, entzündete sich eine ihrer Verletzungen allerdings, fesselte sie mit zunehmend schwerer werdendem Fieber ans Lazarett.
Die Sphinx nahm Kurs nach Norden, durchquerte unbehelligt die interinsularen Gewässer zwischen Birlan und Tarlenn, bis sie am Abend des dritten Tages auf See das Hoheitsgebiet der Piratenfamilie erreichte. Talin sandte an jenem Abend einen Botenvogel aus, der ihre Kontaktperson über das Hiersein der Mannschaft unterrichten sollte.
Bereits am nächsten Morgen hockte der Vogel wieder auf der Reling des Schiffes und überbrachte eine Antwort: Rasiria Tarlenn – Ellhan Tarlenns Schwester – forderte nun, da Talin ihren Bruder gefunden hatte, den geschuldeten Gefallen ein. Welcher das sein sollte, verriet die Blonde allerdings nur Lucien, dessen Stimmung in den folgenden Tagen immer dann zu kippen schien, wann immer ein Gespräch auf seine Schwester oder die Familie Tarlenn fiel.
Sie erreichten Calbota, Hauptinsel des Herzogtums, drei Tage später. Im Hafen von Silvestre, einer kleinen Küstenstadt im Südwesten, brachten sie die Sphinxendlich ins Trockendock, um sie, soweit es die Mittel zuließen, die sie sich auf Mîlui beschafft hatten, reparieren zu lassen.
Während dessen fand die Crew Zuflucht in einem der teuersten Bordelle der Familie Tarlenn. Abseits des regulären Betriebs richteten die Damen den Piraten dort einige Räume her, in deren Abgeschiedenheit sie sich erholen konnten. Kein Angehöriger der Marine würde hier, unter dem Schutz der Herzogsfamilie, nach ihnen suchen. Und das war auch gut so, denn – und das erfuhren sie bereits wenige Stunden nach ihrer Ankunft – nach den Ereignissen auf der Insel der Kopfgeldjäger fand sich beinahe jedes Gesicht der Mannschaft auf Fahndungsplakaten wieder. Lediglich Ceallagh, Tarón und Rúnar blieben unbekannt.
Die meisten Gestalten auf den Plakaten hatten allerdings kaum Ähnlichkeit mit der Realität, geschweige denn kannte man ihre Namen. Sie wurden lediglich in Verbindung mit dem Angriff auf die Morgenwind und einem Schiff mit roten Segeln gebracht.
Am frühen Morgen des vierten Tages bestellte man Talin schließlich in die Werft, in der die Sphinx lag, um die Reparaturen und das weitere Vorgehen zu besprechen. So früh, dass die Stadt selbst noch in tiefem Schlummer zu liegen schien, um zu verhindern, dass allzu viele neugierige Blicke auf die Mannschaft aufmerksam wurden. Für den Fall, dass man ihre Hilfe bei der Reparatur benötigte, bat die junge Frau darüber hinaus Greo, Enrique und Skadi darum, sie zu begleiten.
Gerade, als sie das Werftgebäude betraten und ihnen ein stattlich bemuskelter, mittelalter Mann mit Zehntagebart, den sie bereits als Werftinhaber kannten, entgegen schritt, durchbrach ein schriller Frauenschrei die frühmorgendliche Stille und ließ jedermanns Bewegung augenblicklich gefrieren. Am anderen Ende der Halle, halb verborgen hinter großen Geräten, stand eine junge Frau, die Hände vor den Mund geschlagen, im Rahmen einer offenen Tür und starrte mit vor Schrecken geweiteten Augen auf den leblosen Körper zu ihren Füßen.
Wie ein Mann setzten sich Werftinhaber und Piraten in Bewegung, bogen nur Herzschläge später um die gewaltige Maschinerie, die ihnen den Blick versperrte, bis sich ihnen die gesamte Szenerie offenbarte: Bäuchlings ausgestreckt lag dort ein Mann, um dessen Kopf sich eine Blutlache bildete. Ein blutverschmierter Hammer mit faustgroßer Schlagfläche lag neben ihm und nur einen Schritt entfernt standen zwei Männer in ein Handgemenge verwickelt. Einer der Werftarbeiter war beim Schrei der Frau dazu gekommen und hatte sich, ohne lange nachzudenken, den Knaben gepackt, den er neben der Leiche hatte knien sehen und der ganz offensichtlich nicht hier her gehörte: Jonah Blythe.
Deutlich früher noch als seine kleine Schwester brach dagegen Lucien auf. Ohne ihnen zu sagen, wohin sie unterwegs waren, wies er Ceallagh, Trevor und Zairym, dessen Fähigkeiten möglicherweise nützlich sein konnten, an, ihn zu begleiten. Gerade über Trevors Gesellschaft schien der junge Captain alles andere als erfreut, verhielt sich aber auch sonst ungewöhnlich ernst und schweigsam, während der Weg der kleinen Gruppe sie beständig in eine der edelsten Wohngegenden der Stadt führte.
