22.06.2020, 18:23
Doch, wenn man wollte, konnte man Josiahs Gesicht in diesem Moment einen Hauch Amüsement ansehen. Vielleicht mit etwas Interpretationsfreiraum, aber da war nicht nur Skepsis und Misstrauen auf seinen Zügen. Trauriger Weise konnte er das alles im Augenblick ja absolut nachvollziehen. Der arme Tropf, der sich nun an Shanaya versuchte, konnte einem eigentlich nur leidtun – unabhängig davon, ob er nun an diesem Diebstahl beteilig war oder nicht. Es ging hier immerhin keinem um das Stehlen selbst – davon konnte sich keiner von ihnen freisprechen – sondern darum, dass sich dieser Taschendieb für heute einfach die Falschen ausgesucht hatte. Und was diesen Flint anging – Liam bezweifelte, dass es irgendeine Situation gegeben hätte, in dem sie ihm offener begegnet wären. Die vergangenen Ereignisse hatten sie alle mürrisch gemacht, misstrauisch. Wenn nicht mal der Lockenkopf den Drang verspürte, Kontakte zu knüpfen – wer aus der Crew (abgesehen von Trevor, der sie früher oder später noch die Freiheit oder das Leben kosten würde) ging offener mit Kontakten um als er? Josiah folgte ihm die wenigen Meter in Shanayas Rücken, die bereits damit begonnen hatte, ihren Standpunkt klar zu machen. Mit leicht zur Seite geneigtem Kopf beobachtete er den Monolog und stellte fest, dass ihr Gegenüber nicht nur überrascht, sondern fast schon entrüstet dreinblickte. Woher auch immer diese Regung kam – sie konnten bloß still hoffen, dass dieser Flint wirklich nicht derart viel Einfluss hatte, wie er ausgab. Oder dass die Konsequenzen lang genug auf sich warten lassen würden, bis die Sphinx wieder seetauglich und sie über alle sieben Weltmeere waren. Die letzte Drohung der Dunkelhaarigen hinterließ allein beim Gedanken ein unangenehmes Gefühl in seinem eigenen Schritt, obwohl sie nicht einmal ihm galt. Aber es schien Wirkung zu zeigen. Zum Glück, denn Liam hätte nicht die Hand dafür ins Feuer gelegt, dass Shanaya diese Androhung nicht wahrmachen würde.
Auch Liams Vermutung hinterließ eher Entrüstung als dass er aussah, als hätte man ihn ertappt. Nichts, worauf der Lockenkopf viel gab – immerhin wimmelte es auf dieser Welt nur von Gaunern und Gauklern. Vielleicht empörte es ihn lediglich, dass man ihn durchschaut hatte. Möglich war alles, auf etwas festlegen würde er sich nicht. Wozu auch? Im Endeffekt war das Thema damit geklärt, dass sich Flint verabschiedete und davon machte. Wenn sie ihm hier unrecht getan hatten, tat es ihm leid. Aber Vorsicht war und blieb – gerade jetzt! – einfach besser als Nachsicht. So oder so, er wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas mit diesem Blondschopf nicht stimmte. Während Shanaya sich bereits wieder in Bewegung setzte und stoisch ihren Weg entlanghumpelte, hing sein Blick noch immer an der Häuserecke, hinter der der augenscheinliche Helfer in der Not verschwunden war. Nachdenklich verzog er das Gesicht, ehe er aus dem Bauch heraus eine Entscheidung traf, die ihnen am Ende des Tages entweder etwas brache oder eben nicht.
„Passt du auf Shanaya auf, Josiah?“, fragte er an den Schweigsamen gerichtet und sah ihn an. „Ich werd‘ diesen Flint im Auge behalten, falls er sich doch mit seinem möglichen Komplizen trifft. Ich meine… Wir wissen beide, dass Shanaya erst mit uns zurück ins Bordell kommen wird, wenn sie dem Typen eins auf die Nase gegeben hat. Je schneller wir ihn also haben, desto mehr Freizeit haben wir den Rest des Tages.“
Josiah war mit Sicherheit ebenso bewusst wie ihm, dass Lucien ihnen die Ohren langziehen würde, wenn herauskam, dass sie mit Shanaya aufgebrochen, aber ohne sie wieder zurückgekommen waren. Er hoffte, dass die Aussicht auf einen Zwist mit ihrem Captain genug Verantwortungsbewusstsein im ehemaligen Attentäter weckte, die Dunkelhaarige trotz ihrer hier und da kratzbürstigen Art nicht irgendwo stehen zu lassen. Josiah hatte doch ein dickes Fell, oder?
