14.04.2020, 23:45
„Es sei denn natürlich, man schaut in einen Spiegel, dann wäre sie nach rechts gebogen, oder auch nach links, aber von der anderen Seite? Spiegelverkehrt halt. Aber wann schaut man schon mal in den Spiegel? Oh! Oh, man könnte natürlich ins spiegelglattes Wasser schauen, eignet sich hervorragend zum Grimassen ziehen, weißt du, aber an dem Abend war gar kein Wasser da, glaube ich, nur sehr, sehr viel Rum …“
Trevor unterbrach seine Überlegungen einen Moment, um konzentriert an Ceall vorbei in die Luft zu starren – fast als würde er sich an irgendetwas erinnern wollen. Das hatte er in letzter Zeit oft gemacht, denn der größte Teil der Ereignisse auf der Kopfgeldjägerinsel lag in schummrigen Alkoholnebel. An einige Sachen erinnerte er sich aber glasklar. Da war zum Beispiel das große, um sich schießende Schildkrötending, Scortias' Tod oder die Tatsache(!), dass er sich lange genug mit den Kopfgeldjägern unterhalten hatte, dass die sich doch eigentlich sein Gesicht hätten merken müssen!
„Immerhin hab ich keine Schweinchennase, so wie Shanny“, gluckste er schließlich fröhlich und legte seinen Steckbrief fein säuberlich unter den chaotischen Papierstapel, den er in der anderen Hand hielt. Er hatte jeden Steckbrief abgerupft, an dem sie vorbeigekommen waren. Bald hatte er so viele zusammen, er könnte die Wände der Sphinx damit tapezieren! Zumindest, sobald das Schiff aus dem Trockendock raus war und sie endlich wieder auf See durften. Immerhin: heute hatten sie zur Abwechslung mal etwas außerhalb des Bordells zu tun. Was auch immer das war. Trevor hatte versucht, Lucien darüber auszuquetschen, musste das Unterfangen aber eilig abblasen, bevor sein Captain ihn erwürgte oder – schlimmer noch – zurückschickte. Also gut. War ja auch mal ganz nett, nichts zu wissen … nicht wahr? Trevor war eine Weile lang vor der Gruppe hergelaufen, bis sie in den Teil der Stadt kamen, den er weniger kannte – den reichen, langweiligen, wo die Leute Gärten hatten –, dann hatte er ein bisschen mit Zairym um die Wette so schief wie möglich gepfiffen und sich nach seinem eindeutigen Sieg schließlich zu Ceall zurückfallen lassen, damit der ihm alle Namen auf den Steckbriefen zwei, drei oder besser vier Mal vorlesen konnte. Wirklich, die sahen alle gleich aus!
Er rätselte gerade halblaut vor sich hin, ob der nächste auf dem Stapel wohl eher Liam oder Talin darstellen sollte, als er aus dem Augenwinkel eine Veränderung vor sich wahrnahm. Gerade noch rechtzeitig bremste er ab, um nicht in alle anderen hineinzurennen. Hach! Hundert Dinge gleichzeitig machen war so viel einfacher, wenn man nüchtern war! Vielleicht sollte er sich das mit dem Rum doch noch mal überle– nein, nein, dumme Idee. Langweilige Idee. Apropos Ideen, Lucien schien ihnen jetzt seine unterbreiten zu wollen. Endlich! Trevor unterdrückte das Verlangen, einen Trommelwirbel zu simulieren, schob seine freie Hand in die Hosentasche und zwei Finger durch das Loch darin wieder hinaus und wippte auf den Füßen vor und zurück.
Oh. Oh, sie wollten also eine Kleinigkeit für die Tarlenn erledigen. Bei der Erwähnung seiner zweiten Familie zuckten Trevors Mundwinkel unwillkürlich in die Höhe und seine Hand zu der Sanduhr-Tätowierung auf seinem Unterarm. Na, das erklärte so einiges. Oder immerhin einen Teil. Ein kleines bisschen. Unbekümmert hielt er den Blick seines Captains stand, faltete die Steckbriefe zusammen, stecke sie in die Hosentasche ohne Loch und sagte:
„Kein Problem.“
Er brauchte fast all seine Selbstbeherrschung, um das Grinsen im Zaum zu halten, und den ganzen Rest, um Lucien nicht mit einem Berg an weiteren Fragen zu überrollen. Zum Glück sprach Ceall seine Gedanken aus.
„Natürlich! Aber jetzt ist nur noch eine halbe Geheimmission“, strahlte er. „Meinst du, wir brechen in eins der Häuser ein? Wir brechen bestimmt in eins ein, ich wüsste nicht, was man sonst in solchen Häusern machen sollte, bei dem man still und unauffällig sein muss und, beziehungsweise oder, alle umbringen soll. Außer Teepartys vielleicht.“
Trevor tippte sich nachdenklich mit dem Zeigefinger an die Lippen und musterte die Villen, die sich links und rechts entlang der Straße auftürmten. Doch aus dem Augenwinkel behielt er Lucien im Blick – obwohl er offenkundig mit Ceall sprach, wollte er natürlich eigentlich eine Antwort von seinem Captain. Manchmal war er schon ein taktisches Genie.
[Villenviertel von Silvestre | hinter Lucien & Zairym, neben Ceallagh]