Shanaya indes hatte das schlimmste Fieber und die Entzündung zwar überstanden, gehörte allerdings nach wie vor ins Bett – befand Gregory. Er blieb zusammen mit seiner Patientin und den restlichen Mannschaftsmitgliedern im Bordell zurück. Liam, Farley, Tarón, Rúnar und der Schiffsarzt selbst haben es sich in den zur Verfügung gestellten Räumen gemütlich gemacht. Lediglich Elian beschloss, einen Blick auf Shanaya zu werfen und betrat in jenem Augenblick den Flur, der zu ihrem Zimmer führte.
21. Mai 1822 14 °C, leicht bewölkt Sehr früher Morgen 68 % Luftfeuchtigkeit, 23 °C Wassertemperatur
Shortfacts # Schauplatz: Silvestre, Hafenstadt auf Calbota # Die Sphinx erreichte am 07. Mai eine kleine Insel am Rande des Herzogtums, um Proviant aufzunehmen. # Am 11. Mai verlässt sie den Hafen Richtung Norden. # Am 17. Mai erreicht die Mannschaft Silvestre
# Talin, Enrique, Skadi und Greo haben soeben die Werft betreten, in der die Sphinx repariert wird. # Jonah Blythe wurde neben der Leiche entdeckt und festgehalten. # Ebenfalls Zeuge der Ereignisse ist Alex Mason. # Lucien, Ceallagh, Trevor und Zairym sind mit einem nur Lucien bekannten Ziel in der Stadt unterwegs. # Shanaya, Gregory, Elian, Farley, Liam, Tarón und Rúnar sind im Bordell zurück geblieben.
# Shanaya hat das Fieber überstanden, ist aber noch immer geschwächt. # Greo hat sein Fieber ebenfalls überwunden, leidet aber noch immer an spontaner Schwäche, Kopfschmerzen und wirren Träumen. # Lucien trägt noch immer einen Verband über der Wunde, die jedoch gut verheilt.
# Rayon & Josiah sind nicht anspielbar und werden bei Rückmeldung von der SL wieder in die Handlung eingeflochten.
Ein Hauch von Hinweisen ...
Das Opfer
Nhoj Thims. Dunkelhaariger, großer Mann mit einem großen Loch im Hinterkopf.
Kannte Jonah
?
Der janusköpfige Reeder
Jahn Bercker. Ein lieber mittelalter, stämmiger Mann mit beginnender Glatze.
Besitzer einiger Schiffe und der Werft, in der die Sphinx repariert wird.
?
Der geheimnisvolle Carpenter
Alex Mason
neu hinzugekommen in der Werft
Hat etwas verdächtiges vom Boden aufgehoben.
?
Die neureiche Hafenhure
Lilly. Zierliche Blondine, die mit viel Schminke zu vertuschen versucht, dass sie ihre besten Tage schon hinter sich hat.
Der Verlust von Nhoj Thims hat sie sehr mitgenommen.
War eine Hure
Glaubt, mit Nhoj verheiratet gewesen zu sein
Hat viel Geld geerbt
?
Der cholerische Jungspund
Ross Olen. Aufbrausender dunkelhaariger, grobschlächtiger Kerl. Er ist noch relativ jung und wenig attraktiv.
Einzig die Fischer waren es, die sich am Wasser tummelten, um ihren Fang zum täglichen Verkauf an Land zu bringen. Die Möwen kreisten kreischend am frühmorgendlichen Horizont und stritten gierig um ihren Anteil der Beute. Alex hätte sich fast daran gewöhnen können. An diese Regelmäßigkeit, früh morgens vor allen anderen auf den Straßen unterwegs zu sein, um die Werft zu erreichen, die ihn seit den letzten Wochen beschäftigte. Aber allein die Nähe zu Chikarn würde ihn früher oder später von hier forttreiben. Bevor er allerdings wieder in die Welten aufbrach, war es nicht verkehrt, sich einen kleinen Puffer aus Gold anzulegen, um nicht auf jeder Insel nach irgendwelchen niederen Aufträgen Ausschau halten zu müssen. Immerhin ging es ihm um das Erlebnis und das Abenteuer und nicht darum, irgendwo für irgendwelche Idioten die Drecksarbeit erledigen zu müssen. Allein unter diesem Gesichtspunkt musste er gestehen, dass er es mit der Arbeit in der Werft gar nicht mal so schlecht getroffen hatte. Auch, wenn die Zeit als Zimmerer ziemlich weit zurück lag, hatte er kaum Probleme gehabt, sich wieder einzufinden. Und Schiffe waren nun auch kein großer Unterschied zu einer Stube. Die Arbeit war und blieb fast die gleiche.
Als er die Werft betrat, war es noch ruhig in der großen Halle. Eine knappe Begrüßung galt dem Inhaber, der trotz der frühen Stunden bereits geschäftig war. Alex wusste, dass er irgendjemanden erwartete. Da es ihn allerdings nicht betraf, hatte er sich nicht groß um derartige Termine gekümmert. Stattdessen machte er sich dran, seine Sachen im Hinterzimmer abzulegen und sich mit den anderen abzusprechen, welche Arbeiten heute anstanden. Und während der Rest sich noch zu einem kurzen Plausch zusammentat, machte er kehrt, um sich allmählich ans Werk zu machen. Allzu weit kam er allerdings nicht.
