24.07.2020, 13:02
Jeder konnte sich glücklich schätzen, dass sie an diesem Abend Talin nicht von der Seite gewichen war – bis zumindest dieses Kanonenkugelgeschoss ausgetaucht war. Zwar war sie nicht gänzlich unverletzt geblieben, doch soweit wohlauf, dass Lucien ein Tobsuchtsanfall erspart blieb.
Skadi hatte somit für Liams Worte nur ein mattes Lächeln übrig. Den Blick abgewandt und mit einer wachsenden Unruhe in den Gliedern, die sie bald nicht mehr mit tiefen Atemzügen unterdrückten konnte. Wo blieb Gregory denn verdammt?
“Möchtest du das etwa nicht als Andenken an eine wilde Nacht behalten?“, schlüpfte es unter einem matten Schmunzeln über die vollen Lippen, während Skadi langsam den Kopf wieder zu Liam herum wandte. Was glaubte er denn? Dass sie sich einen Spaß daraus machen würde, dass er ihr vor Schmerz bald vom Stuhl kippte? Da gab es weitaus bessere Dinge, mit denen sie ihn ärgern konnte.
“Aber nett von dir mich vorzuwarnen. Besser ich behalte den Eimer, wenn das hier vorbei ist. Nur für den Fall.“
Wie einem Kind, legte sie ihm ihre flache Hand auf die dichten Locken und entwirrte das verklebte Konstrukt, bis sie sich seufzend erhob. Allmählich hatte sie die Geduld verloren darauf zu warten, dass das bärtige Langhaar zurück kam und sie dazu übergehen konnte, ihren Kameraden von dem Metall in seinem Arm zu befreien.
“Bin gleich wieder da.“
Hoffentlich blieb Liam lang genug aufrecht, bis sie mit den Schmerzmitteln und einem Lederriemen zurück war. Andernfalls mussten Shanaya und Lucien ihn wieder aufrichten. Oder der weißhaarige Fremde, der etwas planlos im Raum herum stand und etliche Mullbinden auf den Armen trug.
Wie ein Schatten huschte sie an allen vorbei in Richtung des Vorratsschrankes, an dem auch Gregorys Tasche auf dem Boden stand. Angesichts der derzeitigen Situation war es ihr vollkommen gleich, ob er es guthieß, dass sie darin herum kramte und nach dem suchte, was er wohl zu holen beabsichtig hatte. So wie sie ihn einschätzte, würde er nach diesem Abend auch nichts darauf erwidern. An jeder Ecke stand oder saß jemand, der versorgt werden musste. Je mehr Hände seine Arbeit unterstützten, desto besser.
Und wollte sie sich gerade mit den gefundenen Fläschchen herumdrehen und nach einem Ledergürtel an einer der Hängematten strecken, huschten die dunklen Augen auf einen Anblick, der sie zu Eis gefrieren ließ. Enrique. Angeschossen und mit zusammenpressten Augen auf einem Hocker. Dicht daneben Gregory, der emsig wie eine Biene um ihn herum schwirrte und dessen Abwesenheit augenblicklich Sinn ergab.
Ein lautes Husten riss sie aus ihrer Starre und zerrte ihren Blick von den beiden Männern. Verkrampft umklammerten die langen Finger das kalte Leder und zogen es mir klimpernder Schnalle zu sich heran. Sie hatte später noch genug Zeit sich über Enrique den Kopf zu zerbrechen. Immerhin lebte er noch. Mehr war im Augenblick nicht wichtig.
Dann wandte sie sich schon ab, vorbei an Rúnar und der kleinen Gruppe um Lucien. Auf direktem Weg zurück zu Liam, dessen blasser werdendes Gesicht ihr allmählich Sorgen bereitete.
“Hier.“, raunte sie zu dem Lockenkopf hinab und reichte ihm sowohl eines der Fläschchen als auch den Gürtel in ihrer Hand. Zwar würde das Schmerzmittel etwas von dem Abdämpfen, was gleich durch seinen Körper schoss wie Peitschenhiebe, doch das braune, abgenutzte Leder verhinderte zumindest, dass er sich noch obendrein die Zunge abbiss.
Kaum hatte sich die Nordskov auf den Schemel gesetzt und den Rest der Flaschen neben sich abgestellt, plätscherte bereits der erste Schwall Alkohol über den Kugellöffel auf den Boden.
“Sag Bescheid, wenn du bereit bist.“
[erst bei Liam | dann vorbei an Lucien, Ceall, Shanaya und Rúnar | erblickt Enrique und Greg | kehrt dann zu Liam zurück]