09.04.2020, 02:15
Elian sparte es sich, den Kommentar, der ihm auf Liams Frage hin auf der Zunge brannte, laut auszusprechen. Scham und Höflichkeit waren in seinen Augen nicht dasselbe, aber es war der Reaktion seiner beiden Gegenüber sehr deutlich zu entnehmen, dass sie auf einen Hinweis dahingehend höchstens in Gelächter ausgebrochen wären. Und im Grunde war es ihm viel zu gleichgültig, um deswegen in ein Wortgefecht zu verfallen.
„Guten Morgen, Liam. Und Shanaya, natürlich,“ antwortete er also lediglich auf den – war es überhaupt ein Gruß gewesen? – des anderen Mannes. Dem Spott zum Trotz behielt Elian seinen Blick, fürs erste, oben.
Als Liam dann aber Shanayas Körper hochtrabend als „Kunst“ bezeichnete, Shanaya ihm zustimmte und sich schließlich umdrehte, um einen weiteren bösen Spruch über Aspen zu verlieren, senkte Montrose pointiert seine Augen und ließ sie einmal, ruhig und gezielt, über die entblößten Frauenkörperteile wandern. Der Nachteil daran, regelmäßig als Arzt in einem Bordell gearbeitet zu haben war, dass nackte Körper irgendwann alle gleich aussahen. Das Verbotene, Exotische daran, das andere Menschen erregte, wurde ziemlich schal, wenn man dieselben Körperteile oft genug mit Warzen, Geschwüren, Pusteln und ähnlichen Schönheitsfehlern gesehen hatte. So betrachtet, sicher, war Shanaya ein attraktives Exemplar. Vergleichsweise.
Wir werden nie erfahren, ob Aspen stolz auf mich wäre. Er ist tot. Gestorben in einer Scheißsituation die, nach allem was ich weiß, sogar du verzapft haben könntest. Da war eine Hitze in seinem Bauch, die vorher nicht da gewesen war. Das erste Gefühl in Tagen. Wochen, vielleicht. Er hatte den plötzlichen Impuls, Shanaya eine Ohrfeige zu verpassen. Seine gute Erziehung und die Disziplin eines Marineoffiziers kamen dazwischen. Ganz im Griff hatte er sich aber doch nicht. In seinem Kopf sang etwas, vielleicht auch nur der Zorn, vielleicht aber auch Taranis‘ Geist, der diese Sorte Spott nicht auf sich hätte sitzen lassen. Was würde Taranis tun? Was würde er sagen?
Elian schloss seine Betrachtung ab, ließ seinen Blick aber auf Shanayas Haut verweilen. Seine Stimme war sehr viel kühler als normal, aber die Hitze in seinem Bauch breitete sich dafür stetig aus.
„Äußerlich nicht völlig Abstoßendes ist nicht zwangsweise gleichbedeutend mit ‚Kunst‘. Aber sicher, es gibt Stimmen dazu, dass alles was bei Kunst zählt, die äußere Ästhetik ist. In diesem Fall hätten wir hier im weitesten Sinne eine künstlerische Expression. Ich persönlich gehöre zu den Betrachtern, für die das Äußere lediglich ein Spiegel für die Seele eines Kunstwerks ist. Das hier ist ein wenig wie eine Pastete aufgezwungen zu bekommen und dann festzustellen, dass sie keine Füllung hat.“
Er hob die Augen, sah Shanaya wieder ins Gesicht. „Ich wollte lediglich nachsehen kommen, wie es dir geht. Mir war nicht klar, dass ich störe.“ Er nickte ihr zu, dann Liam. „Keine Sorge. Es kommt nicht wieder vor.“
Er drehte sich um, öffnete die Tür und war bereits halb hindurch, als er sich doch noch einmal umdrehte und hinzufügte:
„Falls die Wunde aufgeht: Bei starker Blutung Gürtel um den Oberschenkel, bei schwacher Blutung reicht ein starker Verband. So oder so, sieh zu dass du sie wieder herbringst. Das mit dem Holzbein war kein vollkommener Witz.“
[Shannys Zimmer im Bordell | Liam und Shanny]