Ein Schrei durchschnitt die morgendliche Stille unweit von ihm entfernt, hallte in der großen Halle wider und ließen ihn innehalten – den Bruchteil einer Sekunde bloß, ehe er sich automatisch in Bewegung setzte und um die Ecke einer größeren Maschine schlitternd zum Stehen kam. Eine Frau stand unweit entfernt von der Hintertür, wimmerte und ächzte und zu ihren Füßen lag eine weitere Person, reglos. Bei genauerem Hinsehen erkannte er zudem eine weitere Gestalt, die eben wohl noch vorn übergebeugt gewesen war, nun aber durch den plötzlichen Ausruf aufgeschreckt worden war. Erwischt vermutlich. Alex fackelte nicht lange, setzte sich abermals in Bewegung und schob sich unsanft an der Frau vorbei, die ihm den Weg ins Freie versperrte. Der Reglose am Boden tat es ihm gleich, doch der Lockenkopf wählte geschickte Trittsiegel zwischen Armen und Beinen, sodass er den loslaufenden Knaben einige Meter weiter tatsächlich erwischen konnte und grob am Kragen packte.
„Hiergeblieben, Freundchen.“, brummte er zunehmend genervt vom hysterischen Wimmern in seinem Rücken. Noch bevor er sich den Burschen näher angesehen hatte, aber nicht ohne ihn im Auge zu behalten, um der erwarteten Wehr entgegenwirken zu können, warf er den Kopf nur flüchtig über die Schulter. „Wie wär’s, wenn Sie stattdessen mal was Nützliches tun würden? Zu sehen, ob der gute Mann noch atmet, zum Beispiel.“
Nicht, dass es ihm wirklich um den Kerl am Boden gegangen wäre, aber er hoffte, dass dem Gewimmer dadurch zumindest kurz Einhalt geboten war. Aus den Augenwinkeln hatte er ebenso den Inhaber der Werft erkannt, hinter ihm vermutlich die einbestellten Kunden. Na, wenn das nicht einen super Eindruck hinterließ. Leiche zu ihrem Schiff gefälligst? Der Größe der Blutlache zu urteilen, hatte der Kerl ordentlich eins auf die Murmel bekommen. Vielleicht hatte er’s auch hinter sich, wer wusste das schon. Die Hauptsache gerade war, dass es nicht sein Problem war – jedenfalls nicht mehr, sobald er den Kerl hier abgegeben hatte. An wen auch immer. Aber so, wie sich an diesem Morgen eine vermeintliche Leiche gefunden hatte, würde sich auch jemand finden, dem er dieses Problem aufs Auge drücken konnte.
Der Morgen war noch jung und die Sonne stand tief über den Häusern und Dächern der Hafenstadt. Bis auf ihn, war das Zimmer leer – fast jedenfalls, denn auch Sineca starrte ihm gleich ruhig hinaus auf die Straßen. Er hatte das Fenster geöffnet, lauschte dem Gekreische der Möwen in der Ferne und fuhr der Ginsterkatze abwesend über den gefleckten Pelz. Talin und Skadi waren in der Früh aufgebrochen, um nach der Sphinx zu sehen. Er hatte sich noch ein, zwei Mal herumgedreht, ehe er selbst aufgestanden war. Seit sie hier waren, schlief er erstaunlich gut – und das, obwohl manche Hauswände mit schlechten Abbildungen ihrer Selbst gepflastert waren. Doch Liam war zuversichtlich, dass man sie nicht erkannte, wenn man nicht wusste, wenn diese Visagen auf den Plakaten darstellen sollten. Und doch nagte noch immer leise die Sorge an ihm, dass er maßgeblich daran schuld war, dass sie überhaupt existierten. Und wer wusste schon, ob nicht noch bessere Zeichnungen ihren Weg auf Pergament finden würden im Laufe der Zeit. Er versuchte dennoch, es wie die anderen zu handhaben und sich ausnahmsweise mal ein Beispiel an Aspen – mochte er in Frieden ruhen - zu nehmen. Ihn hatte es nie gekümmert, neben seinem Papierduplikaten zu posieren. Zum Verhängnis war ihm die Morgenwind und die Begleitung der Sphinx geworden.
Schließlich wandte er sich vom Fenster ab. Die Ginsterkatze zuckte nicht, behielt den Blick nach draußen gerichtet und witterte. Irgendetwas Interessantes schien in der Luft zu liegen und sie in seinen Bann zu ziehen. Seit dem Vorfall mit den Kopfgeldjägern war sie erstaunlich anhänglich geworden. Doch jetzt machte sie keine Anstalten, ihm hinaus auf den Gang zu folgen. Liam schloss die Zimmertür hinter sich und nahm sich vor, kurz bei Shanaya nach dem Rechten zu sehen. Wenn er sich recht entsann, waren sowohl Greo als auch Enrique gemeinsam mit Talin und Skadi aufgebrochen. Dass gerade die Damen des Hauses mit einem Tablett voller Speisen um die Ecke bogen, kam ihm dabei nur gelegen. Er beschleunigte den Schritt, hielt auf sie zu und nach einem kurzen Plausch hatte er einen Teller mit Obst, Gurken, Tomaten, Käse und Brot ergattert. Während die Damen weiter Richtung Aufenthaltsraum verschwanden, ging Liam noch ein paar Türen weiter, klopfte leise und öffnete sie schließlich, ohne auf eine Antwort zu warten.
