03.06.2020, 12:13
Nathan verbeugte sich in einer formvollendeten, eleganten und höfischen Verbeugung, so wie er es tausendfach beobachtet und geübt hatte. Es war ihm sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen. “Mein Vater beliebt oft zu sagen: Es kommt darauf an, am richtigen Ort zum richtigen Zeitpunkt auch das Richtige zu tun“, entgegnete Nathan dem blonden Mann, der aufgetaucht war und ohne zu zögern die Tasche an sich brachte. Nun kamen auch ein zweiter junger Mann und – etwas später - eine Frau dazu. Einen Moment setzte es bei Nathan sichtbar aus. Seine Augen weiteten sich, es war wie immer, wenn er eine schöne Frau erblickte.
Es war nicht so, als hätte er die rothaarige Gwen bereits vergessen. Da tat man dem Dieb durchaus Unrecht, denn diese würde er immer im Herzen behalten. Sein Herz war nur leider viel zu groß. Nathan sah sich eher wie ein Naturforscher, der Rosen entdeckte: Nur weil er eine neue schöne Blume erspähte und erforschte, hieß das ja nicht, dass er seine alten „Entdeckungen“ weniger zu schätzen wusste. Aber, und das musste er sich auch eingestehen, der jüngste Ärger hielt ihn davon ab, seinem Verlangen nach dieser weiblichen Gesellschaft in den Vordergrund zu stellen, was ein Jammer war. Aufgeschoben war nicht aufgehoben…
Es entsetzte ihn – und das war nicht im Mindesten gespielt - , dass irgendwer dieses Schmuckstück verletzt hatte, so sehr, dass die Dunkelhaarige auf Krücken wandern musste. Außerdem schien die Gute zu fiebern. “Bei allen Welten…, Ihr seid verwundet!“ Er wollte einen Schritt auf die Schönheit zu machen, fing aber einen warnenden Blick ihres bis dahin schweighaften Begleiters auf, und unterließ es. “Haltet Ihr das für eine gute Idee, Euch in Eurer Verfassung auf die Suche nach einem armen Teufel zu machen?“, fragte der Dieb, ohne den sorgenvollen Blick von der Dunkelhaarigen zu lassen. Diese hinkte zur Verfolgung weiter und an ihm vorbei, leider schien sie sich nicht im Klaren über ihren Gesundheitszustand zu sein. Die Rachsucht in ihren Augen hielt Nathan davon ab, sein Herz allzu sehr zu verlieren. Rachsüchtige Frauen bargen immer ein Risiko, gerade wenn sie Piraten waren.
Piraten. Keine Frage. Die wettergegerbten Gesichter, die von Salzwasser ausgeblichenen Kleidungsstücke, Schwielen an den Händen von der harten Arbeit an Bord… Für Marinesoldaten, Händler oder dergleichen fehlte die Offenheit in den Gesichtern. Stattdessen stand die für Freibeuter typische Wildheit in den Augen, das Funkeln der Schatzsucher, das in ihm selbst brannte. Vielleicht sogar ein bisschen zu sehr. Seine Gier verdrängte oft genug den klaren Gedanken, die Vernunft, die ihn normalerweise vor Schwierigkeiten bewahrte.
“Wir sollten das nicht zulassen“, murmelte Nathan dem schweigenden Kerl neben ihm zu. Vielleicht hatte der große Kerl ja seine Zunge eingebüßt? Oder er war ohnehin eher ein leiser Vertreter seiner Art.
Piraten waren eine sehr gute Gelegenheit für Nathan von dieser Insel herunterzukommen. Flint war sicherlich bekannt, er hatte seine Kontakte und er würde nicht Ruhe geben, bis er Nathan habhaft wurde. Genug Geld hatte er dafür. Die Frage war jetzt nur, warum sollten ihn diese Menschen, sofern sie bei ihrem Captain überhaupt den leisesten Einfluss haben, mitnehmen? Wegen einer Tasche? Unwahrscheinlich.
Nathan hatte die Dame mit zwei schnellen Schritten eingeholt und vertrat Ihr den Weg. “Na, na… Erholt Euch doch erstmal. Ihr könnt Euch ja kaum auf den Beinen halten!“, spottete er, vielleicht etwas leichtsinnig angesichts des fiebernden Feuers seines Gegenübers.
“Gestattet mir, dass ich mich vorstelle: Ich heiße Matthew Flint.“ Dieses Mal deutete er die Verbeugung nur an. “Ich bin froh, dass ich Euch zu Diensten sein konnte! Mein Vater ist der Tuchhändler Travis Flint. Ihr kennt möglicherweise sein Monogramm, das man auf dieser Insel oft erblickt, wenn man nur auf den Tüchern danach sucht. Ich werde den Dieb für Euch finden lassen, solltet Ihr das wünschen.“ Was eine glatte Lüge war, wie das zuvor Gesagte natürlich auch.
“Ihr solltet Euch aber lieber ein warmes Bett und Schlaf gönnen. So wie Ihr ausseht, tut Euch das besser als das Jagen eines Tagediebes, der vermutlich am richtigen Zeitpunkt zum falschen Ort war.“
Er trat einen Schritt zur Seite, um ihr den Weg freizumachen, warf aber gleichzeitig einen hilfesuchenden Blick zu dem blond gelockten, der am ehesten so etwas wie Sprachtalent zu haben schien.
[Seitengasse | Liam, Josiah & Nathan]