22.07.2020, 17:54
Wie es schien, hatte es Liam geschafft, ein paar Gedanken hinter der blassen Fassade des Blondschopf zu wecken – anders jedenfalls hätte er das von Selbstmitleid zerfressene Seufzen nicht zu deuten gewusst. Also doch ein hoffnungsloser Romantiker, der in Sehnsucht zerging, sobald er an seine Angebetete dachte? Der Lockenkopf wurde nicht ganz schlau daraus, wie sich Nathan diese Art von Leben leisten konnte, wenn er doch selbst sagte, dass er kein Material langfristigen Planung war. Vielleicht war er noch zu jung und zu naiv – er konnte nur sagen, dass er jung war, nicht jedoch wie alt wohl – um zu erkennen, dass er sich mit dieser Einstellung auf Dauer mehr selbst schaden würde als den Mädchen. Die meisten von ihnen hatten einen Plan mit ihrem Leben, wollten den Hof gemacht bekommen, eine Familie gründen. Und der andere Teil genoss die Freiheit dort, wo es ihnen möglich war, ohne herablassend gemustert zu werden. Bei der ersten Gruppe fand man Liebe und Geborgenheit, bei der zweiten Gruppe Leidenschaft und Unabhängigkeit. Er wirkte wie eine Mischung aus beidem. Eine Mischung, die in Liams Augen nur schwer zu erreichen war. Nicht, dass er die Frauen, mit denen er das Bett teilte, recht bald vergaß, doch beide Parteien wussten stehts, dass es um ein Vergnügen auf kurze Dauer ging. Die Morgen verbrachte jeder allein in dem Leben, in das er gehörte.
Für einen kurzen Moment schloss er die Augen, ging im Kopf erneut alle Möglichkeiten durch, die ihm einfielen und irgendeinen Erfolg versprechen konnten. Das einzige, was ihnen blieb, war entweder die offene Flucht nach vorne, solange Flint noch nicht da war und es Mann gegen Mann stand oder aber eben… Aussitzen. Beides war vermutlich mit der ein oder anderen Verletzung verbunden. Und wenn sie flohen, würde das den Zorn dieses Cholerikers mit Sicherheit nicht schmälern. Wenn sie blieben – nun, dann musste man zumindest nicht fürchten, ihm abermals ausversehen über den Weg zu laufen. Womit er übrigens wieder bei der Sache mit seiner momentanen Pechsträhne war. Schöne Misere.
„Bennett. William Bennett.“, antwortete Liam, ohne groß darüber nachdenken zu müssen.
Er öffnete die Augen langsam und drehte sich in einem Zug wieder in die andere Richtung, um Nathan den Rücken zuzudrehen. Für ihn musste es so aussehen, als wäre ihm noch eine Möglichkeit in den Sinn gekommen – in Wahrheit allerdings wunderte er sich schlicht und ergreifend nur darüber, weshalb ihm ausgerechnet er in den Sinn gekommen war. Er bezweifelte, dass Nathan je etwas von ihm gehört hatte. Die Eternal Ocean war ein kleines Schiff, das mit ihren eigenen Zielen und fernab der Machtaustragungen der größeren Piratenköpfe über die Weltmeere segelte. Niemand hatte sie auf dem Schirm, genauso, wie es wohl mit der Sphinx gewesen wäre, hätten sie nicht zufällig und ganz versehentlich einen Gefangenentransporter der Marine auf dem Gewissen. Trotzdem wunderte er sich, wie sein Kopf so schnell und aus dem Nichts heraus eine Brücke zu Lubayas Zwillingsbruder hatte schlagen können. Wo die sich wohl gerade herumtrieben? Ob die blonde Piratin sich ihnen wieder angeschlossen hatte oder doch zuhause auf ihre Geschwister aufpasste? Es war eindeutig der falsche Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, selbst wenn Nate ihn dazu anhielt. William würde vermutlich nicht nach ihm suchen. Talin und Lucien vermutlich schon. Wenn sie zurück waren jedenfalls und feststellten, dass er auch morgen noch nicht wieder aufgetaucht war, obwohl noch all seine Sachen an Ort und Stelle lagen. Shanaya hielt ihn für alt genug, um auf sich selbst aufzupassen, der Rest scherrte sich nur wenig um den Zustand der anderen. Und Skadi würde womöglich davon ausgehen, dass er schlicht Zeit für sich brauchte. Auch da rechnete er also nicht damit, dass sich irgendjemand vor dem Morgengrauen auf die Suche machen würde. Doch er sah diese nüchterne Aussicht gelassen. Umso einfacher fiel es ihm, über Nathans Anmerkung bezüglich des gefährlichen Diebes zu schmunzeln.
„Früher oder später schon. Allerdings habe ich dich auch nicht für blöd genug gehalten, mich direkt zum Ziel zu führen. Und die anderen werden es auch nicht tun. Ein bisschen Zeit werden wir also so oder so überbrücken müssen, wenn wir auf Hilfe warten wollen.“
Er hätte ihm gerne mehr Hoffnung gemacht. Vielleicht täuschte er sich ja auch. Vielleicht hatten Josiah und Shanaya längst den eigentlichen Dieb gefunden und waren auf dem Weg, um ihn wieder einzusammeln. Josiah würde die Blutspur sicherlich nicht entgehen. Flint und Shanaya in einem Raum schien ihm aber eine explosive Mischung. Eine, die man nur zulassen sollte, wenn die Sphinx wieder sicher auf den Wellen des Meeres schaukelte und bereit war, sie von hier fortzubringen.
„Von daher… bleibt nur zu hoffen, dass wir beide genug gelernt haben, um uns alleine gegen ihn zur Wehr zu setzen. Er mag einen kräftigen Schlag haben, ist aber plump. Dafür hat er noch seine zwei dressierten Frettchen, die mit Sicherheit nicht einfach zusehen werden.“
Wobei – da fiel ihm ein, dass auch niemand auf die Idee gekommen war, sie zu entwaffnen. Seine Augenbrauen schoben sich skeptisch zusammen, als er mit der Linken nach seinem Messer tastete. Doch gerade, als er den Blondschopf darauf aufmerksam machen wollte, bemerkte er die Stimmen von draußen. War Flint etwa schon zurück? In seinem Magen sackte ein flauer Kloß in die Tiefe.
„Was meinst du, was er mit ihnen anstellen will?“, brachte einer der Männer von Flints Leibgarde leise hervor. Den Schritten nach zu urteilen, stiefelte einer von ihnen vor dem Tor auf und ab. Die andere Stimme befand sich offenbar direkt neben dem Eingang. „Ich weiß nicht. Hoffe aber, dass diese ganze Chose dann endlich mal ein Ende hat. Seit Tagen hat dieser Lackaffe nicht mehr zu tun, als uns wie Köter herumzuscheuchen. Und sehen wir dafür auch nur einen Achter mehr? Pah. Was auch immer es ist – er kann’s schön selbst tun.“