Er ließ die Tür leise hinter sich zurück ins Schloss fallen. Wie erwartet schien die Schwarzhaarige noch zu schlafen und es stand ihm fern, etwas daran zu ändern. Sie brauchte den Schlaf, selbst wenn Shanaya das selbst nicht gern hörte. Sie brauchte ihn und mit jedem Tag, der mit der Bettruhe verging, kehrten mehr Kräfte zurück. So leise wie möglich stellte er den Teller auf einem Beistelltisch ab, fing dabei eine Vase auf, die er ungeschickt zum Klirren gebracht hatte und wollte wieder nach draußen verschwinden. So hatte sie zumindest ein Frühstück am Bett, wenn sie aufwachte.
Irgendein Geräusch, vielleicht auch Stimmen, hatten Shanayas kurzzeitig geweckt. Sie war nicht wirklich anwesend, wusste in diesem Moment nicht einmal wo sie war – und schlief genauso schnell auch wieder ein. Auch wenn sie die letzten Tage so viel wie noch nie in ihrem Leben geschlafen hatte, sehnte sich ihr Körper nach dieser Erholung. Nach Vergessen, was alles geschehen war. Gut, nicht alles davon, aber die Begegnung mit ihrem Bruder und seinen Schergen gehörte definitiv dazu. Aber der Schlaf brachte ihr Ablenkung, beruhigte sie und brachte ihr ihre alten Kräfte zurück. Auch, wenn das sicher noch ein wenig dauern würde.
Ihr Schlaf wurde nicht noch einmal so tief wie zuvor, trotzdem reichte es, dass sie regungslos da lag, die Welt um sich herum einfach passieren ließ. Nicht einmal das Bewusstsein, an was für einem Ort sie sich befand, drang zu ihr durch. Es war einfach still, so still wie schon lange nicht mehr. Auch ohne Schlaf träumte die junge Frau ein wenig vor sich hin, ließ in diesem Moment jedoch nur Platz für Gedanken, die ihr Herz in einem sanften Takt etwas schneller voran trieben. Die sie hätten lächeln lassen, wäre sie nicht kurz davor gewesen, wieder einzuschlafen. Sie war so müde, trotz des vielen Schlafes. Aber immerhin wurden ihre Nächte nicht mehr von Albträumen geprägt, die sie für Stunden wach hielten und nicht zur Ruhe kommen ließen. Sie war auf dem Weg der Besserung. Auch wenn ihr Körper noch immer nicht das tun wollte, was sie wollte. Aber auch das war nur eine Frage der Zeit.
Es verging einige Zeit, bevor der Schlaf wieder aus ihren Gliedern wich und wieder konnte sie nicht genau ausmachen, was sie weckte. War es das Geräusch der Tür? Irgendwelche Stimmen? Oder hatte ihr Körper einfach für den Moment genug. Ein leises Klirren zwang die Schwarzhaarige dann dazu, die hellen Augen zu öffnen. Zuerst blinzelte sie nur, gab ein leises Brummen von sich. Nicht unzufrieden, es klang mehr einfach nur verwirrt. Sie erkannte eine Gestalt, die bei ihr im Zimmer stand – und der wichtigste Gedanke galt dem, dass dort keine Frau stand. Ihre Welt wurde langsam klarer, das Bild deutlicher.
„Liam?“
Ihre Stimme klang noch geschwächt, das Gesicht war noch von leichtem Fieber gezeichnet.
„Was machst du hier?“
Wie spät war es? Ohne sich aufzurichten blieb Shanaya in ihre Decke gekuschelt, hob den Kopf ein wenig an um den Lockenkopf anzusehen. Was er dabei hatte fiel ihr im ersten Moment nicht auf. Suchend ließ sie den Blick schweifen, stellte einen Moment überrascht fest, dass sie allein waren. Hatte sie etwas verpasst? Einfach nur vergessen? Oder war irgendetwas geplant gewesen, worüber sie nicht informiert war?
„Wo sind die Anderen?“
Ihr Kopf sank zurück auf das Kissen. Nur einen Moment noch, dann konnte sie immernoch aufstehen. Irgendetwas sinnvolleres tun als nur herum zu liegen. Und wenn sie nur den Flur auf und ab lief.
Er hielt inne, als ein Murren aus Shanayas Richtung kam und hielt für den Augenblick die Luft an, um sie nicht gänzlich zu wecken. Ein Fiebertraum vielleicht, der sie halb wach, halb schlafend an sich gerissen hatte. Armes Mädchen. Aber sie hatten Glück gehabt, dass sich ihnen diese Möglichkeit hier geboten hatte. In einem richtigen Bett ließ es sich ohne Frage besser auskurieren als auf einem knarrenden Schiff in einer Hängematte. Und wenn sie sich weiterhin daran hielt, sich zu schonen, würde sie mit Sicherheit auch noch den ein oder anderen Vorzug dieses Hauses genießen können. Ein warmes Bad würde ihre Kräfte bestimmt wieder in Schwung bringen, sobald ihr Kreislauf dazu imstande war. Für den jetzigen Moment allerdings ging sein Plan nicht auf. Ein entschuldigendes Lächeln machte sich auf seinen Zügen breit, als sie ihn erkannte. Müde und matt, aber vom Eindruck her weitaus besser als die letzten Tage. Ihre Augen aber flackerten noch immer leicht fiebrig. Vielleicht hatte ihr die Ankunft in Silvestre auch das Leben gerettet. Er wollte sich nicht ausmalen, wie viele Chancen sie auf hoher See gehabt hätte.
