17.07.2020, 15:24
Liam, so hieß sein Mitgefangener, schien die Hoffnung noch nicht aufgegeben zu haben, einen versteckten Fluchtweg zu finden. Er hob jeden noch so kleinen Fetzen hoch, um taadaaa dahinter das Mauseloch zu finden, durch das sie bestenfalls entkommen konnten. Doch wenn Travis auch nur die leiseste Vermutung hatte, dass man aus diesem Loch hier entkommen konnte, dann hätte er die Leibwächter IN ihr Gefängnis gestellt und nicht davor. Ganz davon abgesehen war das Wort „Loch“ ungerecht gewählt. Nathan hatte es schon mit schlimmeren Bruchbuden als Gefängnis zu tun bekommen. Dagegen war das hier sogar luxuriös. Ein sicheres Gefühl in seiner Magengrube allerdings sagte ihm, dass das hier nur ein sehr kurzes Intermezzo werden würde. Egal, was Travis vorhatte, sie mussten hier raus. Nur wie?
Der Pirat merkte an, dass es vielleicht mehr als ungeschickt war, die Jungfräulichkeit der Tochter UND das Geld eines so mächtigen Mannes zu rauben. “Aber nein! Was denkst du denn? Ich habe keine Jungfräulichkeit geraubt!“ Es war wieder dieser entrüstete Ton, den er hier in dieser Stadt oft an den Tag legen musste. Er drehte sich herum und begann seinerseits an den Pfosten der Deckenbalken zu suchen, ob man dort hoch klettern konnte. Dabei rieb er sich den Nacken und murmelte sehr leise: “Dafür blieb leider keine Zeit.“ Natürlich hätte er nicht gezögert, dafür war er Gwenn viel zu sehr verfallen gewesen. Aber er hegte stille Zweifel, dass die rothaarige Schönheit wirklich jungfräulich gewesen war. Das Wenige, was sie getan hatte und was die Zeit erlaubt hatte, deutete darauf hin, dass sie wusste, wie man...
Konzentrier dich, Blödmann.
Lauter fügte er hinzu: “Außerdem ist der gute Flint so reich, die wenigen Münzen hätten ihm nicht weh getan. Ist dir aufgefallen, dass er sein Geld nicht mal wiederhaben wollte?“ Damit griff er in seine Tasche, holte zum Beweis den kleinen Lederbeutel heraus und warf ihn in die Luft, fing ihn wieder auf und stopfte ihn zurück in die höchst unpraktische Hose. Dann hob er die Schulter und schüttelte den Kopf. “So ein Wirbel um nichts… Was hat der Kerl vor?“ Vielleicht konnte man über die Berge teurer Brokatstoffe, an die Querverstrebungen und von dort aus…
…sich den Hals brechen…
Er brummte unwillig. Wieder keine gute Idee. Was war denn mit ihm los? Er war Auswegloserem entkommen, oder etwa nicht?
“Ob Flint nur ein gewöhnlicher Stoffhändler ist, wage ich zu bezweifeln. Es werden einige krumme Geschäfte nebenherlaufen. Das Monogramm, die Stoffe, die Lagerhäuser, das prachtvolle Haus, die Bediensteten und Schiffe… vielleicht gute Tarnung für Betriebsamkeit hinter dem Rücken der Marine… Ich weiß nicht, ich kenne ihn selbst nur wenige Tage. Wäre Gwenn nicht zufällig auf eben diesem Schiff gewesen, ich weiß nicht, ob man mich mitgenommen hätte. Bis zu einem gewissen Punkt gibt er sich anders, wenn seine Tochter im Raum ist.“ Er seufzte tief. Ja, genau, die Tage allein auf See, DAS war ausweglos gewesen! Hier würde sich etwas finden. Es musste einfach so sein. Das sollte nur recht bald geschehen, möglichst vor dem Wiederauftauchen der Schläger.
Na gut, aus dem Dachlukenfenstern konnten sie nicht klettern, das stand mal fest. Er rieb sich das Kinn. Und wenn sie den leichteren Stoff anzündeten und Feuer riefen? Wenn die Halbaffen hineinstürmten, konnten sie vielleicht heraus. Aber genausogut konnten die Männer hier sie ohne Weiteres elendig eingehen lassen. Dafür mussten sie nicht einmal einen Finger krumm machen.
“Ihr habt so misstrauisch gewirkt“, antwortete Nate erklärend dem Blonden, als der ihm sagte, dass ihm arbeitende Seemänner besser in den Kram passten, als verwöhnte Stadtbürschchen. “…außerdem ein Taschendieb in den Klamotten…? Das nimmt einem doch auch keiner ab.“, entschieden schüttelte er den Kopf. “Nach meiner Erfahrung ist das Leben eines Wohlhabenden immer noch mehr wert als das eines Namenlosen. Ich muss nur von dieser verfluchten Insel, alles andere ist mir egal.“ Es schien allerdings so, als würde er in diesem Leben dieses Rattenloch nicht mehr verlassen. “Wenigstens bis Gwenn verheiratet und fünf Kinder hat!“ Er verzog sein Gesicht zu einem schiefen Grinsen. "Bestenfalls nicht von mir."
Er setzte sich auf einen Haufen voller aufgehäufter Seidenballen und hörte Liam aufmerksam zu, als dieser erklärte, warum dieser zum stummen Verfolger wurde. Entschieden schüttelte Nate während der Rede mit dem Kopf. “Warum… WARUM wäre ich dann nicht einfach mit der Tasche verschwunden? Das macht keinen Sinn. Der Kerl ist in mich reingelaufen und umgekehrt. Ende des Zufalls. Und ganz ehrlich, mein lieber Liam,“ Er lachte freudlos auf und erinnerte sich an den kurzen Blick, den er in und auf das zerschlissene Ding werfen konnte. “…das Zeug, was in der Tasche drin war, war mein Leben nicht wert.“ Er machte eine Pause und stellte sich vor, wie Flint die schwer verletzte Piratin aus der Gasse belästigte.
Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter. “Deine Freundin von eben? Hat ER sie so schlimm verletzt? Mir kam sie recht wehrhaft vor, ich kann mich natürlich auch täuschen. Aber sie war genauso misstrauisch. Natürlich verstehe ich jetzt warum. Hat Flint euch überfallen?“ Er hob die Augenbrauen.
Fast hätte Nathan vergessen, dass er hier raus musste. Aber vielleicht erfuhr er jetzt etwas von Flint, dass er irgendwie gegen diesen einsetzen konnte. Also wartete er gespannt auf Liams Antwort.
[mit Liam in einem Lagerhaus]