27.07.2020, 12:41
Auch, wenn es bei seinen Worten bei einer leeren Drohung bleiben würde, gefiel ihm die Vorstellung, wie Shanaya mit seinem vollberauschten Ich darum zu kämpfen hatte, dass es Zeit war, nach Hause zu gehen. Liam war es gewohnt, auf sich selbst aufpassen zu müssen. Und er schätzte Shanaya durchaus so ein, dass sie ihn – Versprechen hin oder her – auch einfach stehen lassen würde, wenn es ihr zu bunt wurde. Betrunkene waren eine Art für sich. Und er gehörte zu denen, die meist mit als letztes aus den Tavernen gekehrt wurden – was allerdings nicht bedeutete, dass er darauf aus war, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken. Fahrlässigkeit, ja, aber auch er kannte seine Grenzen und überschritt sie nur selten. Und er war jemand, der niemandem eines Rausches wegen zur Last fallen wollte.
„Alles klar, wir lassen Lucien zuhause. Ist notiert.“, grinste er ihr neckend mit einem Zwinkern entgegen.
Ganz davon abgesehen, dass er der letzte war, der irgendjemanden von irgendwelchen Feierlichkeiten ausschließen würde – er würde sich im Fall des Falles ohnehin nicht mehr daran erinnern. Anders erging es ihm da aber vermutlich mit der Vorstellung einer fröhlichen Wanderung durch die Landschaften der verschiedenen Inseln. Abenteuer, wohin das Auge blickte – ohne Mord, ohne Todschlag und ohne zu fürchten, dass einem irgendwer außer der Natur nach dem Leben trachtete. Abend für Abend fand man sich in einer provisorischen Zeltsiedlung wieder und entschied einvernehmlich darüber, ob man noch einen weiteren Tag blieb oder weiterzog. Es kam ihm alles so bekannt vor, dass er unweigerlich feststellen musste, dass er es vermisste.
„Sag das nicht zu früh – beim Wandern würde uns vermutlich schneller auffallen, wenn du den falschen Kurs einschlägst. Unbemerkt korrigieren wäre da nicht so einfach drin.“
Herausfordernd lag sein Blick auf ihren Zügen, eine Augenbraue gehoben, als würde er ihr tatsächlich unterstellen, sie hin und wieder auf einen falschen Kurs zu führen. Doch der Schalk in seinen Augen zeugte entweder davon, dass er blind darauf vertraute, dass sie ihren Posten nicht grundlos hatte, oder dass es ihm herzlich egal war, auf den direkten Wegen von A nach B zu gelangen. Die Wahrheit lag vermutlich irgendwo in der Mitte. Ihre Gedanken wurden allerdings jäh unterbrochen, als die junge Ziege auf ihren Pfad stolperte. Liam musterte erst das Tier und schaute dann, ob irgendwo vor oder hinter ihnen jemand auftauchte, der ein Mitglied seiner Herde vermisste. Nichts. Shanaya war mittlerweile in die Hocke gegangen und lockte das Zieglein mit einer ausgestreckten Hand näher zu sich ran. Das Verhalten des Tieres gab Aufschluss darüber, dass es vermutlich wirklich zu den Menschen gehörte. Er lachte, als die Dunkelhaarige für möglich hielt, dass die Tiger auf dieser Insel ganz spezielle Jagdtechniken entwickelt hatten.
„Damit wären sie schon schlauer als manche Menschen.“, kommentierte er und kam sich ein bisschen unzufrieden dabei vor, als ihm der Wahrheitsgehalt seiner Aussage bewusst wurde. „Was meinst du – sollen wir sie zurück bringen?“
Er hatte sich umgewendet und den Pfad entlanggesehen, den sie gekommen waren. Wenn er sich recht erinnerte, waren auf dem Hof allerdings keine Ziegen zu sehen oder zu hören gewesen. Womöglich wäre es also ein unnützes Unterfangen, dafür extra umzudrehen.
„Oder wir nehmen sie mit, falls wir auf die Herde treffen. Und wenn nicht, fühlt sie sich zwischen unseren Hühnern sicherlich auch ganz wohl. Mit einer kleinen Schleife um den Hals geht sie sogar als Geschenk für Greo durch.“
Liam zuckte mit der Schulter. Man kam auch schlechter an eine Ziege.