„Auf welche Frage willst du zuerst eine Antwort?“, lächelte er leise und wagte es wieder, sich zu rühren.
Nun war sie immerhin wach. Lang stören wollte er sie dennoch nicht. Ein bisschen Abwechslung würde ihr allerdings vermutlich ganz gut tun, nachdem sie die meiste Zeit, die sie hier waren, im Bett verbringen musste.
„Die anderen sind heute Morgen aufgebrochen, um sich nach der Reparatur der Sphinx zu erkundigen.“, war das erste, was er ihr offenbarte, während er sich langsam zu ihrem Bett bewegte und seitlich am Fußende niederließ. „Der Rest ist vermutlich im Aufenthaltsraum. Dort müsste inzwischen das Frühstück stehen.“
So hatte sie es nicht allzu schwer, ihn sehen zu können und konnte sich wieder entspannter zurücklehnen. Er ging davon aus, dass es ihr um Enrique und Greo – vermutlich hauptsächlich Greo – ging, die sich mit ihr gemeinsam das Zimmer teilten. Ansonsten hatte er heute auch noch niemanden gesehen. Und dass auch Lucien mit einer kleinen Gruppe aufgebrochen war, entzog sich bislang seines Wissens. Oder er hatte schlichtweg schon wieder vergessen, dass gestern Abend irgendjemand etwas von diesen Plänen erwähnt hatte.
„Womit wir auch bei deiner zweiten Frage wären.“ Er deutete mit der Hand auf den Beistelltisch im Zimmer in der Nähe des Fensters. „Bevor dir die Crew wie hungrige Möwen alles wegfuttert, habe ich dir ein bisschen Essen stibitzt, bis du dich wieder wehren kannst. Ich hoffe, du weißt es zu schätzen. Kommt nicht oft vor, dass ich jemandem Essen ans Bett bringe.“
Er zwinkerte. Ein bisschen Unbeschwertheit tat ihr mit Sicherheit gut.
„Gewöhn‘ dich nicht dran.“, warnte er sie neckend vor und schmunzelte.
Shanayas Blick huschte kurz zur Tür, prüfend, ob jemand dem Lockenkopf folgte. Aber es blieb still, die Tür verschlossen. Vielleicht würde es ja auch bei Liam bleiben, nicht schlecht. Auch wenn sie jetzt nicht gern allein war, wollte sie doch nicht die halbe Crew um ihr Bett herum stehen haben. Zu viele Augen, die aufpassen konnten, dass sie sich nicht heimlich über das Dach davon stahl – und dieser Gedanke war ihr in den letzten Tagen unzählige Male gekommen. Ob Liam sie diesen Plan ausführen lassen würde? Sie zweifelte daran, schob ihn also zur Seite und richtete den hellen Blick wieder auf den Mann.
„Alle gleichzeitig, das schaffst du schon.“
Sie brummte leise, ihre Stimme klang dabei jedoch noch immer amüsiert. Oder eher schon wieder. Dazu hatte es ihr in den letzten Tagen an Kraft gemangelt. Sie lauschte seinen weiteren Worten, beobachtete ihn dabei mit ruhigem Blick, wie er zu ihrem Bett kam und sich darauf sinken ließ. Okay, sie wollten nach der Sphinx sehen. Die Schwarzhaarige hoffte inständig, dass das Schiff bald fertig war, sie hatte genug von... diesem Ort. Ihretwegen konnten sie sofort aufbrechen, wenn die Sphinx die Werft wieder verlassen hatte. Je eher, desto besser.
„Dann hoffe ich, dass sie bald mit guten Nachrichten zurück kommen.“
Seine nächste Antwort ließ sie den Blick heben, sie blinzelte kurz, ehe sich ihre Miene noch ein wenig aufhellte. Gut, sie musste gestehen, sie hatte nicht wirklich Hunger. Die letzten Tage hatte sie gegessen, weil sie musste. Es war nie viel gewesen, genau wie sie nur das Nötigste getrunken hatte. An manchen Tagen war sie zu erschöpft gewesen... aber ein paar Bissen würde sie sicher runter bekommen. Allein schon, um das Opfer zu ehren, das Liam erbracht hatte. Ihr Lächeln wurde ein wenig breiter, ehe sie sich mit müden Armen vom Bett abstützte und sich schließlich so drehte, dass sie Liam näher war. Das verwundete Bein streckte sie ruhig aus, biss nur leicht die Zähne zusammen um das kurze ziehen zu übergehen. Jetzt konnte sie sich leicht zur Seite drehen und den Kopf auf Liams Schulter ablegen. Sofort schloss sie wieder die Augen, atmete einige Male tief durch und entspannte sich wieder.
