16.07.2020, 00:05
Nathans Nase hatte für einen Tag wirklich genug eingesteckt. Nathans selbst war auch mehr als bedient, aber er ahnte, dass Flint noch lange nicht genug Blut gesehen hatte. Er kannte Travis noch nicht lange genug, aber seine Menschenkenntnis sagte ihm, dass ihm der unangenehme Teil seiner kleinen Eskapade noch bevorstand. Der unheilschwangere Blick, den Flint ihm zuwarf, verhieß jedenfalls nichts Gutes.
„Hmmmm. Ihr seid doch sicherlich so gnädig, hier kurz auf mich zu warten.“ Nathan erwiderte den Blick ruhig, aber im Gegensatz dazu zog sich sein Magen zusammen. In was hatte er sich hier wieder hineingeritten? Dieses Mal war er jedoch klug genug, nicht darauf zu antworten. „Ich habe noch die ein oder andere Sache zu klären. Dann werde ich mich um euch Bastarde kümmern.“
Mit diesen wenig erbaulichen Worten verließ er das Lagerhaus und mit ihm seine Lakaien. Was zur Hölle wurde hier gespielt? Was wollte er klären? Wollte er Gwenn auf den Plan rufen? Oder gab es eine Todesart, die er ersonnen hatte, die Vorbereitung brauchte?
„Hier.“, erklang es plötzlich neben ihm, als sein Leidensgenosse ihm eines der Laken aus den Stoffbeständen reichte. „Vermutlich das teuerste Taschentuch, das du in deinem Leben je verwenden wirst. Solltest dich nur nicht damit erwischen lassen. Aber so siehst du fast noch bedrohlicher aus als dieser Gorilla.“ Auf Nates fragenden Blick deutete der andere auf sein Gesicht, und tatsächlich - als er den Stofffetzen mit einem dankbaren Nicken annahm und damit über sein Gesicht fuhr - färbte es sich kaminrot.
Der Pirat suchte die Wand hinter Nathan ab. Noch immer schien er ihm erschreckend abgebrüht, so als fürchtete er nicht wie Nathan in der nächsten halben Stunde verbrannt, gevierteilt, verfüttert, vergiftet, erschossen, gehäutet, ertränkt, aufgeknüpft oder was auch immer zu werden.
„Und du hast ihn beklaut und dich mit seiner Tochter eingelassen? Nicht unbedingt ein Schwiegervater, wie man ihn sich wünscht.“
„Ja, na ja… eingelassen… ist womöglich das falsche Wort…“, relativierte Nathan übellaunig. Er ging zu einem Wasserfass, das in einer Ecke offensichtlich dazu benutzt worden war, um Segeltuch zu reinigen, tauchte den teuren, beschmutzten Fetzen hinein und entfernte notdürftig und mit schmerzerfülltem Gesicht vorsichtig das Blut. Hoffentlich blieb seine Nase nicht krumm. Aber wenn er sie so betastete, schien sie zumindest nicht gebrochen zu sein. „Ich habe jedenfalls nichts getan, was sie nicht auch aus tiefster Seele wollte. Zum Heiraten bin ich nicht so ganz der Richtige. Das Beklauen kam dann irgendwie… so … nebenbei.“ Er entfernte in dem brackigen Wasser das Blut von seinen Händen und wischte sich die Hände an der Hose trocken.
Er seufzte tief. Nate war im Grunde kein Freund von schnellen Allianzen. Doch in dieser Situation, da er sich wie die Ratte in der Falle fühlte, war der Lockenkopf seine vielleicht einzige Chance, nur mit einer blutigen Nase davon zu kommen. Der junge Bursche vor ihm schien zwar keinen rettenden Ausweg zu sehen, doch er schien zuversichtlich genug, hier irgendwie wieder herauszukommen. Oder er wusste, was Flint vorhatte. Jedenfalls schienen die beiden sich zu kennen. Wie dem auch sei, wenn er eine Chance haben wollte, dann bekam er sie am ehesten mit Blondie.
Also entschloss er sich dieses Mal - was völlig gegen seine Natur war - für die Wahrheit.
„Mein Name ist Nathan“, eröffnete er seinem Gegenüber ehrlich. „… und das hier…“ er wies auf sein blutbesudeltes, teures Hemd und die ebensolche Hose. „…ist mehr Schein als Sein. Mein Vater ist natürlich kein Stoffhändler, die hat mir Flint verpasst, als er mich aus dem Meer zog.“ Mit zerknirschter Miene breitete er erklärend die Arme aus. „Ich hatte gehofft, ihr Piraten würdet eher ein gut situiertes, harmloses Händlersöhnchen mitnehmen, als einen gewöhnlichen Tagedieb.“ Er machte eine Pause, in der er zum Tor ging und lauschte. Leise waren dort die Stimmen der Leibwächter zu hören. Sanft drückte er gegen einen Flügel des Tores und stieß sofort auf einen Widerstand. Jemand hatte offensichtlich einen Riegel vor das Tor geschoben. Das war zu erwarten gewesen. Er drehte sich zu dem Anderen um. „Warum hast du mich verfolgt? Das hast du doch, oder? Du warst doch nicht zufällig am gleichen Ort, als Flint mich schnappte? Und warum bist du hier?“
[mit Liam im Lagerhaus]