21.05.2020, 22:14
Ein gutgelauntes Lächeln lag auf seinen Zügen, wuchs ein bisschen in der Breite, als Shanaya ihm ihre These unterbreitete und behielt seine Gedanken für sich. Erst, als sie geendet hatte und ihm ein breites Grinsen ihrerseits galt, zuckte er gedehnt mit der Schulter und blinzelte ihr unschuldig entgegen.
„Naja, jeder wie er will, oder? Oder um es mit Elians Worten auszudrücken – jeder hat eine Vorliebe für ein anderes Pastetenrezept.“
Er war da ganz bestimmt der letzte, der über irgendetwas urteilte. In der Liebe gab es keine Regeln, solange sich die Richtigen fanden und beide bereit waren, sich den Versuchungen und Gelüsten des jeweils anderen hinzugeben. Sie war vielfältig, bunt und geheimnisvoll. Etwas, worüber man nie und nimmer alles wissen konnte. Etwas, was niemals langweilig wurde und auf das er mit Nichten verzichten wollte. Wenn andere es vorzogen, allein in ihrem Schneckenhaus zu bleiben, war es ihr gutes Recht – nur eben nichts, womit er etwas anfangen konnte. Sie legten das Thema beiseite und als die Dunkelhaarige gedehnt seinen Namen über dem Flur ausbreitete, wünschte er sich für einen kurzen Moment, sie würden sich doch wieder der Sache mit der Körperlichkeit widmen. Wäre er aufmerksamer gewesen, wäre ihm vielleicht sogar aufgefallen, dass Shanaya besonders an diesem Thema in letzter Zeit mehr Interesse zeigte. Vermutlich schob er es aber einfach darauf, dass man sich eben kennenlernen musste, bevor man Dinge ansprach, die die meisten eben doch eher prüde verschwiegen. Instinktiv jedenfalls zog er den Kopf zwischen die Schultern, als ihn ihre Rüge traf. Aber immerhin ließ sie sich – wenig begeistert – auf seine Ausrede ein, was Liam hingegen belustigt zum Schnauben brachte. Mit gehobenen Augenbrauen schielte er skeptisch zu ihr hinüber.
„Wenn du willst, dass ich dich ausführe, musst du’s nur sagen, statt zu versuchen, mir scheinheilig ein schlechtes Gewissen einzureden.“, zog er sie freundschaftlich auf, kurz bevor Josiah von hinten zu ihnen aufschloss.
Dem Älteren galt ebenfalls ein gutgelaunter Blick, doch er verhielt sich so schweigsam wie immer. Dennoch war Liam um seine Anwesenheit nicht traurig, selbst wenn es ihn vermutlich recht bald in eine andere Richtung treiben würde. Josiah kam ihm nicht vor wie jemand, der sich auf einen sorglosen Nachmittag mit Späßen und Neckereien einlassen wollte – umso lieber ließ er sich vom Gegenteil überzeugen. Bis auf die Straße jedenfalls führte sie ihr Weg gemeinsam und während Farley und Elian in die eine Richtung abbogen, nahmen sie ganz automatisch die andere. Shanayas Tempo war für Josiah und ihn eher ein bequemes Schlendern und bot ihm genügend Gelegenheit, sich die Gebäude und Menschen ein wenig genauer anzusehen.
„Hoffentlich nichts so spannendes wie unser letzter Halt.“ Der Jüngeren galt ein vielsagender Blick, der gleich darauf Josiah traf. „Hast du irgendwas bezüglich der hübschen Portraits in Erfahrung bringen können, Josiah?“
Wenn jemand wusste, wie man sich unbemerkt umhörte, dann vermutlich der ehemalige Attentäter. Bislang machte es nicht den Anschein, als hätte jemand ihre verfremdeten Fratzen auf den Fahndungsplakaten erkannt, aber Liam tat sich im Augenblick wirklich schwer damit, sich so optimistisch wie immer darauf zu verlassen. Noch bevor der Größere allerdings zu einer Antwort ansetzen konnte, schubste etwas – oder viel mehr jemand - Shanaya und ihn unsanft auseinander. Liam taumelte zur Seite, sah noch, wie die Jüngere gegen Josiah stürzte und die Gestalt, die sich zwischen ihnen hindurchgezwängt hatte, mit der Tasche aus dem Staub machte, die eben noch um die Schulter der Dame ihrer Runde gehangen hatte.
„Ernsthaft…?“, brummte er nur wenig elanvoll, als könne er nicht glauben, dass ihm auch heute nicht einfach mal ein ruhiger Tag vergönnt war. „Mach dich bereit, den Kerl gleich mit deinen Krücken zu vermöbeln.“
Obwohl er wirklich nur wenig Lust darauf hatte, setzte er, kaum dass er seinen Stand wieder gefangen hatte, zum Laufschritt an. Anfangs erinnerte ihn ein kurzes Ziehen in der Magengegend daran, dass sein gestriger Abend ganz ähnlich verlaufen war und er den Schlag des Hünen nicht ganz so unbemerkt weggesteckt hatte, wie er bislang geglaubt hatte. Doch er ließ sich nicht aufhalten, schlitterte um die nächste Ecke, um die der Taschendieb gebogen war. Zu seiner Überraschung schien er aufgehalten worden zu sein, blickte nun grimmig und gehetzt über die Schulter, als er ihn kommen hörte und setzte sich wieder in Bewegung – ohne seine Beute, wie der Lockenkopf kurz darauf feststellte. Die hatte jetzt ein anderer junger Kerl in der Hand, der entweder Komplize oder ahnungsloses Opfer sein konnte, dem der Dieb die Tasche in die Hand gedrückt hatte. Vielleicht an Anfänger, der nicht damit gerechnet hatte, direkt verfolgt zu werden. Kurz überlegte der Lockenkopf, den hinteren der beiden Männer zu verfolgen, empfand dann Shanayas Hab und Gut allerdings doch als wichtiger und lief aus. Fast gleichzeitig machte die junge Gestalt auf sich aufmerksam. Liams Stirn legte sich kurz in Falten, während er den anderen um die nächste Ecke verschwinden sah und dann den Mann vor sich musterte, der ihm die Tasche entgegenhielt.
„Danke.“
Er war selbst überrascht über sein Misstrauen. Misstrauen, für das nicht einmal der hilfsbereite Kerl vor ihm etwas konnte und was auch sonst eher untypisch für ihn war. Umso bemühter war er, sich nichts anmerken zu lassen, als er seinem Gegenüber ein dankbares Lächeln schenkte. Er wirkte eigentlich kaum wie ein Komplize. Von der Kleidung her passte er ganz gut in das gehobene Viertel von Silvestre. Im Gegensatz zu ihnen, wenn man so wollte.
„Da warst du wohl zur richtigen Zeit am richtigen Ort.“