„Wenn du es mir jetzt noch klein schneidest und mich fütterst, ist dir meine ewige Dankbarkeit sicher.“
Ihre Stimme klang noch immer müde und ein wenig fürchtete die junge Frau in dieser Position einzuschlafen. Wenn er dann aufstand, würde ihr Gesicht unkontrolliert auf's Bett klatschen. Immerhin nicht auf hartes Holz.
„Glaub mir, sobald dieses verdammte Bein wieder gesund ist, lasse ich mich nie wieder von irgendwem bedienen.“
Es war schön, zu sehen und zu hören, dass es ihr allmählich besser ging. Doch während Shanaya bereits davon träumte, von hier zu verschwinden, war Liam eher der Meinung, dass es sich hier eigentlich ganz gut aushalten ließ. Und während er dabei eher an die Bademöglichkeiten dachte, war er gespannt daran, ob sich die ein oder andere Spannung der Crew zumindest anfänglich ein wenig gelöst hatte, sobald sie wieder an Bord der Sphinx waren. Hier hatten sie ja genug Möglichkeiten, sich ein wenig aus dem Weg zu gehen und sich um seine eigenen Bedürfnisse zu kümmern – und das mit einem ganzen Harem aus Frauen, die sich ein goldenes Näschen damit verdienten, ihre Gäste auf besondere Arten zu verwöhnen. Er nickte zuversichtlich auf ihre Hoffnung hin, immerhin war es an sich keine große Angelegenheit. Sie brauchte nur Zeit. Zeit, die sie unschöner verbringen konnten als hier. Und mit all dem, was sie auf Milui an Land gezogen hatten, sollte sich die ein oder andere Sache durchaus erledigen lassen.
Während er mit seiner Ausführung fortfuhr, beobachtete er, wie die Schwarzhaarige mühsam sich aufrichtete. Auf seiner Stirn zeichnete sich als Zeichen seines Mitgefühls eine blasse Sorgenfalte ab. Aber es beruhigte ihn und vermutlich auch die restliche Crew, dass sie über den Berg war. Als sie den Kopf schließlich auf seiner Schulter bettete und verlauten ließ, dass ihr die einfache Geste von Frühstück am Bett noch nicht genug war, wunderte er sich nur kurz über ihre Anhänglichkeit, störte sich nicht daran und warf ihr einen eindeutigen ‚Ich hätte es wissen müssen‘-Blick von der Seite zu. Das kurze Ziehen in seiner Schulter und das damit einhergehende Verziehen seiner Lippen ob des Schmerzes überspielte er mittlerweile schon ganz automatisch. Statt sich also zu beschweren oder Widerworte zu geben, streckte er den linken Arm aus, um den Frühstücksteller vom Beistelltisch zu ihnen herüberzuziehen und auf seinen Schoß zu stellen. Der Ausdruck auf seinen Zügen blieb unverändert. Auch, als er die erste Traube vom Teller pflückte und Shanaya in den Mund schob, bis er schmunzelnd den Kopf schüttelte.
„Ich verrate es keinem.“, versicherte er ihr im Bezug auf ihre Einschränkung. Immerhin war ihm dieses Gefühl auch nicht unbedingt fremd zur Zeit. „Und falls Gregory fragt, hast du den ganzen Teller verputzt. Ich stehe dir natürlich unterstützend zur Seite.“
Aufopfernd und großherzig, verstand sich. Liam ahnte, wie viel wert der Schiffsarzt darauflegte, dass sie genug aß und trank. Nicht grundlos, aber auf die Dauer konnte einem das durchaus auf die Nerven gehen. Der Appetit würde schon wiederkommen. Schmerzen bereiteten einem einfach andere Sorgen als Hunger. Das sah man ihm nach den drei Wochen vermutlich auch ein bisschen an. Während er gesprochen hatte, hatte er eine Scheibe Brot in kleine Häppchen gerissen.
„Ist dir nach süß oder herzhaft?“, fragte er und überflog das Angebot auf der Tellerplatte auf seinem Schoß. Er hätte genauso gut ‚Marmelade oder Käse‘ fragen können. „Und wie geht’s deinem Bein?“
Auch wenn so eine Schulter nicht unbedingt zu den bequemsten Dingen gehörte, auf die man seinen Kopf betten konnte, so war Liams Schulter ihr in diesem Moment ganz recht. Es war etwas anderes als dieses Kissen. Und auch wenn es ihr besser ging, sehnte sie sich trotzdem nach wie vor danach, nicht allein zu sein. Und diesen Gefallen tat Liam ihr mit seiner Anwesenheit, also musste er ihre Nähe jetzt auch aushalten! Also hielt sie einen Moment noch die Augen geschlossen, ehe sie den Kopf leicht drehte, um Liam aus den Augenwinkeln etwas anblicken zu können. Und so stoisch wie Liam eben war, regte er sich in diesem Moment, griff nach dem kleinen Wagen, um ihn zu sich hinüber zu ziehen. Er griff nach einer Traube und in halber Erwartung hob die Schwarzhaarige den Kopf etwas an, lächelte dann und öffnete den Mund, als Liam oh das Obst hinhielt.