„Sollte meine Vermutung stimmen, holen Mister Taschendieb und ich euch mit Sicherheit sehr einfach ein.“
Mit Belustigung im Blick sah er Shanaya nach, die dafür, dass sie auf Krücken lief, zwar recht flott auf den Beinen, für einen gesunden Menschen aber nachwievor eher ein Hindernis auf der Straße war. Mit einer kurzen Handbewegung verabschiedete er sich von dem Älteren, sah davon ab, Shanaya von seinem Plan zu unterrichten – sie hatte gerade ganz andere Dinge im Kopf – und verschwand mit einem kurzen Laufschritt um die gleiche Ecke, um die Flint eben gebogen war. Liam wurde wieder langsamer, schlenderte mit großen Schritten die Straße entlang und hielt Ausschau nach dem Gewand des jungen Knaben. Zwischen den Gestalten einige Meter vor ihm erkannte er das Stück Stoff und nahm unauffällig einige Meter zurückbleibend die Verfolgung auf.
Währenddessen streiften die beiden Leibwächter des Tuchhändlers noch immer wachsam durch die Straßen rund um den Ort des Geschehens. Ihre Gesichter wirkten ein wenig angefressen; fast so, als wäre ihnen diese Sucherei allmählich ein wenig zu lästig. Erst gestern hatten sie sich den Zorn Flints eingefangen, nachdem sie diese beiden Herumtreiber nicht mehr hatten aufspüren können. Stattdessen hatte sich einer einen schmerzhaften Hundebiss zugezogen, aus dem sie beide vermutlich gelernt hatten. Irgendwann hatten sie sich getrennt, um ihre ohnehin geringe Chance ein bisschen zu erhöhen. Bislang ohne Erfolg. Einer von ihnen hatte dem Tuchhändler gerade äußerst knapp Bericht erstattet und ahnte nicht, dass sein Komplize just in diesem Moment den Blondschopf in der Menge erkannte, die sich allmählich geschäftig auf den Straßen tummelte. Voller Eifer beschleunigte er seine Schritte, doch Nathan bog um die nächste Ecke und verschwand wieder aus seinem Sichtfeld in einer wenig belebten Gasse. Ob er die Straße verlassen hatte, weil er ihn gesehen hatte oder rein aus einer Laune heraus – der Leibwächter wusste es nicht zu sagen. Was er aber wusste, war, dass er sich beeilen musste, um diesen Taugenichts in die Finger zu bekommen.
„Na, wen haben wir denn da?“ - Nathan war dem zweiten der Leibwächter förmlich in die Arme gelaufen. Man hörte seiner Stimme durchaus die Freude darüber an.
Davon bekam Liam selbstverständlich nichts mit. Wie hätte er auch damit rechnen sollen, dass ‚Flint‘ nicht nur vor ihm ‚auf der Flucht‘ war, sondern noch weitere Verfolger hatte. Er folgte ihm also nichtsahnend um die Ecke, bloß um überrascht stehen zu bleiben und festzustellen, dass er zwangsläufig aufgefallen war – ‚Flint‘ stand nämlich nur noch wenige Meter von ihm entfernt, vor ihm ein Mann mit breiten Schultern, der in etwa so erstaunt in seine Richtung starrte, wie der Lockenkopf zurückstarrte. Wenige Herzschläge später nur hörte – und spürte – er, wie eine weitere Gestalt hinter ihn trat und ihm zwangsläufig das Gefühl von Hinterhalt über den Rücken jagte. Wie bekannt ihm diese beiden Männer sein sollten, dämmerte ihm erst, als eine weitere Gestalt vor ihm in der Gasse auftauchte – eine Gestalt, die ihm bekannter vorkam, als ihm lieb war. Das zahnlückige Grinsen allerdings machte eine Verwechslung unmöglich. Der Ausdruck auf Liams Zügen verhärtete sich und ein Ziehen in seiner Magengegend erinnerte ihn schlagartig daran, dass dieser Kerl nicht davor zurückschreckte, seine Fäuste zu nutzen. Armer ‚Flint‘. Noch glaubte Liam nämlich, dass sich der Knabe nur dank ihm in dieser Situation befand. Und wie wenig der breitschultrige, zahnlückige Mann davon hielt, Unbeteiligte ziehen zu lassen, wusste er leider bereits.
„Sieh an, sieh an.“ Mittlerweile hatte sich auf den Zügen des echten Flints ein freudiges Erkennen eingestellt, während er langsam und selbstzufrieden neben seinen Leibwächter trat, der vor Nathan stand. „Wie die Ratten zieht es das Gesindel zusammen.“ Er lachte und verschränkte die Arme. Selbstgefällig, weil er wusste, dass die beiden Männer keine Möglichkeit hatten, erfolgreich zu fliehen. „Begleitet mich doch ein Stück, dann können wir noch einmal über alles reden.“
Er lachte rau und drehte ihnen den Rücken zu. Der Leibwächter, der hinter Liam stehen geblieben war, schubste ihn unsanft weiter in die Gasse hinein und bedeutete somit auch Nathan, dass er sich besser in Bewegung setzte. Der Zweite reihte sich neben den beiden Männern ein, während er Flint wortlos folgte, um das Treiben weiter weg von der belebten Straße zu führen.