08.05.2020, 17:49
Zugegeben: Er hätte sich nicht beschwert, wenn er mehr Zeit zum Zeichnen gehabt hätte, aber irgendwie gehörte die Arbeit auf dem Schiff ja auch zum Leben als Seemann und als Reisender dazu. Und obwohl ihm durchaus bewusst war, dass Shanayas Plan nur scherzhaft gemeint gewesen war – das sah man auch seinem Gesicht an – enthielt er ihr seine fehlende Begeisterung für einen komplett durchgetakteten Tag nicht vor. Er war nicht zwingend arbeitsscheu, aber eher der gemütliche Geselle, den nur selten eine richtige Arbeitswut packte, von der ihn nichts ablenken konnte. Mit verzogener Miene spähte er nur wenig überzeugt zu der Jüngeren hinüber und schauderte in Anbetracht eines durchgeplanten Arbeitstages ohne Pause. Er war ganz froh darüber, dass sie mit Sicherheit der eine oder andere von ihrem Plan abhalten würde, würde sie doch wirklich in die Tat umsetzen wollen. Statt sich weiter vorzustellen, wie sie ihn mit einer Peitsche unter Deck zum Zeichnen zwang, stellte er sich lieber die Stufe-6-Shanaya vor. Schade, dass es dafür wohl kaum Zeugen gab, die er fragen konnte. Nicht greifbar jedenfalls. Blieb ihm also nur, geduldig zu warten, bis er selbst in den Genuss kommen würde, diesen Spaß zu erleben. Wenn Stufe-2-Shanaya die Anhängliche war, war das Potential noch lange nicht ausgeschöpft. Ob laut, tanzwütig, beleidigend – oh, Liam kannte viele Reaktionen von Menschen auf Alkohol und testete jene nun flüchtig mit einem prüfenden Blick in die Richtung der Dunkelhaarigen.
„Naja, dann weiß ich ja wenigstens, wer auf uns aufpasst, wenn er selbst keinen Schluck anrührt.“
Er fragte nicht weiter nach, durch was genau sie gelernt hatte, wenn es nicht die Kopfschmerzen gewesen waren. Kontrollverlust. Er bezweifelte, dass sie ihr unfreiwilliges Schläfchen im Bauch der Sphinx meinte, wollte sie aber auch nicht an Dinge erinnern, an die sie sich nicht gerne erinnerte. Was den Alkohol anging, schien sie jedenfalls ähnlich wie Skadi zu ticken. Jedenfalls seitdem ihnen ihre Feierlaune das letzte Mal fast zum Verhängnis geworden wäre. Er wusste durchaus, dass es schlauer gewesen wäre, selbst einfach den ein oder anderen Tropfen stehen zu lassen, aber dazu schmeckte ihm Alkohol einfach zu gut. Und es half, den Ernst des Lebens hier und da einfach mal hinten anzustellen. Und seit neustem wusste er auch die schmerztötende Wirkung eines guten Rums zu schätzen.
Liam schwieg zu ihrer Antwort bezüglich Aspen. Er hatte den Blondschopf nicht gut genug gekannt, um ihn besonders gut einschätzen zu können. Und trotzdem mogelte sich für einen Sekundenbruchteil das Bild eines enttäuschten Aspen vor sein inneres Auge, der der Liebe wegen auf einem Piratenschiff angeheuert hatte, um seiner großen Liebe nahezusein. Besonders gut hatten sich die beiden nie verstanden, aber man konnte den Leuten eben nicht in die Köpfe sehen.
„… klingt auch mehr nach lustiger Wandertruppe.“, beendete er ihren Satz wieder mit einem schiefen Grinsen.
Bevor er die nächste Frage stellen konnte, lenkte ihn ein Rascheln im Gebüsch ab. Vielleicht begegneten sie dem gesuchten Tiger ja früher als gedacht – doch was auch immer da im Gestrüpp hockte, war vom Geräusch her viel zu klein für eine Raubkatze. Der Lockenkopf hielt inne und begutachtete das Dickicht eingehend. Vermutlich nur ein Vogel oder ein kleiner Schwarm. Gerade, als er weiterlaufen wollte, raschelte es erneut und ihnen fiel ein kleines Zieglein protestierend vor die Füße. Er blinzelte verdutzt.
„Wo kommst du denn her?“
Er hob den Blick und sah sich um, doch nichts in ihrem Umkreis deutete darauf hin, dass die junge Ziege in Begleitung war. Sie schien keine Angst vor ihnen zu haben, was darauf schließen ließ, dass sie zu irgendeinem Viehzüchter des Dorfes gehörte. Vermutlich war sie ausgebüxt und hatte sich auf ihrem kleinen Abenteuer verlaufen. Oder aber –
„Vielleicht doch kein Wildwechsel, sondern viel mehr ein Viehtrieb.“, vermutete er mit Blick den Weg hinauf, dem sie folgten.