„Schon traurig, dass man sich Lügen überlegen muss, dass ich genug gegessen habe...“ Ein leises Schnaufen drang über ihre Lippen. „Und dass du mir dabei auch noch geholfen haben musst...“
Ihr blauer Blick huschte beinahe wehmütig zu dem Essen auf dem Teller. Es wurde Zeit, dass alles wieder an Normalität gewann. Dass sie sich wieder bewegen konnte, wenn SIE wollte. Und dass sie essen konnte, ohne es in sich hinein zu zwingen, weil sie wusste, dass sie musste. Ansonsten würde es nur noch länger dauern, bis sie zu ihren alten Kraft zurück gekehrt war. Liams Frage entlockte ihr ein leises Brummen. Das war eine Frage, die sie sonst hätte frohlocken lassen, aber jetzt...
„Mach einen Mix aus Beidem?“
Vielleicht eine Antwort, die sie sonst auch gegeben hätte, jedoch mit absolut mehr Enthusiasmus. Jetzt hatte ihr Stimme mehr einen 'Gib mir irgendwas damit ich es hinter mir habe' Unterton. Seine nächste Frage ließ sie erneut seufzen und die Decke ein wenig anheben, um ihr Bein anzublicken, selbst wenn die Wunden von lockerem Stoff ihrer Hose verdeckt waren.
„Ich bin immerhin nicht mehr kurz davor, es abzuschneiden, damit es aufhört wehzutun. Weit gehen funktioniert auch noch nicht wirklich, aber es wird besser.“
Sie richtete den Blick wieder zu Liam herum, ohne den Kopf von seiner Schulter zu nehmen.
"Ich geb ihm noch ein wenig Zeit, dann ist meine Geduld endgültig aufgebraucht. Fieber und Verletzung hin oder her...“
Es war die erste Nacht der vergangenen Tage, in der sie nicht einem Baby gleich auf dem halbwegs weichen Polster der Decken gelegen und bis zum Morgengrauen friedlich vor sich hin geschlummert hatte. Das stetige Ziehen in ihrer Seite riss sie weit vor Sonnenaufgang aus dem Schlaf, direkt an das einzige Fenster ihres Zimmers. Weder wollte sie Talin, noch Liam aus ihrem Dornröschenschlaf erwecken. Beide hatten die Ruhe der vergangenen Tage bitter nötig und es blieb ohnehin abzuwarten, wie lange sie sich hier aufhalten konnte, ohne entdeckt zu werden. Skadi rechnete fast jeden Tag damit, dass Trevor mit einer Offenbarung heraus platzte oder einer der Steckbriefe sie besser traf, als bisher. Mit einem Seufzen hockte sie also auf dem schmalen Sims und beobachtete die Szenerie der Stadt und des Hafens. Zeitweilig mit Sin auf der Brust, die sich schnurrend in ihre Arme rollte und kurze Zeit darauf zu ihrem Lockenkopf zurück tigerte.
Erst als Talin sich murrend auf die andere Seite rollte und verschlafen den Blick unter den dichten Locken zu ihr hinauf warf, regte sich Skadi. Sah mit einem knappen Lächeln auf die Blondine hinab und schob sich mit steif gewordenen Gliedern von der Erhöhung. Viel Zeit hatten sie nicht damit vergeudet sich im Zuber zu waschen und das magere Frühstück zu verdrücken, das die leicht bekleideten Damen auf ihre Etage brachten. Ohnehin empfand die Nordskov keinen sonderlich großen Appetit und zwängte sich nur unter einem intensiven Blick Enriques eine Scheibe Brot und ein gekochtes Ei herunter. In den vergangenen Tagen war es ruhig um ihn geworden. Zu ruhig, für ihren Geschmack, wenn sie ehrlich war. Und dennoch brachte er sie immer wieder mit diesen Blicken zur Weißglut. Schnaubend und mit übergroßen Hamsterbacken stand sie vor ihm, kaute und würgte und malte genervt mit dem Kiefer. Verpasste ihm einen liebevollen Seitenhieb mit dem Ellenbogen, als sie an ihm vorbei schritt und Talin nach draußen vor das Bordell folgte.
Die Straßen schienen wie leergefegt. Still und ruhig und so unheimlich zugleich, dass Skadi sich jede Position ihrer Dolche, Wurfmesser und Giftpfeile in Erinnerung rief. Doch die einzigen Menschen, denen sie auf ihrem Weg zur Werft begegneten, waren Werftarbeiter oder einheimische Fischer, die ihren frischen Fang für den Markt an Land zurück brachten. Kein Grund um bis an die Zähne bewaffnet durch Silvestre zu laufen. Einzig und allein der geliebte Bogen war im Hurenhaus zurück geblieben und in bunte Tücher eingewickelt. Sicher war sicher.
