15.07.2020, 00:13
Der gute Tipp seines neuen „Kumpels“ es laufen zu lassen, quittierte Nathan mit einem irritierten kurzen, humorlosen Auflachen. Er drückte sich den Handballen gegen die Nase und verstand zwar, dass er eine Spur hinterließ, aber wer, bitte, wer in dieser Götter verlassenen Stadt würde sich die Mühe machen, ihn und seine Haut zu retten? Hatte er etwas nicht mitbekommen? Wer war hier der verfluchte Lügner? Und warum war der Kerl die Ruhe selbst?!
„Ja klar. Laufen lassen.“, wiederholte Nathan und ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er seinen Mitstreiter für mindestens grenzdebil hielt. Oder er war das genaue Gegenteil davon. Nathan kniff die Augen zusammen und versuchte, dass Pochen in seiner Nase zu ignorieren. So tat er ihm den Gefallen und nahm die Hand von der Nase, so dass die Spur zu dem Lagerhaus führte, in das sie gebracht wurden. Dort angekommen sorgten die Leibwächter dafür, dass eine Flucht durch das Tor, durch das sie gekommen waren, unmöglich wurde. Nathan überschlug seine Chancen, Flint zu überwältigen, um dann an ihm vorbei aus der Dachluke zu klettern, ohne dass die Schläger ihn vorher einholten und zu Brei schlugen. Sie standen, vorsichtig ausgedrückt, überhaupt nicht gut. Der Typ neben ihm war immer noch so entspannt, als gelte es, mit seinen Freunden einen feinen Sonntagnachmittag zu verbringen. Was machte den Piraten so sicher? Travis würde sie beide wahrscheinlich in diesem Kontor am höchsten Balken aufknüpfen und fertig. Vielleicht vorher noch das Fell über die Ohren ziehen oder sonstige Nettigkeiten. Für eine simple Abreibung hätte die Gasse gereicht. Für ein simples Abstechen allerdings auch.
Während er so darüber nachdachte, sagte Travis etwas, dass ihn aufhorchen ließ:
„Mal ganz abgesehen von einem nichtsnutzigen, schmutzigen Amateur mit langen Fingern, der auch nur darüber nachdenkt, meine Tochter zu besteigen.“
Nathan sah zu seinem Leidensgenossen und schüttelte angewidert den Kopf, bis er verstand, dass er selbst gemeint war. Er stieß entrüstet die Luft aus und machte eine entschiedene Geste. “Hey Moment mal, Moment mal!“ Das war heute bereits das zweite Mal, dass man ihn derart beleidigte. Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. “Ich habe noch NIE in meinem Leben, irgendwen oder irgendwas bestiegen!“ In seiner Wut machte er einen Schritt auf Travis Flint zu, dieser gab seinem Leibwächter einen kurzen, fast nachlässigen Wink mit dem Kopf und einen Lidschlag später blutete Nates Nase erneut.
„Das tut WEH, verdammt!“, beschwerte sich der Dieb und hob abwehrend die rechte Hand, als der Schrank dem Hieb Nachdruck verleihen wollte. „Schon gut, schon gut, ich halte ja schon meine Klappe!“, brummte Nathan verstimmt und murmelte etwas halblaut vor sich hin, dass er sich unverstanden fühlte und dass Travis‘ Worte einfach nur ungerecht waren. Immerhin zog sich der Gorilla zurück zu seiner Position am Tor.
Besteigen? Ha! Bitte. Etwas Heiliges wie die Liebe bezeichnete man nicht mit so unflätigen Worten. Ganz davon abgesehen, dass ER nicht derjenige von allen Anwesenden hier war, der das Attribut „schmutzig“ verdiente! Eine Innere Stimme sagte ihm jedoch, dass das nicht der Punkt war, den Flint so aufgebracht hatte, verständlicherweise. Lange Finger? Na gut, darauf konnte er sich einlassen. Vielleicht sogar auf den Nichtsnutz.
Aber was sollte das Ganze? Warum war der andere hier? Und warum machte Flint nicht kurzen Prozess, wie er es eigentlich erwartet hätte? Nicht verdient, aber erwartet.
Weil er aber nun das zweifelhafte Glück hatte, dass das Blut nicht mehr in Fontänen aus seinem Nasenloch schoss, sondern nur spärliche Tröpfchen auf den Holzbohlen landeten. Dieses hässliche Grinsen vor ihm hätte er gerade sehr gerne mit einem gut gezielten Fausthieb aus Flints zahnlückige Visage gewischt, leider waren sie hilflos in der Unterzahl, und irgendetwas sagte Nate, dass die Schläger nur darauf warteten, dass sie ihm einen Grund lieferten. Außerdem, wer sagte denn, dass Lockenköpfchen auf seiner Seite war? Warum war er Nathan ganz offensichtlich gefolgt? War er jemand von Flints Männern und hatte einen Fehler begangen?
Schließlich hatte er es sich mit Flint auch irgendwie verscherzt, hatte sich irgendwie in Ungnade gegeben, indem er sich eingemischt hatte?
Flint rieb sich geschäftsmäßig die Hände und begann, vor den beiden Männern, auf und ab zu laufen. „Es ist doch recht und billig, dass ihr beide, die ihr mir die letzten beide Tage verdorben habt, jetzt dafür sorgen werdet, dass er doch noch in Freude für mich endet!“, erklärte er kryptisch und Nathan rieb sich mit dem Ärmel das Blut von der Nase, jedenfalls verteilte er es großzügig und ohne es zu merken, quer durchs Gesicht. Aber das war ja jetzt auch sein kleinstes Problem. Skeptisch hob er eine Augenbraue.
[Liam, Flint und die zwei Leibwächtern in einem Lagerhaus]