Mit einem kurzen Seitenblick auf Talin und Enrique durchquerten sie den steinernen Durchgang. Steuerten auf einen älteren Mann mit Zehntagebart zu, der zumindest die junge Kapitänin auf Anhieb erkannte. Er war nicht die Sorte Mann, die sich leicht übers Kreuz legen ließ. Abgesehen von seiner beachtlichen Statur wirkte er auf Skadi seit ihrem ersten Kennenlernen wie jemand, mit dem nicht gut Kirschen essen war. Also hielt sie sich bei allen Gesprächen geflissentlich zurück. Beobachtete ebenso wie jetzt die einzelnen Schiffskörper und Gerätschaften, die in der Halle kreuz und quer, aber mit System verstreut waren. Und blickte erst auf, als ein spitzer Schrei durch die Halle dröhnte. Mit zusammengezogenen Augenbrauen huschte das dunkle Augenpaar erst auf Enrique, dann Talin und Greo. Suchte die Umgebung nach irgendeinem Anzeichen ab, dass sich hier jemand heimlich aus dem Staub machte, während sie dem Inhaber nacheilten.
Fast wäre sie in Greo hinein gerannt, als die kleine Truppe abrupt stehen blieb. Bremste sich mit der flachen Hand an seiner Schulter ab und räusperte sich entschuldigend, als sie mit einem Ausfallschritt an seine Seite trat. Die Szenerie, die sich vor ihnen abspielte wirkte unfassbar befremdlich. Eine hysterische Frau, die sich erst durch ihren Chef beruhigen ließ, dessen schwere Pranke auf ihrer Schulter ruhte. Nicht unweit von ihnen, umgeben von dunklem Blut, ein lebloser Körper, der auf den ersten Blick einem der Mitarbeiter gehören musste. Aufmerksam verfolgte Skadi den dunklen Haarschopf, der mit einem Hechtsprung irgendjemanden hinterher eilte und ihn mehr als unsanft zu Boden riss. Der Täter womöglich? Seine Worte dröhnten durch die Halle wie ein Kanonenschuss. Doch sie prallten an der jungen Nordskov ab, die vollkommen ungerührt in der Traube der Crew stand. Nur aus den Augenwinkeln sah sie erneut zu der zitternden Gestalt hinüber, die der Fremde wohl mit seinem bitteren Ausruf gemeint hatte. Ganz sicher würde sie sich nicht in diese Angelegenheiten einmischen. Der vermeintlich Tote war nicht ihr Problem. Schon gar nicht das ihrer Crew. Und weder würde sie sich da hinein ziehen lassen, noch Gefahr laufen, dass diese Aktion größere Kreise zog als beabsichtigt.
Er schmunzelte hörbar. Er konnte sich gut vorstellen, dass es ihr nicht sonderlich bekam, ausgerechnet ihren Appetit einzubußen. Im Normalfall war vor ihr kein Essen sicher – ganz gleich, ob auf ihrem oder auf dem Teller eines anderen. Und sobald sie diesen Zustand zurück erlangt hatte, wäre es ihm ein Vergnügen, die Rückkehr ihres Hungers gebührend zu feiern. Auch, wenn sich das noch ein paar Tage hinziehen würde.
„Ich würde es nicht als Lüge sehen.“, überlegte er laut und verzog nachdenklich die Lippen, während er die Scheibe Brot zerrupfte. „Mehr als… kleinen Schwindel, um eurer beiden Seelenheil ein wenig zu schonen. Und in meinem Fall sehe ich es als Wiedergutmachung für all das, was du mir so vom Teller stibitzt hast.“
Er hob vielsagend eine Augenbraue und rechnete bereits mit einem unschuldigen Grinsen ihrerseits. Er war ja selbst schuld, wenn er nicht auf sein Essen aufpasste, ja, ja. Liam wusste, wie der Hase lief. Aber ohne all die kleinen Neckereien mit dem ein oder anderen der Crew wäre ihm das Leben auf der Sphinx vermutlich wirklich zu steif und unpersönlich gewesen. Während er auf eine Antwort zu ihrer Brotbelagwahl wartete, flog sein Blick über die Marmeladen, das Obst und den Käse, bloß um einen Augenblick später aufzusehen und der Dunkelhaarigen einen prüfenden Blick zuzuwerfen. Süß und herzhaft? Ihrer Miene nach zu urteilen, war es ihr Ernst. Und wenn er recht darüber nachdachte, hätte diese Aussage vermutlich auch ohne das Fieber kommen können. Mit einem angedeuteten Schulterzucken machte er sich also dran und beschmierte die erste Schnitte Brot mit Marmelade, platzierte ein Stück Käse darauf und ob das vorbereitete Mahl hinauf zu ihrem Mund, während er ihrem Befinden lauschte. Alles in allem waren es gute Nachrichten. Nachrichten, die ihn von den dunklen Schatten ablenkten, die sie seit der Aktion mit den Kopfgeldjägern noch immer verfolgten. Blasser, aber präsent. Er ließ sich dennoch nicht davon abhalten, positiv nach vorne zu sehen.
„… Ich glaube, Trevor hätte die Vorstellung, mit deinem Bein verprügelt zu werden, auf eine groteske Art ziemlich amüsant und spannend gefunden.“, mutmaßte er amüsiert.
Währenddessen schmierte er sich ein ähnliches Häppchen wie das, was er für Shanaya vorbereitet hatte. Er wäre nicht Liam gewesen, hätte er diese eigentümliche Zusammenstellung nicht auf unbedingt versuchen müssen.
„Gut, wenn es besser wird. Hab gehört, da draußen warten noch ein paar Fahndungsplakate darauf, von uns bekritzelt zu werden. Zur Not muss ich dich halt huckepack nehmen.“